Video-Buchtipp

Nächster Tipp: Gansabhauet
Letzter Tipp: Der böse Trieb

Aus der Mitte des Sees

Publiziert am 12. März 2021 von Matthias Zehnder

Ich gebe Ihnen jede Woche einen Lesetipp: ein Buch das ebenso intelligent wie unterhaltend ist.

Diese Woche: «Aus der Mitte des Sees» von Moritz Heger.

Hier gibt es die ausführliche Fassung dieses Buchtipps auf Youtube:

Lukas lebt seit 16 Jahren im Kloster.

Er ist 40 Jahre alt und der mit Abstand jüngste Bruder.

Andreas, sein bester Freund, ist kürzlich ausgetreten. Er hat geheiratet – jetzt hat Lukas von ihm eine Geburtsanzeige erhalten. Andreas ist Vater geworden.

Lukas und Andreas gingen immer zusammen schwimmen. Jetzt sitzt Lukas alleine auf dem Steg am See beim Kloster.

Und er geht alleine schwimmen. Das Wasser, das ihn trägt, in dem er aber auch untergehen könnte, wird zur Metapher für sein Leben. 

Lukas sitzt auf dem Steg und richtet sich innerlich an Andreas: «Du hast Bilder gesendet. Was erwartest Du? Dass ich direkt zurückschreibe? Von mir ein spontanes «Süss!» kommt oder gar ein «Ganz der Papa» mit Smiley?»

Aber Lukas antwortet seinem ausgetretenen Bruder nicht. Er kann nicht antworten. Der Austritt seines Freundes hat ihn mehr erschüttert, als er zugeben will. Und dann sind da auch noch die Brüder im Kloster. Sie werden alt und stützen sich immer mehr auf ihn. Lukas soll mehr Verantwortung übernehmen, ja sogar Prior werden. Will er das? Und: Kann er das? Oder tritt er auch aus und stürzt sich ins Leben? Aber ist nicht das Kloster sein Leben?

Lukas schwimmt im See beim Kloster, setzt sich auf den Steg und führt Zwiesprache, mit sich und seinen Brüdern, mit Andreas und mit Gott. Und dann ist da auch noch Sarah. Eine junge Frau, die unvermittelt aufgetaucht ist. Was will sie von Lukas – und vor allem: was will Lukas von ihr?

Ein Benediktinerkloster ist eine streng geregelte Angelegenheit. Der Tag im Kloster beginnt und endet mit dem Gebet. Der Vormittag ist als Arbeitszeit freigehalten. Nach der letzten Gebetszeit, der Komplet, beginnt das nächtliche Stillschweigen, das bis zum anderen Morgen dauert.

Lukas lebt seit 16 Jahren im Benediktinerkloster. Im Buch von Moritz Heger ist unbestimmt von einem Benediktinerkloster an einem See die Rede – geformt hat Heger das Kloster wohl nach der Benediktinerabtei Maria Laach zwischen Bonn und Koblenz. Da ist er selbst immer wieder zu Gast.

Das Leben im Kloster also ist streng geregelt. Für Lukas war es vor 16 Jahren eine Möglichkeit, seinem Leben eine Form zu geben – und wohl auch einen Sinn. Aber jetzt wird dieses Leben in Frage gestellt. 

Von seinem Freund Andreas, der ausgetreten ist um zu heiraten

Von den Mitbrüdern, die alt geworden sind und Lukas mehr einbinden möchten

Lukas weiss nicht weiter – und geht schwimmen. Im Wasser erlebt er sich selbst, dem Wasser kann er sich übergeben und trotzdem fühlt er sich frei. Das Wasser kann man durchaus als Metapher für Gott lesen: Das Wasser trägt Lukas – wenn er sich tragen lässt.

Der Steg am See ist sein Rückzugsort. Da hält er innerlich Zwiesprache mit seinem abtrünnigen Freund, seinen alternden Mitbrüdern – und mit sich selbst.

Und ausgerechnet hier, an seinem See, an seinem Steg, taucht Sarah auf – und zwar ganz wörtlich: Sie ist über den See geschwommen, taucht wie weiland Ursula Andress in «James Bond jagt Dr. No» aus dem Wasser auf und fragt, ob sie sich zu Lukas setzen darf.

Mit Sarah entwickeln sich spielerische Gespräche – und mit Sarah kann Lukas schweigen. Sarah, die Schauspielerin, führt ein ganz anderes Leben. Trotzdem oder gerade deshalb wird sie für Lukas zur grossen Herausforderung: Soll er der Liebesbeziehung, die sich da zweifellos entwickelt, nachgeben?

Auf den ersten Blick hat die Situation von Lukas nicht viel mit unserem Alltag zu tun. Wer ist schon Mönch in einer Benediktinerabtei. Auf den zweiten Blick aber sind wir alle in unserem Alltag so eingesperrt wie Lukas in seinem Kloster – und wie er suchen wir in dieser Eingesperrtheit auch Halt. 

Das Angesprochen sein verstärkt sich noch dadurch, dass Moritz Heger den Roman in weiten Strecken in zweiter Person Singular geschrieben hat: Lukas redet innerlich mit Andreas, mit Sarah, mit seinem  sterbenden Bruder Alban. Das «Du» auf den Seiten des Buchs zieht mich als Leser automatisch mit ein. Lukas richtet sich auch an mich. 

«Aus der Mitte des Sees» ist kein Aufreger. Es ist ein stilles Buch, wie ein See, in den man eintauchen, ja abtauchen kann. Und dann trägt einen das Wasser. Wunderbar.

Moritz Heger: Aus der Mitte des Sees. Roman. Diogenes, 256 Seiten, 30 Franken; ISBN 978-3-257-07146-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257071467

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 11. März 2021, Matthias Zehnder