Maturrede Gymnasium Muttenz

Publiziert am 24. Juni 2018 von Matthias Zehnder

Für einmal habe ich eine Rede nicht nur geschrieben, sondern auch selbst gehalten: Die Maturrede für 158 Maturandinnen und Maturanden am Gymnasium Muttenz, gehalten am Freitag, 22. Juni 2018 in Pratteln. Ich habe darin zu beantworten versucht, was diese Matura eigentlich ist, was diese 158 Schülerinnen und Schüler geschafft haben und warum das wichtig ist – kurz: Ich habe zu erklären versucht, was Bildung ist. Was das mit einem Berggipfel und mit Tupperwareboxen zu tun hat – hier lesen Sie es.

Sehr geehrte Frau Präsidentin des Schulrats
Liebe Mitglieder des Schulrats
Sehr geehrte Frau Rektorin
Sehr geehrte Herren Vizerektoren
Liebe Eltern
Sehr geehrte Damen und Herren

und vor allem:
Liebe Maturandinnen und Maturanden!

Jetzt habt Ihr «es» geschafft. Herzliche Gratulation. Tief durchatmen.

Ich erinnere mich gut an dieses Gefühl, endlich die Matura im Sack zu haben. Endlich frei zu sein. Endlich diesen Berggipfel Matura erklettert zu haben. Endlich oben zu sein und einen freien Blick zu haben auf das Leben, das sich unten ausbereitet, mit verheissungsvoll glitzernden Flüssen, die sich durch grüne Auen schlängeln, mit geheimnisvoll-dunklen Wäldern. Endlich frei – alles ist möglich.

Geniesst es.

Bloss. Was habt ihr denn da genau im Sack? Was ist diese Matura?

Bild: Daniel Nussbaumer

«Schweizer Gymnasiasten lernen das Falsche», titelte die NZZ am Sonntag kürzlich.[1] Die Lehrpläne seien überholt, die Inhalte nicht mehr zeitgemäss, die Schüler lernten kaum etwas fürs Leben. Und die Lehrer? Die seien reformresistent.

Wenig später gab die normale «NZZ» Entwarnung: «Allen Unkenrufen zum Trotz ist nüchtern festzuhalten: Die Schweizer Gymnasien sind gut. Eine Sanierung steht nicht an, denn was nicht krank ist, muss auch nicht geheilt werden.»[2]

Was gilt den jetzt?

In Basel streiten sich Politik und Lehrer darüber, wie gross der Prozentsatz der Schüler sein darf, die die Matur machen. Ist eine Gymnasialquote von 45 % zu viel? Oder sind die einfach klüger in Basel? Und ist es sinnvoll, wenn fast die Hälfte der Jugendlichen ans Gymnasium geht?

Das kommt drauf an, was diese Matura ist – und was sie sein soll.

Also: Was ist diese Matura? Was habt ihr denn da genau im Sack?

Matura oder Maturität kommt vom lateinischen Wort maturitas «die Reife». Wer diese Reifeprüfung besteht, der beweist, dass er oder sie reif ist für die Hochschule.

Ihr Maturandinnen und Maturanden habt das bewiesen, indem Ihr Euch über «Faust» und «Hedda Gabler» gebeugt habt, Passé simple und simple past gebüffelt und unter Differenzialgleichungen und Wahrscheinlichkeitsrechnung gelitten habt.

So mancher von Euch hat sich wohl gefragt: Wozu brauche ich all diese Französischwörter, wenn ich doch Biologie studieren will? Wann in meinem Leben muss ich wissen, dass Cosinus Alpha gleich Ankathete durch Hypothenuse ist? Und warum soll ich «Jugend ohne Gott», «Woyceck» oder «Siddharta» lesen, wenn es doch Verfilmungen davon gibt? Wozu muss ich all das wissen? – Erstens kann man das doch alles im Internet nachschlagen und zweitens gäbe es doch sicher viel anderes zu lernen, das nützlicher wäre?

Sie sind nicht die einzigen, die sich das fragen. Das fragen sich auch Politiker, Manager – und Eltern. Die Wirtschaft verlangt schon lange von der Schule, den Jugendlichen mehr Nützliches beizubringen – mehr Wirtschaftskompetenz. Statt eine weitere Fremdsprache, solle man eine Programmiersprache lernen. Statt Philosophie lieber Betriebswirtschaft. Statt Literatur lieber Powerpoint. Das sei nützlicher.

Dieser Streit ist wohl so alt wie die Schule. Um auf das Bild mit dem Gipfel zurückzukommen, auf dem Sie jetzt so erfolgreich stehen: Der Streit dreht sich darum, was in den Rucksack gehört, den sie da auf den Gipfel getragen haben.

Es gibt von Dietrich Schwanitz ein wunderbares Buch. Es heisst: «Bildung. Alles was man wissen muss.»[3] Schwanitz erzählt in dem Buch, kurz gerafft, die Geschichte Europas, die Geschichte der Literatur, der Musik, der Kunst und der Philosophie. Ein wunderbares Buch – aber ganz sicher nicht «die Bildung».

Es ging denn auch nicht lange bis der Wissenschaftsjournalist Ernst Peter Fischer auf Schwanitz antwortete und ebenfalls ein Buch publizierte: «Die andere Bildung» heisst es.[4] Fischer schreibt, Schwanitz offenbare bezüglich Naturwissenschaften eine bezeichnende Ahnungslosigkeit – bezeichnend für das Bildungsverständis hier bei uns, das unter Bildung zu viel Kultur und zu wenig Naturwissenschaften verstehe. Fischer erklärt in seinem Buch deshalb alles, was man über Chemie, Physik und Biologie wissen muss, vom Kosmos über die Evolution bis zur Gentechnik. Ebenfalls ein wunderbares Buch – aber ebenfalls ganz sicher nicht «die Bildung».

Nein, «die Bildung» lässt sich nicht so mir nichts, dir nichts zwischen zwei Buchdeckel sperren. Wenn Ihnen jemand sagt: aber das und das muss man doch wissen, dann dürfen Sie getrost mit den Schultern zucken, ganz egal, ob von Beethoven oder Einstein, vom Impressionismus oder von der Doppelhelix die Rede ist.

Sie haben jetzt zwar ächzend einen prall gefüllten Bildungsrucksack auf den Gipfel der Matura hochgeschleppt – aber ich glaube nicht, dass es so wichtig ist, was genau Sie in Ihren Bildungsrucksack gestopft haben.

Denn Bildung ist nicht bloss Wissen, sondern Verstehen.

Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen: Bildung ist das, was übrigbleibt, wenn Sie vergessen haben, was Sie gelernt haben.

Bloss: Was ist das? Was bleibt da übrig?

Und natürlich höre ich jetzt Lehrerinnen und Lehrer sagen: Aber der Subjonctiv gehört doch schon dazu. Und Vektorgeometrie. Und etwas Geologie. Und das Periodensystem. Mechanik. Wärmelehre. Optik. Und Goethe, Schiller, Bach und Mozart, Homer, Shakespeare, Kant und Molière. Und Eltern sagen: Wir haben auch Formeln und Wörter gebüffelt und es hat uns nicht geschadet. Im Gegenteil.

Gut möglich.

Fremdsprachen sind zweifellos sehr wichtig. Ob Englisch oder Französisch, Russisch oder Chinesisch ist aber wahrscheinlich Nebensache. Wichtig ist, dass Sie andere Denkweisen kennenlernen – und lernen, wie man sich eine Sprache aneignet, indem Sie lernen, wie Sprachen funktionieren.

Mir persönlich ist Literatur sehr wichtig. Ob Max Frisch oder Erich Kästner, Friedrich Nietzsche oder Kurt Tucholsky – Hauptsache, Sie lernen Texte lesen, die etwas länger und etwas anspruchsvoller sind als der Beipackzettel eines Grippemedikaments – und die einen etwas komplexeren Gedanken entwickeln als «zweimal täglich vor dem Essen».

Und dann die Mathematik. Fragen Sie mich bitte nicht nach Polynomfunktionen. Oder Differenzialquotienten. Und trotzdem. Ein paar Dinge sind da schon hängen geblieben. Vielmehr sind es nicht Dinge, sondern Vorstellungen. Die Vorstellung von Zahlen zum Beispiel. Vom Zahlenstrahl. Oder die Vorstellung von Funktionen.

Und schon sind wir wieder mitten in der Diskussion, was denn in den Bildungsrucksack gehört und was nicht.

Ich glaube: Es ist nicht so entscheidend, was genau Sie in Ihrem Bildungsrucksack auf den Berggipfel getragen haben, sondern dass Sie den Rucksack auf den Gipfel tragen. Oder getragen haben.

Ich sage deshalb: Bildung ist nicht das, was im Rucksack steckt, sondern die Fähigkeit, ihn an ein Ziel zu tragen.

Fragt sich, was Sie dazu befähigt hat, auf diesen Matura-Berg zu klettern. War es die Aussicht auf die gute Aussicht? Nackter Ehrgeiz? Neugier? Die Eltern? Und was ist mit der Schule? Sind Sie wegen der Schule da, wo Sie jetzt sind – oder trotz der Schule? Und welche Rolle hat der Bildungsrucksack dabei gespielt, wenn es nicht so wichtig ist, was genau drin steckt?

Ich glaube: Das allerwichtigste – neben dem Erreichen des Gipfels natürlich – ist, dass Sie gelernt haben, einen Rucksack zu packen. Dass Sie gelernt haben, auf einen bestimmten Termin hin Goethe, Logarithmus und Subjonctiv in den Rucksack zu stopfen. Dass Sie, mit anderen Worten, gelernt haben, zu lernen.

Ich sage deshalb: Der Bildungsweg ist die Wanderung, für die die Schule Sie lehrt, den Rucksack zu packen.

Den Rucksack packen. Was heisst das?

Es heisst, die notwendigen Dinge so in den Rucksack stecken, dass sie am Ziel noch ganz sind, dass nichts ausläuft, dass nichts am Rücken drückt. Dafür gibt es Thermosflaschen, spezielle Plastiktüten – und Tupperwareboxen.

Den Rucksack packen heisst: Sich in kurzer Zeit Stoff aneignen zu können. Ganz egal, ob es sich um die Funktionsweise der Brennstoffzelle, die Pflichtethik oder die Vererbungslehre handelt. Sich Stoff aneignen, das heisst, einen kleinen Teil der Welt zu begreifen.

Welt begreifen – wie geht das? Ein Kleinkind macht das ganz wörtlich: Es begreift die Welt, indem es sie betastet, beschnuppert und beschmeckt – mit Fingern, Mund, Nase und Ohren. Das geht natürlich mit der intellektuellen Welt nicht. Der Satz des Pythagoras hat keinen Geschmack und den kategorischen Imperativ kann man nicht betasten. Wir Erwachsenen begreifen die Welt, indem wir uns von ihr einen Begriff machen.

Ein Begriff fasst ein Stück Welt in ein abstraktes Konzept. Ein Dreieck zum Beispiel ist ein solcher Begriff. Ein Dreieck ist eine von drei Linien begrenzte Fläche. Linie und Fläche sind weitere Begriffe. Subjekt, Objekt und Prädikat sind Begriffe. Konjugieren und Deklinieren sind Begriffe.

Indem Ihr eine Sprache gelernt habt, habt Ihr Euch Begriffe angeeignet, die man grundsätzlich braucht, um eine Sprache zu lernen. Man könnte also sagen: Begriffe, das sind die intellektuellen Tupperwareboxen, die uns helfen, die Welt in unseren Rucksack zu packen.

Es ist nicht so entscheidend, was genau Ihr in die Tupperwareboxen gepackt habt. Entscheidend ist, dass Ihr jetzt über Tupperwareboxen verfügt, die ihr bepacken könnt, dass Ihr einen Rucksack für die Tupperwareboxen habt und wisst, wie man die Tupperwareboxen in den Rucksack packt, wie man sich den Rucksack auf den Rücken schnallt und ihn auf einen Berg trägt.

Deshalb spielt es auch nicht so eine Rolle, ob Ihr jetzt wirklich auf dem Gipfel seid und ins weite Land seht – oder ob das nur eine Pause am Wegrand ist, eine Wanderpause, Gelegenheit für einen Landjäger und einen Schluck Tee.

Hautpsache, Ihr habt ganz viele Tupperware-Begriffe im Rucksack. Denn diese geistigen Tupperwareboxen, die benötigt man, um die Welt zu packen.

Ich sage deshalb: Bildung ist die Fähigkeit, die Welt zu packen.

Also: Wenn wir uns fragen, was diese Matura ist – und was sie sein soll, dann haben wir jetzt die Antwort:

Die Matura, das ist ein Rucksack voller Tupperwareboxen.

Und Bildung ist die Fähigkeit, die Welt zu packen.

So. Liebe Maturandinnen und Maturanden: Ab ins Leben!

Packt sie beim Schopf, diese Welt.

Und Ihnen, meine Damen und Herren, danke ich für Ihre Aufmerksamkeit.

Basel, 24. Juni 2018, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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[1] Vgl. https://nzzas.nzz.ch/hintergrund/die-matur-ein-sanierungsfall-bildung-gymnasium-ld.1375268

[2] Vgl. https://www.nzz.ch/meinung/besser-machen-was-gut-ist-ld.1392313

[3] Vgl. Dietrich Schwanitz: Bildung. Alles, was man wissen muß. Goldmann, 704 Seiten, 20.90 Franken; ISBN 978-3-442-15147-9 erhältlich hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783442151479

[4] Vgl. Ernst Peter Fischer: Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte. Ullstein, 464 Seiten, 19.50 Franken; ISBN 978-3-548-36448-3 erhältlich hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783548364483/

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