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Blinde Tunnel
An der Oberfläche erzählt dieser Roman die Geschichte einer Midlife Crisis. Sonja und Daniel haben ihr Reihenhaus in Stockholm verkauft und sind nach Böhmen ausgewandert. Hier in Tschechien haben sie ein altes Weingut gekauft und wollen einen Neuanfang wagen. Das Weingut ist wunderschön in einer Flussschlaufe gelegen und sieht richtig romantisch aus. Sonja macht im Städtchen neue Bekanntschaften, darunter die englische Anwältin Anna. Die erzählt ihr von der bewegten Geschichte der Region. Und dann liegt Anna plötzlich erschlagen unter einem Baum auf dem Weingut. Daniel wird verhaftet und verhört. Und Sonja gerät in einen Strudel von Ereignissen und sieht sich gefangen in der Geschichte: der persönlichen Geschichte mit Daniel und der furchtbaren Geschichte des Ortes. Denn der Ort liegt im Sudetenland – Hass und Verbrechen sind bis heute präsent. In meinem 176. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum mich diese Geschichte über Sudetendeutsche, den Zweiten Weltkrieg und ein schwedisches Paar in der Midlife Crisis nicht mehr losgelassen hat.
Östlich von Deutschland liegt Polen, östlich der Schweiz liegt Österreich. So weit, so klar. Nördlich von Österreich und südlich von Polen sind auf der heutigen Europakarte zwei Länder eingezeichnet: die tschechische und die slowakische Republik. Vor dem Zweiten Weltkrieg sah die Landkarte hier ganz anders aus. Nach dem Ersten Weltkrieg lag hier die Tschechoslowakei. Das Land wurde 1918 gegründet. Es war einer der Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns. Die Tschechoslowakei bestand aus Böhmen, Mähren, Schlesien, der Slowakei und aus Karpatenrussland. Vor allem im Westen der Tschechoslowakei, also in Böhmen und Mähren, lebten viele deutschsprachige Menschen. Das waren die Sudetendeutschen. Sie stellten in der Tschechoslowakei 23 Prozent der Bevölkerung.
Die Tschechoslowakei war eher zentralistisch als Nationalstaat organisiert. Die deutschsprachigen Bürger fühlten sich gegenüber den Tschechen und Slowaken benachteiligt. Von ihrer Geschichte her orientierten sie sich zunächst an Österreich. Doch das Nachbarland Deutschland entwickelte unter den Nationalsozialisten und Adolf Hitler eine aggressive deutschnationale Identität. Die Sudetendeutsche Partei schloss sich ideologisch den Nationalsozialisten an. Das führte innerhalb der Tschechoslowakei zu massiven Spannungen, die Hitler auch noch schürte. 1938 nutzte Hitler diese Spannungen als Hebel und forderte als Preis für den Verzicht auf einen Krieg das Sudetenland. Im September 1938 trafen sich die Führer von Deutschland, Italien, Grossbritannien und Frankreich in München und beschlossen ohne Beteiligung der Tschechoslowakei, das Sudetenland an Deutschland abzutreten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg drehte die Tschechoslowakei den Spiess um. Das Land entzog den Sudetendeutschen die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft und ihr Eigentum. Die meisten Sudetendeutschen wurden aus der Tschechoslowakei vertrieben. Diese Vertreibungen erfolgten oft unter brutalen Bedingungen, dabei kamen mehrere zehntausend Menschen ums Leben. Diese Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg ist der historische Hintergrund, vor dem «Blinde Tunnel» von Tove Alsterdal spielt.
Denn das Weingut in Böhmen, das Sonja und Daniel kaufen, um ihre Ehe zu retten, gehörte bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs einer sudetendeutschen Familie. Davon wissen die beiden allerdings nichts. Sonja und Daniel sind Schweden: Sie haben bis vor kurzem in einem Reihenhaus in Stockholm gelebt. Das Buch ist aus der Ich-Perspektive von Sonja erzählt. Wir wissen deshalb, dass die beiden mit dem Reihenhaus nicht nur ein Haus verkauft haben, sondern auch den Traum von einem Leben, das in diesem Haus hätte gelebt werden können. Mit dem Erlös ermöglichen sie sich einen neuen Lebenstraum. Ein Weingut in Böhmen, das Landleben, eine Rückkehr zu den einfachen, schönen Freuden des Lebens.
Noch ist das Haus allerdings kein Traum, sondern irgendwo auf der Skala zwischen stark renovationsbedürftig und Ruine. Vor allem der Keller spottet jeder Beschreibung. Daniel muss all seine Kraft und sein Wissen um Leitungen aufbringen, um die Installationen im Haus zum Leben zu erwecken. Bei seinen Arbeiten im Keller stösst er auf eine seltsame Mauer. Eine Mauer, die da eigentlich nicht sein sollte. Aus einer Laune heraus reisst er die Mauer ein und entdeckt dahinter einen Tunnel, ein Kellergewölbe: der ehemalige Weinkeller des Guts. In den Regalen liegen sogar noch Weinflaschen. Staubige Flaschen aus dem Jahr 1937 – und da liegt auch eine mumifizierte Leiche. Es ist die Leiche eines Jungen. Er trägt eine weisse Armbinde. Erst später finden Sonja und Daniel heraus, dass Sudetendeutsche nach dem Krieg solche weissen Armbinden tragen mussten.
Die tschechische Polizei untersucht den Fall, aber ganz offensichtlich eher lustlos. Was Daniel besonders überrascht: Es dringt nichts an die Medien. Kein Wort. Niemand berichtet darüber, niemand redet über die Leiche. Ganz offensichtlich will die Polizei, ja das ganze Dorf den Fall totschweigen. Als Sonja und Daniel insistieren und bei der Polizei nachfragen, kommt es zu einer seltsamen Sitzung mit dem Kommissar.
«Also, wenn jemand für den unglücklichen Tod dieses Jungen verantwortlich gemacht werden kann, dann ist das wohl leider Hitler persönlich», sagte der Kommissar und schloss sorgsam die Mappe. Die dicke Hand, die er darauf liegen ließ, vermittelte das Gefühl, dass sie nie wieder geöffnet werden würde.
«Ich verstehe, dass das alles Ihnen Unbehagen bereitet», sagte er. «Aber wenn wir nach allen Kindern suchen müssten, die in diesen Jahren verlorengingen …»
«Aber», sagte Daniel, «wenn die Schuhe von hier waren, dann war er doch bestimmt aus der Gegend, vielleicht gibt es Verwandte …»
«Das glaube ich nicht», sagte Josef Krall und lehnte sich zurück, begann ohne Pause zu reden, sodass der Dolmetscher doppelt so schnell sprechen musste.
Mit größter Wahrscheinlichkeit sei der Junge Sudetendeutscher. Die Verbindung zu dieser Gegend, die Schuhe, die Armbinde. Somit habe er hier keine Verwandten, weil es hier, Gott sei Dank, keine Sudetendeutschen mehr gebe.
Hunderte von Jahren hätten sie hier Seite an Seite gelebt, in Frieden, hätten ihre eigenen Schulen und Kirchen gehabt, doch dann sei Hitler gekommen, und die Ersten, die jubelnd auf dem Marktplatz gestanden und in die Hände geklatscht hätten, als die Nazis einmarschierten, seien die Sudetendeutschen gewesen.
«Mein eigener Vater war nach dem Krieg dabei», fuhr der Kommissar fort, «und sorgte dafür, dass jeder Sudetendeutsche hier in der Stadt seinen Koffer packte und in den Zug stieg, und wenn er ihn an Bord tragen musste. Damit sie sich nie wieder hier blicken liessen. Tschechische Kinder starben, jüdische Kinder starben, möge Gott mir verzeihen, wenn ich nicht um einen deutschen Jungen weine.»
In dem Raum wurde es immer stickiger. Alles verstummte, Stühle scharrten, als Josef Krall sich als Erster erhob und alle seinem Beispiel folgten. Die Mappen verschwanden in der Aktentasche seiner Assistentin.
«Ich empfehle Ihnen», sagte der Kommissar, «diesen Gang so bald wie möglich wieder zu verschließen. Ein anderes Kind könnte sich hineinverirren. Es könnte ein Unglück geschehen.» (S. 82f)
Die mumifizierte Leiche ist nicht das einzige Problem von Sonja und Daniel. Nach wie vor fehlen Dokumente zum Hauskauf. In der Gemeindeverwaltung werden sie hingehalten. Sie beginnen, sich Sorgen zu machen. Was für ein Haus haben sie gekauft? Gehört es wirklich ihnen? Im Dorf trifft Sonja eine Engländerin. Anna sagt, sie erhole sich von einer schwierigen Beziehung. Weil sie Anwältin ist, wollen Sonja und Daniel sich von ihr beraten lassen. Wenig später ist Anna tot und die Polizei verdächtigt und verhaftet Daniel. Für Sonja beginnt ein Alptraum, aus dem sie sich nur befreien kann, indem sie das Rätsel des Hauses lüftet.
An der Oberfläche erzählt dieser Roman die Geschichte einer Midlife Crisis und einen spannenden Krimi. Der Auslöser dafür steckt aber viel tiefer: Es ist der Hass zwischen den Volksgruppen in der Tschechoslowakei. Ich muss zugeben, dass ich diese Geschichte nur bis zum Münchner Abkommen kannte. Dass die Sudetendeutschen nach dem Krieg selbst Opfer einer Volksvertreibung wurden, war mir so nicht bewusst. Natürlich ist es verständlich, dass die Tschechen Rache nahmen an den Deutschen, von denen viele die Tschechoslowakei verraten hatten. Das Beispiel Sudetenland zeigt aber auch, wie tief die Wunden sind, die solche Auseinandersetzungen schlagen. «Auge um Auge, Zahn für Zahn» löst keinen Konflikt, sondern schreibt ihn fort, so dass auch die Kinder und die Kindeskinder weiter verfeindet sind. Auch deshalb hat mich diese Geschichte erschüttert.
Tove Alsterdal: Blinde Tunnel. Kriminalroman. Kindler Verlag, 352 Seiten, 31.50 Franken; ISBN: 978-3-463-00050-3
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783463000503
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Basel, 19. Oktober 2023, Matthias Zehnder
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