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Altes Leid

Publiziert am 4. Mai 2023 von Matthias Zehnder

Hamburg, 1947. Nach wenigen Wochen Ausbildung tritt Ida Rabe als eine der ersten weiblichen Polizistinnen in Hamburg ihren Dienst an. Auf der Davidwache im Hamburger Stadtteil St. Pauli ist sie alles andere als willkommen. Doch die Polizisten können sich gegen die Frauen im Polizeidienst nicht wehren: Sie kommen auf direkten Befehl der britischen Besatzungsmacht. So erzählt es Lea Stein in ihrem Roman – und so war das damals in Hamburg. Ida Rabe schert sich nicht um die Machos in Uniform. Sie kümmert sich um stehlende Kinder, Prostituierte und Geflüchtete. Bis im Umland die verstümmelte Leiche einer Frau auftaucht. Die Frau ist grausam vergewaltigt worden. Es ist nicht das erste Vergewaltigungsopfer, von dem Ida Rabe hört: Offenbar hat es da ein menschliches Monster auf Frauen abgesehen. Obwohl sie eigentlich nicht als Kriminalerin arbeiten darf, sondern nur als gewöhnliche Polizistin, beginnt Ida Rabe zu ermitteln. Und bringt sich damit selbst in Gefahr. In meinem 152. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum sich die Lektüre des Romans nicht nur lohnt, weil der Plot so spannend ist.

Nach dem zweiten Weltkrieg liegt die Stadt Hamburg in Trümmern. Zwar ist es nicht zu einer letzten Schlacht gekommen, die britische Armee hat die Stadt kampflos übernommen. Die jahrelangen Bombenangriffe der Alliierten haben aber dazu geführt, dass fast die Hälfte der Wohnungen zerstört ist. Ganze Stadtviertel besonders im Osten liegen in Trümmern. Trotzdem strömen Evakuierte aus dem Umland, Geflüchtete aus den deutschen Ostgebieten und entlassene Kriegsgefangene in die Stadt. Hunderttausende leben in Notunterkünften. Viele Menschen leiden Hunger. Es mangelt auch am Allernötigsten, an Kleidern, Schuhen, Möbeln. Strom, Gas und Kohle sind streng rationiert. Der Schwarzhandel blüht, vor allem am Grossneumarkt, am Goldbekplatz und an der Reeperbahn.

Hier auf dem Kiez im Stadtteil St. Pauli an der Reeperbahn, Ecke Spielbudenplatz/Davidstrasse befindet sich die Davidwache. Im Buch von Lea Stein tritt in dieser Polizeiwache Ida Rabe am 1. Mai 1947 als uniformierte weibliche Polizistin ihren Dienst an. Gegen den Willen der deutschen Polizisten notabene. Denn dass Frauen Polizeidienst leisten, ist das Resultat einer Reorganisation der Polizei durch die britische Besatzungsmacht. Der lokale Polizeimeister hat dazu nichts zu sagen: Die weibliche Polizei ist in einer Dienststelle organisiert, die direkt dem Chef der Polizei untersteht.

Ida Rabe freut sich riesig über ihre Stelle und sagt ihrem neuen Chef, Polizeimeister Hildesund, dass sie es nicht fassen kann, hier zu sein:

«‹Als Polizistin.›
‹Ah.› Er kniff die Augen zusammen. Sein Blick, mit dem er sie nun musterte, war plötzlich hart. ‹Sie sollten sich nicht zu sehr daran gewöhnen. Die Zeiten könnten sich schneller ändern, als Sie vermuten.›
‹Und dann?›, sagte Ida lauter als beabsichtigt. ‹Was passiert Ihrer Meinung nach, wenn sich die Zeiten ändern, Polizeimeister Hildesund?›
‹Wenn die Briten weg sind, ist es auch mit den Damen in Uniform vorbei, das kann ich Ihnen versprechen. Frauen bei der Polizei …›, er sah aus, als habe er etwas Fauliges im Mund. ‹Das mag funktionieren, solange die Männer in Kriegsgefangenschaft sind. Aber wenn sie erst wieder zurück sind, wenn wieder Ruhe und Ordnung herrscht und alles beim Alten ist, dann wird es in allerlei Haushalten ein gewaltiges Donnerwetter geben.› Er setzte eine selbstzufriedene Miene auf. ‹Doch bilden Sie sich ruhig für eine Weile ein, hier auf Verbrecherjagd gehen zu können. Bald ziehen wir andere Saiten auf. Dann heisst es: zurück in Ihren Wirkungskreis, Beste, ins traute Heim zu Kindern und Kochtöpfen. Und lassen Sie uns hoffen, dass Ihnen Ihre Anmut bis dahin nicht restlos verloren gegangen ist.›» (S. 10 f.)

Nein, Frauen sind auf deutschen Polizeiposten nicht willkommen. Auch wenn sie 1.82 Meter gross sind wie Ida Rabe. Zusammen mit einer Kollegin bezieht sie im Keller ein Büro, das jeder Beschreibung spottet. Nicht einmal Schreibpapier stellen ihr die Kollegen zur Verfügung. Aber Ida lässt sich nicht abschieben. Sie wird hellhörig, als sie gleich mehrmals in Protokolleinträgen über beraubte Frauen in den Vierlanden auf Bemerkungen darüber stösst, dass die Frauen verstört wirkten. Die Vierlande, das ist ein Gebiet in der Elbmarsch, das bekannt ist für seine Landwirtschaft. Wenn die Frauen aus Hamburg in diesem Gebiet unterwegs sind, dann sind sie auf «Hamsterfahrt»: Weil es 1947 in Hamburg viel zu wenig Nahrungsmittel gibt, müssen sich die Menschen an die strenge Rationierung der Briten halten. Im Monat gibt es neun Kilogramm Brot – zu wenig, um satt zu werden. Ins Umland von Hamburg zu reisen und Lebensmittel aufzutreiben, ist streng verboten. Warum, weiss Ida Rabe nicht. Darauf angesprochen, sagt die britische Ausbildnerin, Miss Watson, in scharfem Ton: «Wir kontrollieren, weil dieses Volk einer Kontrolle bedarf.» Das lässt die Deutschen 1947 verstummen.

Ida beschäftigt sich also mit den auffällig verstörten Frauen. Sie hat einen Verdacht und stellt auf eigene Faust Ermittlungen an. Schnell stellt sich heraus: Die Frauen sind in den Vierlanden brutal vergewaltigt worden, haben das der Polizei aber aus Angst nicht angezeigt. Die Polizei beginnt sich erst für das «Monster der Vierlande» zu interessieren, als eine Frau ermordet aufgefunden wird. Zusammen mit dem griechischstämmigen Gerichtsarzt Ares Konstantinos versucht Ida dem Monster nun auf die Spur zu kommen.

Lea Stein erzählt eine spannende Geschichte mit einer ebenso eigenwilligen wie interessanten Hauptfigur: Ida Rabe gerät immer wieder in Schwierigkeiten, weil sie sich für Frauen, Kinder und Geflüchtete zu engagieren versucht. Mich hat an der Geschichte der sozialhistorische Kontext aber mindestens genauso interessiert wie der spannende Plot des Krimis. Und zwar aus zwei Gründen. Zum einen habe ich eine Lücke in meinem historischen Bewusstsein zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland bis 1945 und der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949. Die Notlage der deutschen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg war und ist mir nicht wirklich bewusst. Zum anderen kommt im Buch sehr gut die prekäre Stellung der Frauen zum Ausdruck. Wenn ich lese, was Ida Rabe sich als Polizistin anhören muss, gerade von Kollegen, dann schüttelt es mich. Und dabei reden wir nicht vom Mittelalter, sondern von einer Zeit, die jetzt 76 Jahre her ist. Ich habe «Altes Leid» deshalb nicht nur als Krimi gelesen, sondern auch als spannende Geschichtslektion, als Lektion einer Geschichte, die mir zu wenig bewusst war.

Lea Stein: Altes Leid. Kriminalroman. Heyne, 448 Seiten, 23.50 Franken; ISBN 978-3-453-42606-1

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783453426061

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 4. Mai 2022, Matthias Zehnder

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https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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