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Das Gesetz der Strasse

Publiziert am 20. April 2023 von Matthias Zehnder

Vielleicht kennen Sie die Netflix-Serie «The Lincoln Lawyer». Das Buch, auf dem die Serie beruht, das ist dieses Buch da: «Das Gesetz der Strasse» von Michael Connelly. Es spielt Anfang 2007 in Los Angeles. Strafverteidiger Mickey Haller übernimmt einen spektakulären Fall, der ganz Hollywood in Atem hält: Filmproduzent und Millionär Walter Elliot soll seine Frau und ihren Liebhaber erschossen haben. Elliot sagt, er habe die Leichen lediglich gefunden und dann sofort die Polizei verständigt. Die Anklage sagt: Er hatte Schmauchspuren an den Händen, er hatte ein Motiv und er hatte die Gelegenheit, die beiden umzubringen. Jetzt liegt es an Strafverteidiger Mickey Haller, ob der schwerreiche Besitzer der Archway Pictures als Nächstes den Torbogen eines Gefängnisses durchschreitet. Haller ist ein abgebrühter Strafverteidiger. Er geht davon aus, dass alle lügen. Polizisten, Anwälte, Zeugen, Opfer, Verdächtige sowieso. Im Fall der ermordeten Produzentengattin meldet sich aber selbst bei ihm das Gewissen. Kann er es seiner Tochter erklären, was er da macht? Das Buch ist ganz aus der Sicht von Mickey Haller und seiner Arbeit als Strafverteidiger geschrieben. In meinem 150. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum Sie bei der Lektüre dieses Krimis deshalb nicht nur viel Spass haben, sondern auch noch einiges lernen werden.

Hardboiled. Auf Deutsch etwa: «hart gesotten» oder «abgekocht». Das ist ein Krimi-Genre, das in den 1920er und 1930er-Jahren in den USA entstanden ist. In Hardboiled-Krimis geht es zur Sache. Die Atmosphäre ist rau. Die Hauptfigur ist, wie bei Raymond Chandler, Dashiell Hammett oder Mickey Spillane, oft ein zynischer, abgekochter Detektiv, der Whiskey trinkt wie andere Wasser, bei Bedarf schon mal zur Knarre greift und sich nicht damit aufhält, die «Kleine» aufzufordern, ihm in die Augen zu schauen. Mit anderen Worten: Ein Hardboiled-Held passt schon seit einer Weile nicht mehr zu unserer Zeit.

Entsprechend lange gibt es schon Ironisierungen dieser Helden. Mein Liebling ist der New Yorker Privatdetektiv Matthew Scudder von Lawrence Block. Er hat das Prinzip der Hardboiled-Krimis umgedreht: Matthew Scudder ist kein Whiskey-trinkender Angeber, sondern ein trocken gelegter Alkoholiker mit Selbstzweifeln. Statt Nachtklubs besucht er Treffen der Anonymen Alkoholiker und erklärt dabei detailliert, wie man sich von einer Sucht lösen kann. Grossartig.

In diesem eher ironisierten Sinn ist auch «Das Gesetz der Strasse» von Michael Connelly ein Hardboiled-Krimi. Im deutschsprachigen Raum ist Michael Connelly nicht so bekannt wie in den USA: Da gehört er zu den meistverkauften Krimiautoren. Fans der TV-Serie «Castle» kennen auch sein Gesicht: Zusammen mit James Patterson hatte er mehrere Gastauftritte in der Krimi-Autoren-Pokerrunde von Richard Castle.

Michael Connelly hat als Gerichtsreporter für die «Los Angeles Times» gearbeitet. In Los Angeles spielt denn auch seine Serie rund um Mickey Haller. Der ist nicht Detektiv, sondern Strafverteidiger. Ähnlich wie Matt Scudder hat Haller ein Suchtproblem: Er ist angeschossen worden, musste mehrere Operationen über sich ergehen lassen und hat, wie viele andere Amerikaner, immer mehr Oxycodon geschluckt. Haller ist so in eine Schmerzmittel-Abhängigkeit gerutscht und hat seine persönliche Opioid-Krise durchlebt.

Doch er hat erfolgreich einen Entzug absolviert und ist jetzt wieder trocken, wenn auch vielleicht noch etwas wackelig auf den Beinen. Deshalb hat er zu Beginn des Buchs zwei Jahre lang nicht gearbeitet und entsprechend keine Klienten mehr. Er möchte langsam wieder ins Business einsteigen, da wird er von der vorsitzenden Richterin am Los Angeles Superior Court vorgeladen. Anders als befürchtet, kriegt er aber keinen Rüffel, sondern gleich über 30 neue Fälle aufs Mal: Jerry Vincent, ein anderer Strafverteidiger, wie Haller als Einzelmaske unterwegs, ist ermordet worden. Noch liegt Vincent in einem Parkhaus erschossen in seinem Auto, als Richterin Holder seine Fälle bereits Mickey Haller überträgt. Vincent und Haller hatten sich gegenseitig als Vertreter in den Mandatsverträgen aufgeführt.

Mickey Haller hat also plötzlich über 30 neue Klienten – und einen Mordverdacht an der Backe. Denn kurzfristig ist er der einzige, der konkret vom Tod seines Kollegen profitiert. Unter den neuen Fällen sind einige Lappalien, aber auch ein wirklich grosser Fisch: der schwerreiche Filmproduzent Walter Elliot. Der einflussreiche Hollywood-Mann  wird verdächtigt, in seinem Strandhaus in Malibu seine Frau und ihren Liebhaber erschossen zu haben. Prozessbeginn: In einer Woche. Mickey Haller muss also Gas geben.

Und das ganz wörtlich: Sein Spitzname ist «Lincoln Lawyer», weil er kein Büro hat, aber drei Lincoln Town Cars, in denen arbeitet, während er sich durch Los Angeles und Hollywood chauffieren lässt. Mickey Haller bringt also im Eiltempo sein Team wieder an den Start: Assistentin und Exfrau Lorna und den hühnenhaften Ermittler Cisco. Auch ein Fahrer findet sich: Haller lässt einen Ex-Profi-Surfer seine Schulden bei ihm durch chauffieren abarbeiten. Alles gut also? Nicht ganz. Der dicke Fisch, den Haller da so unverhofft an Land gezogen hat, ist ihm je länger je weniger geheuer. Zwar navigiert Haller den Filmproduzenten recht erfolgreich durch die ersten Prozesstage, aber irgend etwas stinkt da ganz gewaltig.

Michael Connelly erzählt seine Geschichte präzise und detailliert: Auf über 500 Seiten schildert er, wie Strafverteidiger Haller die Verteidigung seines Klienten plant. Für uns Leser ist das nicht nur spannend, sondern auch sehr lehrreich: So genau können Sie dem amerikanischen Rechtssystem selten auf die Finger schauen.

Das ist denn auch der grösste Unterschied zwischen dem Buch und der Netflix-Verfilmung: In der Netflix-Serie «The Lincoln Lawyer» kommt das, was sich Mickey Haller denkt, viel weniger zum Ausdruck. In der Serie heisst der Mordverdächtige übrigens nicht Walter, sondern Trevor Elliot und er ist nicht Filmproduzent sondern Programmiergenie mit eigener Gameproduktionsfirma.

Die Serie gefällt, ich persönlich ziehe das Buch aber vor, weil ich beim Lesen viel mehr darüber erfahre, was sich Mickey Haller denkt. Interessant ist, dass es Michael Connelly schafft, trotz viel Spannung eine angenehme Leseathmosphäre zu schaffen. Obwohl es ein Krimi ist, kann man das Buch problemlos auch dann lesen, wenn man alleine zu Hause ist.

Michael Connelly: Das Gesetz der Strasse. Ein Fall für den Lincoln Lawyer. Kampa-Verlag, 528 Seiten, 27.90 Franken; ISBN 978-3-311-12053-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783311120537

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 20. April 2022, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

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