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Creep
Eindringlinge erleben wir als etwas Furchtbares, ganz egal, ob es sich um reale Einbrecher oder um elektronische Überwachung handelt. In diesem Buch wechselt Philipp Winkler die Perspektive: Er erzählt die Geschichte von zwei Eindringlingen. Fanni in Deutschland und Junya in Japan dringen beide in fremde Leben ein, sie elektronisch, er mit physischer Gewalt. Beide suchen sie im Leben fremder Menschen, was sie in ihrem eigenen, realen Leben schon lange nicht mehr finden: Kontrolle, Zugehörigkeit, Freiheit – oder allgemeiner: Leben. Philipp Winkler erzählt uns damit eine dystopische Geschichte über die Dunkelheit unserer Gesellschaft. Das Schlimme daran ist, dass er dabei eine Saite in uns anklingen lässt und wir feststellen müssen: So anders als seine Protagonisten sind wir nicht.
Ich sage Ihnen hier jede Woche, dass ich Ihnen ein Buch vorstelle, das «ebenso intelligent wie unterhaltend» ist. Das neue Buch von Philipp Winkler ist zweifellos intelligent. Unterhaltend im eigentlichen Sinn ist es aber nicht. Es gibt zu denken, es ist teilweise dramatisch und es geht unter die Haut. Aber es ist einfach zu lesen, es zieht einen als Leser richtig rein in eine dystopische Welt.
Die beiden Hauptfiguren des Buchs sind Fanni in Deutschland und Junya in Japan. Beide sind Internet-Nerds, beide leben abgeschottet von der Welt, beide sind sie innerlich kaputt.
Fanni arbeitet bei der Firma Bell, einer Herstellerin von Überwachungskameras. Die Kameras sind beliebt: Es gibt sie als Doorbell-Cam, als Zimmer-Kamera, für outdoor und für indoor. Zu den Aufgaben von Fanni gehört es, nach Zwischenfällen Kamerabilder auszuwerten. Aber wenn noch niemand im Büro ist, kann sich Fanni in den Feed jeder Kamera reinhacken. Sie macht das nicht, um Menschen zu stalken oder zu observieren. Sie hackt sich immer wieder in die Kamerafeeds einer netten Familie ein, weil sie an deren Leben teilnehmen möchte. Sie hat ihre Essenszeiten auf die Essenszeiten der Familie Naumann abgestimmt. Jetzt hat auch Fanni eine Art Familie, wenn auch nur auf dem Bildschirm.
Über die Feeds findet Fanni zu so etwas wie dem Leben zurück. In ihrem eigenen Leben, in ihrem Körper fühlt sie sich gefangen. «Meat Prison» nennt sie ihren Körper. Fleischgefängnis. Und mit dem normalen Internet ist sie durch: «Früher – ab der Zeit auf dem Internat – konnte sie ihren Laptop am späten Freitagnachmittag aufklappen und das Wochenende flog mit mehreren Megabit pro Sekunde an ihr vorüber. Sie rieb sich die Augen, liess ihren Nacken knacken, und schon war Montag. Nur wünschte sie sich damals noch, dass der Montag, und damit der Unterrichtsbeginn, niemals kommen würde. Wenn Fannie heute ihr Thinkpad – das sie für das Surfen im Clearnet nutzt – aufklappt und den Brave Browser startet, ist es, als würde sie ihre Kreise über ausgetrampelten Pfaden ziehen; aus auskartographiertes Gebiet, bis zur Unkenntlichkeit domestiziert. Und überall nur Highways, die von einer grell leuchtenden, mit Ads und hohlem Geschrei überladenen Enklave zur nächsten führen. Sämtliche Ausfahrten verstopft, ehemalige freie Kommunen unter Beton begraben.» (S.162)
So kommt Fanni das freie Internet vor, ausgetrampelt, zu Tode kommerzialisiert, zubetoniert. Deshalb flüchtet sie in die Feeds der Doorbell-Cams, der Zimmerüberwachungskameras und schaut, wie durch virtuelle Schlüssellöcher, in die Leben anderer Menschen rein.
Auch Junya in Japan will nichts mehr mit dem normalen Internet zu schaffen haben. Ja: Er will überhaupt nichts mit der Welt zu schaffen haben. Er lebt in seinem alten, vollgestopften Kinderzimmer im Haus seiner Eltern und ist kaum je dazu zu bringen, diesen seinen Safe Space zu verlassen. Seine Welt ist das Darknet, die verborgenen, dunklen Seiten im Internet, die sich nur mit speziellen Programmen abrufen lassen. Allerdings schaut er sich diese Seiten nicht nur an, er produziert auch Inhalte dafür. Snuff-Videos der schrecklichen Sorte. In der realen Welt ist Junya ein Opfer. War er schon immer ein Opfer. In seiner eigenen Darknet-Welt ist Junya ein düsterer Held mit Bewunderern auf der ganzen Welt.
Es sind traurige Figuren, die Philipp Winkler uns da zeichnet. Zynischerweise nutzt er dabei eine Sprache, wie wir sie aus der Tech-Welt kennen: Ein von Denglisch-Wörtern strotzendes Deutsch, eine mit technischem Slang durchsetzte und von Corporate-Ausdrücken verstümmelte Sprache. Eine Sprache, die das Seelenleben seiner geschundenen Protagonisten perfekt abbildet. Nein, das ist nicht einfach ein unterhaltendes Buch, das man eben an einem Samstagnachmittag wegliest. Philipp Winklers Erzählung geht unter die Haut, setzt Widerhaken da, wo es wehtut. Er zeigt in seinem Buch, dass wir das Internet nicht losgelöst von der realen Welt denken können. Spätestens in unseren Köpfen und in unseren Seelen führen all die virtuellen Welten, die Bildschirmbilder und all das Remote, das wir auf unsere Computer laden, zu realen Gefühlen, die uns innerlich verletzen, ja verheeren können. Nein, das Böse ist nicht aus der Welt, wenn wir es ins Internet abschieben. Im Gegenteil.
Besonders unter die Haut ging mir dabei, dass Fanni und Junya nur extreme Beispiele einer Entwicklung sind, die wir alle schon erleben. Sie werden von Dämonen geplagt, die wir alle aus unserem eigenen Leben kennen, wenn auch nicht so heftig – sie ergreifen die Flucht auf eine Art und Weise, wie wir das alle auch schon gemacht haben, wenn auch nicht so schrankenlos. Auch deshalb bleibt dieses Buch hängen bei mir.
Philipp Winkler: Creep. Aufbau-Verlag, 342 Seiten, 31.90 Franken; ISBN 978-3-351-03725-3
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783351037253
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Basel, 22. Februar 2022, Matthias Zehnder
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