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Blue Skies
«Blue Skies» heisst der neue Roman von T.C. Boyle. «Blaue Himmel», das tönt harmlos. Es könnte den Himmel an einem Sommersonntag meinen, gepunktet von roten Luftballonen, hell und freundlich. «Blue Skies» ist alles andere als das. T.C. Boyle hat eine Klimagroteske geschrieben. Einen Roman, der lustig wäre, würde einem nicht ständig das Lachen im Hals stecken bleiben. Im Zentrum des Buchs stehen eine amerikanische Familie und der Klimawandel. Der Vater ist Arzt, die Mutter züchtet Insekten zum Essen, aber mehr aus Solidarität mit ihrem Sohn, der Entomologe ist. Sie leben in Kalifornien, bis auf die Tochter, die lebt in Florida und hat als Haustier eine Tigerpython. Dramatiker Friedrich Dürrenmatt hat einmal gesagt: «Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.» So gesehen können wir sagen: T.C. Boyle hat «Blue Skies» zu Ende gedacht. In meinem 155. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, inwiefern es sich lohnt, das Buch zu lesen und wann sie besser die Finger vom blauen Himmel lassen sollten.
Ich stelle Ihnen hier Bücher vor, die ebenso intelligent wie unterhaltend sind. Kluge, spannende Geschichten. Die meisten Bücher von T.C. Boyle sind genau das. Bei seinem neusten Roman, seinem 19. übrigens, bin ich mir nicht so sicher. Es ist klug, aber es ist eine Groteske. Personen und Handlung sind überzeichnet, allen widerfährt etwa das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Ich habe das beim Lesen nur ausgehalten, weil ich es mir als Karikatur vor Augen geführt habe. Etwa so, wie man es nicht wörtlich nehmen darf, wenn bei Wilhelm Busch am Ende von «Max und Moritz» die beiden Lausbuben durch die Mühle gemahlen und von Enten gefressen werden.
Aber vielleicht erzähle ich Ihnen zuerst einmal, um was es in «Blue Skies» geht. Im Zentrum des Romans steht eine Familie. Frank und Ottilie leben in Kalifornien. Sie sind gut situiert, Frank ist Arzt. Sie leben nicht gerade ein einer Villa, aber in einem alleinstehenden Haus mit Swimmingpool und Garten. Sie haben zwei erwachsene Kinder. Cooper ist Entomologe, also Insektenkundler. Er arbeitet an seiner Dissertation über eine bestimmte Schmetterlingsart. Cat lebt in Florida. Sie möchte Influencerin werden, hat das aber bisher nicht geschafft. Ihr Partner Todd arbeitet für Bacardi und ist darauf spezialisiert, Parties zu inszenieren.
Das ist das Setting. Jetzt nehmen Sie den Satz von Dürrenmatt mit der schlimmstmöglichen Wendung dazu. Cat in Florida kauft sich eine Tigerpython, die aussieht wie lebendiger Schmuck und einen schönen Kontrast zu ihrer Haut bildet. Zur Schlange greift sie, weil Todd kein Baby will und auch keinen Hund und keine Katze. Aber als Influencerin braucht sie etwas, also greift sie zur Tigerpython. Sie tauft die Schlange Willie. Natürlich bricht Willie aus dem Terrarium aus, also kauft sich Cat eine zweite Tigerpython und tauft sie Willie II.
Ottilie hat beschlossen, Insekten zu essen, weil ihr Sohn Entomologe ist und sie ihn liebt und weil es richtig ist. Man tut ja sonst nichts fürs Klima. Sie hat sich einen Brutapparat aus Plexiglas besorgt und kann jetzt zusehen, wie die Grilleneier sich zu Larven entwickeln, aus denen schliesslich erwachsene Tiere werden. Zuerst experimentiert sie mit einfachen Sachen wie Cookies und Brownies aus Grillenmehl. Schliesslich spezialisiert sie sich auf Tacos mit Grillen. Allerdings überleben die Grillen in ihrem Plexiglasgehäuse nicht lange und auch mit den Mehlwürmern will es nicht klappen. Ottilie zieht betrübt im Swimmingpool ihre Runden und fragt sich, wie sie denn jetzt die Welt retten soll.
Cooper, der Sohn, hat unterdessen ganz andere Sorgen. Als Entomologe ist er viel in der Natur unterwegs, weil er Insekten sammelt. Seine Freundin Mari ist auf Zecken spezialisiert. Es ist deshalb Ironie des Schicksals (respektive: Bosheit des Autors), dass Cooper beim Insekten-Sammeln ausgerechnet von einer Zecke gebissen wird, auf die Mari spezialisiert ist. Der Zeckenbiss entzündet sich, es kommt zu einer bösartigen, bakteriellen Infektion. Den Ärzten bleibt nichts anderes übrig, als Cooper den Arm zu amputieren.
Immer, wenn man denkt, schlimmer werde es nicht mehr, dreht Boyle noch einmal an der Schraube. Als Cat und Todd heiraten, brechen in Kalifornien Buschfeuer aus. Das Hochzeitsfest im Haus der Eltern muss abgebrochen werden, weil alles in Rauch erstickt. Als Cat später Zwillinge erwartet, reist Ottilie nach Florida, um ihrer Tochter beizustehen. Das Flugzeug muss aber einem Hurrikan ausweichen und landet statt in Miami in Atlanta. Statt mit dem Anschlussflug nach Jacksonville muss sie durch Sturm und Regen mit einem Mietwagen fahren. Kurz vor dem Ziel scheint die Strasse von lebendem Schlamm bedeckt zu sein. Es ist aber nicht Schlamm, es sind Fische. Tausende Augenpaare leuchten im Scheinwerferlicht auf. Es sind südostasiatische Froschwelse. Ottilie, die sogar ihre Grillen möglichst schmerzlos tötete, drückt aufs Gas und fährt die Fische tot. Ihre Tochter braucht sie.
Überschwemmungen, Stürme, Babies, eine Schlange – die schlimmstmögliche Wendung können Sie sich selbst ausdenken. Es wäre nicht auszuhalten, wäre es einfach die Geschichte einer Familie. Aber was uns Boyle da erzählt, das ist ein Klimaroman. Anders als in vielen Geschichten, in denen es um die Klimakrise geht, leiden nicht mehr oder weniger liebe Menschen unter einem Amok laufenden Klima. In Boyles Geschichte spielen das Klima und die Menschen beide verrückt. Die Familie bildet im Kleinen ab, was das Klima im Grossen durchmacht. Und es wird klar: Es ist kein Zufall, dass dieses Klima verrückt spielt. Diese Überschwemmungen, die Stürme, das Insektensterben, die Angriffe der Tiere, das sind nicht Strafen eines rächenden Gottes, das ist die logische Konsequenz des menschlichen Verhaltens. Es ist also nicht so, dass die Familie verrückt wird, weil das Klima verrückt spielt – es ist umgekehrt.
Wenn man sich das vor Augen hält, dann ist der Roman wirklich ebenso intelligent wie unterhaltend. Trotzdem ist die Geschichte der Familie kaum auszuhalten. Wenn Sie selbst kleine Kinder haben, wenn Sie alleine zu Hause sind und wenn Sie Haustiere mögen, sollten Sie dieses Buch vielleicht besser nicht lesen. Es ist eine Groteske, die sich nachts auch in einen Alptraum verwandeln kann. Boyle tischt uns den Horror aber nicht um seiner selbst willen auf. Das macht das Buch zu einem wichtigen Roman.
T.C. Boyle: Blue Skies. Hanser, 400 Seiten, 39.50 Franken; ISBN 978-3-446-27689-5
https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446276895
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446276895
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Basel, 25. Mai 2022, Matthias Zehnder
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