Vinzenz Wyss: «Wir müssen als Gesellschaft die Frage beantworten, wie wir Journalismus finanzieren»

Publiziert am 18. September 2019 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview mit Vinzenz Wyss, Professor für Journalistik, über seinen persönlichen Mediengebrauch, seinen Umgang mit sozialen und anderen Medien sowie Zustand und Zukunft des Journalismus in der Schweiz. Er sagt: «Eine demokratische Gesellschaft ohne das Journalistische hätte ein Riesenproblem.» Journalismus, der professionellen Regeln folge, bleibe deshalb unverzichtbar. «Und darum müssen wir als Gesellschaft die Frage beantworten, wie wir ihn finanzieren.» Wyss sagt, dass die fusionierten Redaktionen der Tageszeitungen heute «wohl mehr leisten, in der Summe weniger kosten und publikumsorientierter geworden sind, während die journalistische Perspektivenvielfalt abgenommen hat.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Ich frühstücke selten, aber beim Nassrasieren höre ich trockene News auf Radio SRF 4.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Als Professor für Journalistik interessieren mich vor allem die medien(selbst-)kritischen Debatten und Gifteleien unter den Journalistinnen und Journalisten. Ich nutze Twitter und insbesondere Facebook aber auch, um auch mal in andere als meine Blase zu schauen. Auf Instagram lasse ich meinen Sinn für Ästhetik und Humor testen und freue mich, wenn meine Posts auch anderen gefallen.

Es passiert etwas ganz Schlimmes wie 9/11. Wie informierst Du Dich?

Da setzte ich zuerst auf Twitter, um zu checken, wer was dazu schreibt. Dann steuert Vertrauen meine Selektion und ich lande in der Regel zunächst bei SRF, für das wir ja schliesslich auch Geld ausgeben und bei dem ich mich beschweren könnte.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Vieles war einfach anders.  Eine pauschale Antwort wird der Entwicklung nicht gerecht. Aber man kann sagen, dass heute fusionierte Redaktionen wohl mehr leisten, in der Summe weniger kosten und publikumsorientierter geworden sind, während die journalistische Perspektivenvielfalt abgenommen hat.

Unterscheidet sich die Situation der Medien in der Schweiz von jener in anderen Ländern?

Die direkte Demokratie, die Mehrsprachigkeit und die Kleinräumigkeit der Schweiz erfordern die Gewährleistung eines starken medialen Service public.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Auf jeden Fall. Auch wenn die Medienhäuser gut beraten sind, wenn sie zunehmend auf das mobil empfängliche Bewegtbild setzen, das auf den sozialen Netzwerken die Menschen erreicht.

Was muss man unbedingt gelesen haben?

Als Germanist denke ich da zuerst an Literatur. Zum Beispiel die herzzerreissende Liebesgeschichte «Das Herzenhören» von Jan-Philipp Sendker. Aktuell hat mich der NZZ-Artikel von Bundeshausredaktor Fabian Schäfer stark berührt, in dem er die schöne Politgeschichte erzählt, warum Christian Levrat mit Hilfe bürgerlicher Politiker die Maturfeier seiner Tochter nicht verpasste.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ich habe mehr weggelegte als gelesene Bücher.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Früher war das die typischerweise die Zeitung. Auch mein Mediennutzungsverhalten hat sich jedoch verändert. Heute versuche ich, mich auf den sozialen Plattformen so zu organisieren, dass ich von Relevantem überrascht werde, das ich nicht gesucht habe. Das stellt neue Herausforderungen an meine Medienkompetenz.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Im Überregionalen bis im Jahr 2032, falls die Medienministerin den Verlagen nicht darüber hinaus Geschenke zur Posttaxenverbilligung macht. Im Lokalen kann ich mir auf dem Küchentisch das wöchentlich gedruckte Blatt mit Anzeigen vom Metzger schon weiterhin vorstellen.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Die Forschung zum Umgang mit «Fake News» zeigen, dass Leser das eher glauben, was sie schon mal gehört haben, auch wenn es falsch ist. Dass sie einen Artikel als wahrer, wichtiger, glaubwürdiger und vielfältiger wahrnehmen, wenn dieser im Netz von einer vertrauenswürdigen Person geteilt wird, als wenn derselbe von einer weniger vertrauenswürdigen Person gepostet wird. Und wir wissen längst, dass Menschen dazu neigen, ihre eigene Meinung bestätigen zu lassen. Dies alles spricht schon für ein Gefahrenpotenzial. Dennoch sehe ich eine Chance für einen Journalismus, dem es gelingt, seine spezifische Funktionsweise gegenüber dem Publikum erklären zu können und Vertrauen zu schaffen.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Wenn nicht gerade die Schweizer Nationalmannschaft Fussball spielt, sehe ich kaum noch fern. Radio höre ich höchstens mal im Hotel, etwa wenn gerade der «Nachtexpress» mit Ralph Wicki läuft, weil mich das «anheimelt».

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Als ehemaliger Radiojournalist habe ich eine grosse Leidenschaft für’s Hören. Die vielversprechende Welt der Podcasts wird vom Journalismus ja erst entdeckt. Ich mag es zum Beispiel, im Fitness-Studio auf Radio 1 dem Streitgespräch «Roger gegen Markus» zuzuhören, weil es mich leicht aggressiv macht. Wird der Blutdruck zu hoch, gibt es auch das «Echo».

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 53 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Klagen nützt da nichts. Auch Presseförderung nicht. Es muss den Medien gelingen, mit publikumsgerechten Angeboten da zu sein, wo sich auch dieses Publikum aufhält. Das Interesse an gesellschaftspolitischen Themen ist bei den Jungen ja da. Da führt meines Erachtens kein Weg an der starken Präsenz auf den sozialen Plattformen vorbei. Warum auch nicht mit Hilfe einer öffentlich finanzierten Medieninfrastruktur?

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Ich arbeite oft mit Computerlinguisten zusammen und weiss, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis Algorithmen auch einen automatisieren Journalismus produzieren können, der über das simple Zusammenfassen von Wahlergebnissen hinausgeht. Mir graut aber vor der Vorstellung, dass solche interpretierenden Berichte etwa zum Klimawandel genauso so einem Framing und Narrativ folgen wie die von Menschen  produzierten; allerdings undurchschaubar und reichweitenstark.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Die gute Nachricht ist ja: das Journalistische wird es immer geben. Genauso wie das Politische, das Wissenschaftliche, das Religiöse. Eine demokratische Gesellschaft ohne das Journalistische hätte ein Riesenproblem. Insofern bleibt ein Journalismus, der professionellen Regeln folgt, unverzichtbar. Und darum müssen wir als Gesellschaft die Frage beantworten, wie wir ihn finanzieren.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ich kann leider meine eigene Schrift nicht lesen. Gerne mache ich aber vor einem Vortrag oder dem Schreiben eines Artikels von Hand Skizzen oder Gliederungen als Strukturierungshilfen.

Ist Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Angesicht der Medienlogik, nach welcher  Journalismus vor allem auf Irritation und das Abweichen vom Gewohnten reagiert, sind schon nur die Tweets des amerikanischen Präsidenten ein gefundenes Fressen für die Medien. Auf der anderen Seite sollte nicht unterschätz werden, dass  seine Auslassungen offensichtlich das Ziel haben, die Glaubwürdigkeit der so genannten Mainstreammedien insgesamt zu schwächen.

Wem glaubst Du?

Meiner Mutter; aber die ist leider kürzliche verstorben.

Dein letztes Wort?

Ich sollte wieder mal ins Fitness und Podcasts hören.


Vinzenz Wyss

Vinzenz Wyss (53) forscht und lehrt an der ZHAW als Professor für Journalistik. Er beschäftigt sich mit Fragen der journalistischen Qualität und Qualitätssicherung, Medienethik und Medienkritik. Der Heimat-Solothurner hat an der Universität Zürich Germanistik, Publizistik und Soziologie studiert und 2002 promoviert. Der Journalismusforscher war Mitgründer des Vereins für Qualität im Journalismus, seit 2008 Inhaber der Firma Media Quality Assessment und von 2009 bis 2014 Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Kommunikations- und Medienwissenschaft.
https://www.zhaw.ch/de/ueber-uns/person/wysv/


Basel, 18. September 2019, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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