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Das Grab in den Schären

Publiziert am 27. Juli 2021 von Matthias Zehnder

Ich gebe Ihnen jede Woche einen Lesetipp: ein Buch das ebenso intelligent wie unterhaltend ist.

Diese Woche: «Das Grab in den Schären» von Viveca Sten.

Hier gibt es die ausführliche Fassung dieses Buchtipps auf Youtube:

Es ist Sommer – naja, wenigstens dem Kalender nach. Wir alle haben dringend Urlaub nötig, Reisen aber ist nach wie vor nicht ganz einfach. Ich entführe Sie deshalb diesen Sommer mit einer Reihe von Buchtipps an Sehnsuchtsorte: Machen Sie mit mir wenigstens im Kopf Ferien mit Krimis, die in besonders schönen Gegenden spielen. Heute geht die Reise auf die Schäreninseln in Schweden.

Vor Stockholm dehnt sich der Schärengarten mit 24’000 kleinen Inseln. Bild: © P. Meybruck – stock.adobe.com

Eine Schäre ist eine kleine, felsige Insel, die in der letzten Eiszeit entstanden ist: Es sind kleine Buckel, die aus dem Meer ragen. Die grössten sind einige Quadratkilometer gross, die kleinsten nur wenige Quadratmeter.

Vor Stockholm finden sich im Meer rund 24’000 solcher Schäreninseln. Weil die Inseln aussehen, als hätte sie ein Riese ins Meer gepflanzt, nennen die Schweden sie «skärgården» – also: Schärengarten. Literarische Berühmtheit haben die Inseln durch Astrid Lindgren erlangt: Der Roman «Ferien auf Saltkrokan» und seine Verfilmung haben die Sehnsucht nach dem einfachen Ferienhäuschen auf einer Schwedischen Insel so richtig angefacht. 

Die grössten Inseln im Stockholmer Schärengarten sind Blidö, Utö und die Insel Sandhamn. Sie liegt etwa 50 Kilometer vor Stockholm in der Ostsee. 

Gleich neben Sandhamn, quasi in Rufweite, liegt Telegrafholmen. Eine kleine, unbewohnte Schäre, die das Fahrwasser und den Hafen von Sandhamn vor dem Nordwind schützt. Hier auf Telegrafholmen sprengen Bauarbeiter eines Morgens den Fels, um den Baugrund für vierzig elegante Schärenhäuser zu bereiten. Als der Donner der Sprengladung in die Ostsee hinausgerollt und verhallt ist und sich die Staubwolke verzogen hat, machen die Bauarbeiter eine schreckliche Entdeckung: Auf dem freigesprengten Boden liegt ein Skelett. Oder besser: die Überreste davon. En paar Rippen an einem Brustbein, eine klauenartige Hand, an der zwei Finger fehlen, ein Halber Oberschenkelknochen. Die Bauarbeiter haben ein Grab gesprengt.

Polizeikommissar Thomas Andreasson übernimmt den Fall. Er kennt sich aus in den Schären, weil er ein Sommerhaus auf Harö hat, einer kleinen Schäreninsel ganz in der Nähe. Margrit Grankvist, seine Chefin, ist schon ganz hibbelig. Ein Baukonsortium macht über Politiker mächtig Druck. Denn so lange die Ermittlungen laufen, müssen die Bauarbeiter auf Telegrafholmen mit der Arbeit warten. 

Die gerichtsmedizinischen Untersuchungen ergeben, dass es sich beim Skelett von Telegrafholmen um eine Frau handelt. Sie dürfte etwa zehn Jahre lang in ihrem Sandgrab auf der Insel gelegen haben. Vor zehn Jahren sind zwei Frauen auf Sandhamn verschwunden: Siri Persson Grandin, 35 Jahre alt und unglücklich verheiratet, und Astrid Forsell, 17 Jahre alt, die zu Hause immer wieder Krach mit ihrer Mutter und deren Freund hatte. Handelt es sich beim Skelett im gesprengten Grab auf der Schäreninsel um eine der beiden Frauen? Oder sind sogar beide Frauen auf der Insel verscharrt worden?

 Viveca Sten ist in Schweden bekannt für ihre Schären-Krimis. Sten ist 1959 geboren, sie hat in Stockholm Jura studiert und als Juristin Karriere gemacht. Sie arbeitete unter anderem als Anwältin bei den Scandinavian Airlines und brachte es bei PostNord, dem schwedischen und dänischen Postdienst, zur Chefjuristin. Nach dem Erfolg ihres ersten Schären-Krimis vor zehn Jahren hat sie ihre Stelle aber aufgegeben und konzentriert sich seither aufs Schreiben.

Viveca Sten

Die Schären kennt sie wie ihre Westentasche: Seit über hundert Jahren verbringt ihre Familie den Sommer jeweils auf der Insel Sandhamn. Deshalb spielen auch die meisten ihrer Krimis auf dieser Schäreninsel.

Die Geschichten drehen sich jeweils um die Arbeit von Polizeikommissar Thomas Andreasson und dessen Jugendfreundin, Staatsanwältin Nora Linde. Im neusten Buch von Viveca Sten ist Nora Linde aber beurlaubt: Sie ist krank geschrieben und will sich auf Sandhamn von ihrem letzten Fall erholen. Ein Angeklagter hatte sie übel bedroht. Sie hat deshalb Albträume und fühlt sich schuldig, weil sie eines der Opfer des Angeklagten, eine junge Frau, nicht beschützen konnte. 

Als sie vom Skelett auf Telegrafholmen hört, muss sie keine Vermisstenakten studieren, um auf Astrid Forsell zu kommen. Sie erinnert sich gut an Astrid. Vielleicht um ihre Schuldgefühle zu kompensieren, stürzt sie sich auf eigene Faust in Ermittlungen rund um das Verschwinden von Astrid Forsell – und bringt sich dadurch in Gefahr. 

Als Thomas Andreasson merkt, dass Nora Linde auf eigene Faust Ermittlungen anstellt, wird er wütend – es ist ein Dienstvergehen und er kann Nora nur mit Mühe vor einer Verwarnung schützen. Die Ergebnisse verblüffen ihn trotzdem. Denn Nora hat eine andere Perspektive auf die vermisste Frau als er.

Von Astrid Lindgren kennen wir die Schäreninseln als verwunschenes Paradies, wo Kinder in den Ferien spielen können, bis die Sonne im Meer versinkt. Bei Viveca Sten begegnen wir den Schäreninseln der Erwachsenen.

Für die Polizei sind die Inseln eine Herausforderung. Thomas Andreasson und seine Kollegen verlieren viel Zeit mit der Fahrt von der Polizeistation in Flemingsberg auf die Inseln. Nachts ist die Polizei weit weg, die Inseln sind dunkel und einsam – Nora Lindes Ängste erweisen sich als durchaus begründet. 

Die Menschen auf Sandhamn sind so einsam wie die Inseln, auf denen sie leben. Alle haben sie Beziehungsprobleme. Thomas Andreasson lebt getrennt von seiner Partnerin Pernilla und Tochter Elin. Beruf und Beziehung liessen sich nicht vereinbaren. Nora Linde kann ihre Ängste nicht mit ihrem Mann teilen, greift stattdessen zum Weinglas – aus Angst vor Verlust verliert sie ihre Liebe. 

Auch die beiden vermissten Frauen waren einsam und unverstanden. Viveca Sten lässt uns in eingestreuten Rückblenden am Leben von Siri und Astrid teilhaben. 

Siri Persson Grandin ist mit einem Autohändler verheiratet. Er ist grob und selbstsüchtig. Schon ein Jahr nach ihrem Verschwinden hat er versucht, sie für tot erklären zu lassen, weil er die Lebensversicherung kassieren wollte. 

Astrid Forsell lebt mit ihrer geschiedenen Mutter und deren Freund zusammen. Sie ist 17, wird bald 18 und sieht richtig gut aus. Das merkt auch der Freund und macht ihr Avancen. Statt sie vor ihrem gewalttätigen Freund zu schützen, macht ihre Mutter ihr Vorwürfe, sie wolle ihr den Freund wegnehmen. 

Viveca Sten erzählt die Geschichte in sehr kurzen Kapiteln. Sie sind manchmal kaum länger als eine Buchseite. Sie nimmt dabei abwechselnd die Perspektive von Thomas und Nora ein und in Rückblenden die Sicht von Siri und Astrid. Aus den einzelnen hingetupften Szenen ergibt sich mit der Zeit ein Bild der Menschen und ihrer Beziehungen. Und ganz nebenbei erfährt man dabei viel über das Leben auf den Schäreninseln. Das Leben der Erwachsenen.

Viveca Sten: Das Grab in den Schären. Ein Fall für Thomas Andreasson. Kiepenheuer & Witsch, 416 Seiten, 23.90 Franken; ISBN 978-3-462-05217-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783462052176

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 27. Juli 2021, Matthias Zehnder

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