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Candy Haus
Stellen Sie sich vor, Sie könnten ihre Erinnerungen in die Cloud hochladen. Es gäbe eine Apparatur, die Ihre Erinnerungen digitalisiert und in einen Onlinedienst hochlädt. Da könnten Sie die Erinnerungen jederzeit abrufen und mit anderen Menschen teilen. Sie könnten Erinnerungen miteinander vergleichen und so ein Ereignis aus mehreren Perspektiven erleben. Und sie könnten bei traumatischen Erlebnissen Ihre Erinnerungen redigieren. Genau das ist die Ausgangslage des neuen Romans von Jennifer Egan: «Candy Haus» heisst der Roman, eine seltsame Halbübersetzung des englischen Titels «The Candy House», also eigentlich «das Süssigkeitenhaus». Wie das Lebkuchenhaus bei «Hänsel und Gretel» steckt im Candy House der Erinnerungen aber keine Erlösung, sondern eine böse Hexe. In meinem 130. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum es Jennifer Egan, anders als etwa Dave Eggers in «The Circle», nicht um eine apokalyptische Technikvision geht, sondern um die Menschen. Genauer: um Erinnerungen und um Authentizität.
Bix Bouton ist Gründer und Chef des Onlinekonzerns Mandala. Ein Jahr nach der Gründung von Mandala ist ihm eine wissenschaftliche Arbeit der Anthropologin Miranda Kline in die Hand gefallen: «Muster des Vertrauten». Kline war es gelungen, die Faktoren, die Vertrautheit zwischen Menschen herstellen, in mathematischen Formeln auszudrücken. Bix Bouton setzte die Formeln in seinem Onlinedienst ein und wurde sehr reich damit. Doch jetzt steckt er in einer Midlifecrisis: Die Ideen sind im abhanden gekommen. Er weiss nicht, wie er seine Firma weiterentwickeln kann. Im Rahmen einer ganz altmodischen Diskussion zwischen Akademikern ausgerechnet über die Arbeit von Miranda Kline hat er den entscheidenden Geistesblitz: Wie wäre es, wenn Menschen ihre Erinnerungen auf Mandala hochladen und mit anderen Menschen teilen könnten?
Bix Bouton nennt das neue Feature «Besitze dein Unbewusstes». Mit den Erinnerungen, die da hochgeladen werden, ist nicht etwa ein einfacher Schnappschuss oder ein Filmchen gemeint. Über Elektroden am Kopf werden die Erinnerungen so digitalisiert, dass sie andere immersiv erleben können. Die Erfindung ist ein riesiger Erfolg.
«Dreizehn Jahre nach dem Release von «Besitze dein Unbewusstes» hatte sich ein untergeordnetes Feature – das Kollektivbewusstsein – einen zentralen Platz erobert. Wenn man sein Bewusstsein ganz oder in Teilen in ein «Online-Kollektiv» hochlud, erhielt man Zugang zu den anonymen Gedanken und Erinnerungen aller Menschen auf Erden, ob lebendig oder tot, die das auch getan hatten.» (S. 78f.)
Auf diese Weise können Menschen zum Beispiel herausfinden, was aus ehemaligen Freunden oder Bekannten geworden ist. Sie sehen die Person dann aus der Perspektive der Erinnerungen, die andere hochgeladen haben. Die Erinnerungen können auch dazu dienen, eine Person online etwa in Chats oder über die intelligenten Lautsprecher zu simulieren. «Proxy» heisst diese Funktion. Es ist eine Platzhalteridentität, die sich aus allen Erinnerungen speist, die über eine Person online verfügbar sind. Eine Art individualisierte Alexa.
Solche Proxys machen sich im Buch von Jennifer Egan vor allem Renegaten zu Diensten: Renegaten sind Menschen, die sich dem kollektiven Bewusstsein verweigern und ihre Erinnerungen nicht teilen. Die in die analoge Welt abtauchen. Sie lassen eine solche Proxy an ihre Stelle treten, damit sie Zeit haben, zu verschwinden. Jennifer Egan schreibt, dass Renegaten wie Tiere seien, «die in einem Fangeisen feststecken und sich ein Bein abbeissen, um ihre Freiheit zurückzuerlangen.» (S. 146)
Das Buch erzählt keine chronologische Geschichte. Es ist ein Kaleidoskop von Einzelerzählungen: Jennifer Egan verfolgt abwechslungsweise einzelne Charaktere. Es ist, wie wenn sie in der Memory-Cloud herumscrollen würde. Sie taucht jeweils kurz in eine Person ein und schildert eine Sequenz aus deren Sicht, dann wechselt sie die Person und die Perspektive wieder. Am Anfang irritiert das, mit der Zeit merkt man, wie präzise die Form das eigentliche Thema des Buchs abbildet. Im Zentrum steht nämlich, anders als etwa bei Dave Eggers, nicht die autoritäre Macht des technischen Systems und seine Kritik. Im Zentrum stehen die Menschen und die Frage: Was ist eine Erinnerung? Was ist Authentizität? Was ist echt in unserem Leben – und wie finden wir das heraus?
Natürlich stellt Jennifer Egan diese Fragen nicht explizit, sie macht sie sichtbar an ihren Charakteren. An Melora und Lana, den beiden Töchtern von Miranda Kline, die hin- und hergezerrt sind zwischen ihrer Wissenschaftlerin-Mutter und einem leicht verrückten Vater, der als Rockmusikproduzent arbeitet. An Alfred Hollander, der allergisch, ja aggressiv auf alles reagiert, was er als artifiziell und gespielt erlebt – also eigentlich auf alles und jedes, vor allem aufs Fernsehen. An Miles, der ein hochgetaktetes Leben als Staranwalt führt, bis ihn die vielen Tabletten einholen, die er braucht, um dieses Leben zu führen. Die Tabletten, und eine Affäre mit der Freundin seiner Frau. An Sasha, die in der Wüste von New Mexico lebt und da an einer Kunstinstallation arbeitet, die man nur vom Heissluftballon aus versteht.
Es ist ein wahres Füllhorn von Geschichten, angestossen durch die Frage, was wäre, wenn man die eigenen Erinnerungen in die Cloud hochladen könnte. Spannend.
Jennifer Egan: Candy Haus. Roman. S. Fischer-Verlag, 416 Seiten, 37.90 Franken; ISBN 978-3-10-397145-3
https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783103971453
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783103971453
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Basel, 17. November 2022, Matthias Zehnder
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