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Betrug

Publiziert am 26. Juli 2022 von Matthias Zehnder

Sommer, Ferien, Reisezeit. In meiner literarischen Sommerserie entführe ich Sie mit einer Reihe von spannenden Romanen und Krimis an interessante Orte auf der ganzen Welt. Diese Woche geht es nach Island. Hier, in der Hauptstadt Reykjavík, wird Úrsúla überraschend vom Premierminister angefragt, ob sie als Parteilose für ein Jahr das Innenministerium übernehmen will. Sie sagt zu, weil sie hofft, dass sie auf diese Weise die schrecklichen Erlebnisse vergessen kann, die sie als NGO-Mitarbeiterin in Syrien und in Liberia gemacht hat. Über Nacht wird Úrsúla zu einer wichtige Figur auf dem Schachbrett der isländischen Politik – bloss scheint sie die einzige zu sein, die die Regeln des Spiels nicht kennt. Sie wird hineingezogen in die hintergründige Welt der Politik voll Fallstricke, Betrug und Verrat. In meinem 114. Buchtipp sage ich Ihnen, warum sich diese literarische Reise nach Island lohnt.

Wenn Sie dieses Buch, wie ich, im heissen Sommer 2022 lesen, machen Sie eine spannende Erfahrung: Draussen in der realen Welt ist es heiss, schwül und stickig. Die Handlung des Buchs spielt in Island. Und da ist es kalt und nass, es liegt meistens Schnee auf der Strasse, der Himmel ist grau und verhangen. Lilja Sigurdardóttir erzählt die Geschichte so packend, dass einem in der grössten Hitze beim Lesen tatsächlich kalt wird. Aber der Reihe nach.

Kalt und eisig: Die isländische Hauptstadt Reykjavík. Bild: Mihai Andritoiu, adobe.com

Úrsúla ist nach jahrelangen Einsätzen für NGOs in Syrien und in Liberia nach Island zurückgekehrt. Sie ist innerlich ausgebrannt. Die Erlebnisse in den Flüchtlingslagern, die ständige Lebensgefahr, unter der sie arbeitete, die Bombenanschläge in Syrien, die schreckliche Ebola-Krankheit in Liberia, die betroffene Menschen innerlich auflöst, haben sie ausgehöhlt. Ihr Herz steckt in einem Panzer fest. Sie fürchtet, dass sie keine Gefühle mehr hat. Nur ihren Hund liebt sie noch. Selbst ihr Mann und ihre Kinder sind ihr gleichgültig geworden. Nein, nicht gleichgültig: Sie weiss, dass Mann und Kinder ihr das Wichtigste sind auf der Welt, aber sie kann es nicht mehr empfinden.  

Nonni, ihr Mann, der eine prestigeträchtige Professur aufgegeben hat, damit sie wieder nach Hause nach Island ziehen können, bringt ihr Verständnis und Geduld entgegen. Die beiden kommen gerade aus dem Sprechzimmer des Paartherapeuten, als Úrsúlas Handy klingelt und der Premierminister sie fragt, ob sie als Parteilose für ein Jahr das Innenministerium übernehmen wolle. Nonni und sie sehen beide eine Chance darin, dass sie sich dank dieser Aufgabe mit neuem Leben füllen kann. 

Úrsúla ist eine mutige Frau. Sie hat sich in Syrien im Bombenhagel des Bürgerkriegs für Flüchtlinge eingesetzt und in Liberia für Ebola-Kranke. Sie hat fürchterliche Dinge gesehen und erlebt. Verglichen damit kann ein Schreibtischjob in einem Ministerium nur erholsam sein. Denkt sie sich. Und täuscht sich gewaltig. Kaum im Ministerium angekommen, wird sie vom Treibsand der isländischen Politik erfasst und zwischen Verwaltung und Medien zerrieben. Ihr grösster Fehler: Sie ist ehrlich. Und macht sich damit angreifbar. 

Schon am ersten Tag besiegelt sie ihr Schicksal, als sie einer verzweifelten Frau ein Versprechen gibt. Die Frau fleht sie an, einen Polizisten, der in der isländischen Provinz ihre Tochter vergewaltigt hat, der gerechten Strafe zuzuführen. Die Anzeige ist offenbar verschleppt worden. Úrsúla verspricht der Frau, ihr zu helfen. Sie ahnt nicht, was sie damit auslöst. Denn dass die Anzeige untergegangen ist, das ist kein Zufall. 

Lilja Sigurdardóttir zeigt schön auf, wie Politik und Medien zusammenspielen und im Handumdrehen dafür sorgen können, dass protestierende Menschen vor der Tür einer Politikerin stehen. Sie erzählt ihre Geschichte aus vier Blickwinkeln: Im Zentrum steht die Sicht von Úrsúla, wie sie sich um Ehrlichkeit im Amt und gegenüber ihrem Mann bemüht und nicht merkt, dass sie bloss ein kleines Bäuerlein auf dem Politik-Schachbrett des Premierministers ist. Dann ist da Stella, die Putzfrau, mit der Úrsúla hin und wieder eine Zigarette auf dem Balkon raucht. Stella ist eine Verbündete – und doch die erste, die Úrsúla verrät. Stella verkörpert die komplizierte Seite von Úrsúla. Dafür kann sie sich voll und ganz auf Gunnar verlassen, ihren Fahrer und Leibwächter. Erst wollte sie ohne Fahrer auskommen. Nach den ersten Protesten und nachdem ihr Auto gekapert worden ist, greift sie aber gerne auf die Dienste von Gunnar zurück. Gunnar sieht seinen Lebensinhalt darin, sie zu beschützen. Sein Leben ist deshalb einfach und klar. Obwohl er sozial auf einer ganz anderen Stufe steht als Úrsúla und viel einfacher gestrickt ist, steht er für die Klarheit im Leben, die Úrsúla sucht. Und dann ist da noch Pétur, ein seltsamer Obdachloser. Er versucht, Úrsúla mit eigenartigen Botschaften vor dem Teufel zu warnen. Er scheint verwirrt zu sein, niemand nimmt ihn ernst. Und doch ist er der Einzige, der von Anfang an die Wahrheit sagt.

Lilja Sigurdardóttir ist mit ihrer Geschichte rund um die isländische Innenministerin ein packender Thriller gelungen. Das Setting im isländischen Schnee sorgt wenigstens im Kopf für Abkühlung. Davon abgesehen zeigt Sigurdardóttir die Mechanismen zwischen Politik, Medien und Mob auf, wie sie überall spielen. Auch bei uns. 

Lilja Sigurdardóttir: Betrug. Thriller. DuMont, 416 Seiten, 25.50 Franken; ISBN 978-3-8321-6595-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783832165956

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 26. Juli 2022, Matthias Zehnder

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