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Big Swiss

Publiziert am 20. Juni 2023 von Matthias Zehnder

Eine Frau Mitte 40 namens Greta heuert in der Kleinstadt Hudson in der Nähe von New York bei einem Sex-Therapeuten an. Ihre Aufgabe: Sie muss die Audioaufnahmen der Therapiesitzungen transkribieren. Stundenlang hört sie dem Therapeuten zu und schreibt auf, was er und seine Klientinnen und Klienten sagen. Bis diese eine Frau auftaucht, mit einer Stimme, die tief, laut und ein wenig traurig klingt. Greta nennt sie Big Swiss, weil sie gross ist, aus der Schweiz stammt und oft vom Scheitel bis zur Sohle Weiss trägt, die «Farbe der Kapitulation», wie Greta sagt. Sie verliebt sich in die Stimme der Frau. Weil das Ganze in der Kleinstadt Hudson spielt, ist es nicht vermeidbar, dass Greta der Frau begegnet und sie an ihrer Stimme erkennt. Allerdings sagt sie ihr nicht,  dass sie die Transkriptionen deren Therapie anfertigt. Die beiden stürzen sich in eine Affäre, von der Big Swiss natürlich ihrem Theraputen erzählt, was Greta brühwarm erfährt und ihr ermöglicht, ihr Verhalten anzupassen. Big Swiss ist überzeugt, dass sie seelenverwandt sind – bis das Unvermeidliche geschieht. In meinem 159. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum ich das Buch empfehle. Nein, der Sex-Talk darin ist nicht der Grund.

Dieser Roman hat mich verführt. Nein, es war nicht der Sex- und Paartherapeut, der mich dazu gebracht hat, nach dem Buch zu greifen, und auch nicht das etwas voyeuristische Setting. Es war der Titel: Eine amerikanische Autorin schreibt einen Roman, der «Big Swiss» heisst. Im Klappentext steht auch noch, dass es sich bei «Big Swiss» um «die grosse Blonde aus der Schweiz» handle. Gleich auf der ersten Seite beschreibt Erzählerin Greta die Frau:

«Ihre Schönheit glich der Schweiz selbst – beeindruckend, aber steril –, und verglichen mit ihrem teutonischen Gleichmut wirkten die Menschen um sie herum wie emotionale Freigeister oder, um einen Begriff aus der Psychiatrie zu bemühen, völlig durchgeknallte Spinner. Allerdings war das reinste Spekulation von Greta – sie hatte Big Swiss nie getroffen, und das würde sie wahrscheinlich auch nie. Ebenso wenig hatte sie je einen Fuss in die Schweiz gesetzt. Aber sie hatte Fotos gesehen, und das Land wirkte einfach nicht echt. Big Swiss dagegen war eindeutig echt. Greta kannte ihre Initialen (FEW), ihr Geburtsdatum (23.5.1990), ihre Klientennummer (233) und ihre Stimme, die tief, laut und ein wenig traurig klang.» (S. 7f.)

Überhaupt, diese Stimme. Greta sagt: «An dieser Stimme konnte man mit dem Pulli hängen bleiben oder sich einen Zahn abbrechen». Gleichzeitig war die Stimme süss. Noch bevor sie Big Swiss genauer zuhört, ist es die Stimme, die sie einfängt. Greta hat keine Ahnung, wie Big Swiss in Wirklichkeit aussieht. Denn Greta sitzt Meilen entfernt in ihrem eigenen Haus am Schreibtisch, trägt einen Kopfhörer und fingerlose Handschuhe und tippt Wort für Wort, was Big Swiss und ihr Therapeut sagen. Das Haus ist niederländisch und wurde 1737 gebaut. Es ist zwar schön, aber kalt und unpraktisch. Deshalb die Fingerhandschuhe. Es gehört Sabine, einer Freundin von Greta, die sich mit dem Haus über eine gescheiterte Beziehung hinwegtröstet.

Der Therapeut, das ist ein Sex- und Beziehungscoach, der sich völlig unironisch Om nennt. Sein richtiger Name ist Bruce, und fast jeder in Hudson schüttet ihm sein Herz aus. Das ist insofern problematisch, als Hudson nur etwa 6000 Einwohner hat: Die Kleinstadt liegt etwa auf halber Strecke zwischen New York und Albany am Hudson River und ist voll von Hipstern, ausgestiegenen Bankern und Anwälten aus New York, die sich hier niedergelassen haben. Greta findet, die meisten seien überdurchschnittlich attraktiv und angezogen wie Kleinbauern. Schnell kennt sie die Geschichten vieler Menschen in Hudson – und schnell erkennt sie die Klienten von Om an ihren Stimmen auf der Strasse, beim Einkaufen oder in der Bar. Ryan zum Beispiel, der Bäcker ist, sich aber als «Getreidekünstler» bezeichnet. Er sammelt Pfannkuchenreste und bezeichnet sie als seine Kinder. Seine Freundin Nicole ist Kleptomanin. Sie beklaut Freunde und Verwandte. Das ist mit der Zeit sehr anstrengend, denn wenn diese Freunde und Verwandte Nicole besuchen, muss sie sich erinnern, was sie ihnen gestohlen hatte, und die Sachen verstecken. Anstrengend ist das auch für Greta, sie muss immer so tun, als wüsste sie rein gar nichts über die Menschen, denen sie begegnet.

Eines Tages begegnet Greta im Hundepark auch Big Swiss, die in Wirklichkeit Flavia heisst. Natürlich weiss Greta so gut wie alles über sie. Zum Beispiel, dass ihr die Sexualität mit ihrem Ehemann vorkommt, als würde sie mit dem Hund Gassi gehen. Es ist etwas, das erledigt werden muss. Immerhin fühlt sich auch Big Swiss danach etwas besser. Greta begegnet also Flavia im Park und stellt sich als «Rebekah» vor. Mit ihrem Hintergrundwissen fällt es ihr nicht schwer, Flavia alias Big Swiss anzubaggern. Und prompt erzählt Big Swiss Therapeut Om von der Begegnung im Park. Was als Aufnahme zur Transkription natürlich wieder bei Greta landet. Beim Transkribieren kommentiert sie, was Big Swiss dem Therapeuten erzählt – und wie Om darauf reagiert.

Kurz: Es wird sehr lustig. Ich habe beim Lesen mehrmals laut gelacht. Es geht dabei auch um Sexualität, aber eher in der Art und Weise, wie sich Automechaniker über einen Vergaser unterhalten. Und manchmal bleibt einem das Lachen auch im Hals stecken. Denn das wirklich lustige Buch ist unterfüttert mit zwei ernsten bis düsteren Themen. Das eine ist das Trauma. Alle Figuren im Buch haben ein Trauma zu verarbeiten. Big Swiss wurde von einem Mann zusammengeschlagen. Der Täter hat seine Strafe abgesessen und kommt jetzt aus dem Gefängnis. Greta hat, bevor sie nach Hudson gezogen ist, in einer Apotheke gearbeitet und ist da von einem Oxytocin-Süchtigen überfallen worden. Ausserdem hat sich ihre Mutter das Leben genommen, als Greta dreizehn war.

Jen Beagin wendet sich vehement gegen das Trauma als Erklärung. Big Swiss zum Beispiel will sich nicht in ihrem Trauma suhlen. Gleich in ihrer ersten Sitzung mit Therapeut Om sagt sie: «Traumamenschen finde ich fast so unerträglich wie Trumpmenschen. Wenn man ihnen rät, sie sollen ihr Leiden und ihren Opferstatus aufgeben, tun sie, als würde man ihnen ein neues Trauma zufügen.» Später wirft sie Greta vor, den Selbstmord ihrer Mutter auszuschlachten. Sie sagt: «Wenn sich alles durch dein Trauma erklären lässt, ist nichts wirklich deine Schuld, oder? Dir bleibt immer diese bequeme Ausrede. Deine Mutter hat sich umgebracht, und deshalb kannst du tun, was immer du willst?»

Das zweite, eher düstere Thema ist die Destruktion der Therapie. Jen Beagin führt Therapeut Om dermassen gnadenlos vor, dass er einem schon fast wieder leidtut. Seine etwas esoterischen Heilmethoden, etwa das Gongbad oder die Feueratmung, sind nur lächerlich und dass er seinen Klienten ständig seine eigene Geschichte (Pardon: seine innere Reise) erzählen will, ist nur peinlich. Aber immer lustig erzählt. Gleichzeitig zeigt Jen Beagin subtil, wie die Protagonistinnen sich schrittweise selbst heilen. Mit der Pointe, dass Greta auf der Couch von Om landet und als Bezahlung für die Therapie, die sie sich nicht leisten kann, die eigenen Sitzungen transkribieren muss. Es ist die Höchststrafe.

Lesenswert ist der Roman, weil Jen Beagin begeisternd präzise schreibt – und dabei nie verurteilt, was die Menschen tun. Egal, ob es um Heuchelei, Lügen, Ehebruch oder den alltäglichen Selbstbetrug geht – Jen Beagin beschreibt es chirurgisch präzis und unfassbar komisch. Ich würde sagen: Lassen Sie sich vom bunten Cover und dem Sex nicht abschrecken. Darin steckt ganz schön viel Literatur und ein Buch, das, sie ahnen es: ebenso intelligent wie unterhaltend ist.

Jen Beagin: Big Swiss. Roman. Atlantik Verlag, 448 Seiten, 33.50 Franken; ISBN 978-3-455-01593-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783455015935

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 20. Juni 2022, Matthias Zehnder

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