Valerie Wendenburg: «Ich hege den wahrscheinlich illusionären Wunsch nach einer Renaissance des Briefeschreibens»
Das 190. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit der Journalistin und Kommunikatorin Valerie Wendenburg. Als berufstätige Mutter träumt sie seit Jahren von einem entspannten Frühstück mit Zeitungslektüre. Sie sagt, während Corona habe ihre «Sehnsucht nach direktem Austausch und nach gedruckten Medien und Büchern» klar zugenommen. Valerie Wendenburg zweifelt daran, dass früher in den Medien vieles besser war und sagt: «Ich glaube, solange Journalismus objektiv und gewissenhaft betrieben wird, ist die Art der Medien und ihrer Nutzung nicht so wesentlich.» Wichtig ist ihr, dass «Jugendliche Kanäle finden und nutzen, die sie mit verlässlichen Informationen versorgen und die ihnen eine Plattform geben, Ihre Interessen und Anliegen zu adressieren.»
Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?
Als berufstätige Mutter träume ich seit Jahren von einem entspannten Frühstück mit Zeitungslektüre. Die Realität aber sieht anders aus. Nach dem Aufstehen überfliege ich in der «NZZ»-App auf meinem Handy die wichtigsten News des Tages. Erst im Laufe des Morgens komme ich schliesslich dazu, einen Blick in die «Neue Zürcher Zeitung», die «Süddeutsche Zeitung» und die Topnews von «tachles» zu werfen. Ich lese auch immer den «Correctiv»-Newsletter und am Wochenende sehr gerne samstags «Das Magazin» und sonntags das Magazin der «NZZ am Sonntag».
Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?
Facebook verwende ich seit vielen Jahren vor allem privat. Twitter hingegen nutze ich beruflich, um Informationen zu gewinnen. Instagram finde ich einen kurzweiligen Zeitvertreib, beispielsweise in der Tram, der mich im besten Fall inspiriert. Ich versuche, die Sozialen Medien gezielt zu nutzen und nicht zu viel Zeit damit zu verbringen.
Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?
Meine Sehnsucht nach direktem Austausch und nach gedruckten Medien und Büchern hat während Corona klar zugenommen. Ich habe schon immer viel Zuhause am Computer geschrieben, aber die persönlichen Begegnungen, zum Beispiel für Interviews, fielen weg. Die Tatsache, dass sich fast alle in der Familie plötzlich in irgendwelchen Teams-Sitzungen befanden, hat mich deprimiert und gleichzeitig motiviert, die private digitale Mediennutzung einzuschränken und Zeitungen, Magazine oder Bücher zu kaufen.
Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?
Das Denken in Kategorien wie «besser oder schlechter» liegt mir nicht so. Früher scheint in der persönlichen Erinnerung vieles besser gewesen zu sein und natürlich wurden Nachrichten ganz anders kommuniziert und konsumiert als heute. Ich glaube, solange Journalismus objektiv und gewissenhaft betrieben wird, ist die Art der Medien und ihrer Nutzung nicht so wesentlich.
Haben geschriebene Worte noch Zukunft?
Daran glaube ich unbedingt. Sonst könnte ich gar nicht motiviert weiterarbeiten. Persönlich hege ich den wahrscheinlich illusionären Wunsch nach einer Renaissance des Briefeschreibens. Ich habe noch Kisten voller Briefe aus früheren Zeiten, die ich immer mal wieder hervorhole.
Was soll man heute unbedingt lesen?
Bücher! Reportagen über andere Länder und Kulturen. Alles, was den eigenen Horizont erweitert.
Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?
Bücher, die mir nicht gefallen, lege ich schnell beiseite. Für sie habe ich weder die Zeit noch die ausreichende Geduld. Lieblingsbücher hingegen lese ich auch mehrmals.
Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?
Im Austausch mit meiner Familie, mit Freund:innen und Kolleg:innen. Überall dort, wo andere Menschen sind, denen ich Fragen stellen kann. Von Berufswegen her bin ich recht neugierig.
Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?
Da bin ich überfragt. Ich selbst lese Tageszeitungen gerne auf dem Handy oder Laptop, Wochenzeitungen mit längeren Hintergrundartikeln und Kommentaren hingegen ich lieber in gedruckter Form. Diese Frage werden wohl nicht allein nur die Leser:innen von morgen entscheiden, sondern auch der Werbemarkt der Zukunft.
Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?
Aus meiner Sicht stellen sie ein Risiko dar, da Meinungen heutzutage schnell gemacht sind und sich Fake News – gerade in den Sozialen Medien – sehr schnell verbreiten, ohne hinterfragt zu werden. Fake News schaden der Demokratie und auch der Medienbranche, die immer wieder mit dem Vorurteil konfrontiert wird, unwahre Informationen zu verbreiten. Positiv daran ist allein, dass der Faktencheck im Journalismus eine neue Relevanz erlangt hat.
Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?
Ich habe seit Jahren keinen Fernseher mehr. Sendungen, die mich interessieren, schaue ich auf dem Laptop. Filme auch. Ich liebe «Sternstunde Religion», «Sternstunde Philosophie» oder Literatursendungen, aber der Grossteil des Fernsehprogramms interessiert mich nur begrenzt. Radio höre ich nur im Auto oder beim Kochen, nie während ich arbeite.
Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?
Ich nutze meine knapp bemessene freie Zeit lieber mit Lesen als mit Hören. Mir gefallen Podcasts wie «Kontext» oder «52 beste Bücher» von SRF oder «Alles gesagt?» von «Die Zeit». Aber ich räume ihnen bisher zu wenig Zeit ein.
Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?
Dies ist eine grosse Herausforderungen für die Medien, die natürlich auch eine Chance sein kann. Ich erlebe die Jugendlichen in meinem beruflichen wie auch privaten Umfeld als sehr interessiert und motiviert. Es ist eine wichtige Aufgabe, junge Menschen für Nachrichten zu begeistern, wahrscheinlich auch mit neuen Formaten. Das Wichtigste ist doch, dass Jugendliche Kanäle finden und nutzen, die sie mit verlässlichen Informationen versorgen und die ihnen eine Plattform geben, Ihre Interessen und Anliegen zu adressieren.
Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?
Dass reine News, Sportergebnisse, Charts oder die Lottozahlen auch von Robotern geschrieben werden können, ist natürlich denkbar. Aber der Journalismus lebt ja von Hintergrundberichten, der Einordnung des Weltgeschehens und dem Nachfragen. Davon, den Dingen auf den Grund zu gehen. Ich bin fest davon überzeugt, dass Journalismus ohne die Menschen dahinter nicht funktioniert.
Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?
Ich sehe die Digitalisierung eher als Chance. Es gibt so viele spannende neue Formate und Wege, Informationen zu vermitteln. Das Bewusstsein dafür, dass seriöser Journalismus etwas wert ist und kostet muss allerdings wieder geschärft werden.
Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?
Ich denke langfristig schon, gerade im Hinblick auf die Medienvielfalt. In den letzten Jahren sind besonders kleine Verlage stark unter Druck geraten. Darunter leidet auch die Ausbildung von Nachwuchsjournalist*innen – eine Grundvoraussetzung für künftigen Qualitätsjournalismus. Die Stiftung für Gesellschaft, Kultur und Presse Schweiz begegnet dieser Herausforderung mit Spendeneinnahmen.
Schreibst Du manchmal noch von Hand?
Sehr oft sogar. Ich mache mir handschriftliche Notizen, habe immer Block und Stift dabei, schreibe Termine in meine Agenda, verfasse Briefe, Notizen und Tagebucheinträge.
Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?
Aus meiner Sicht hat Donald Trump bereits bestehende Entwicklungen nur verschärft und für sich genutzt. Politisch würde ich sagen, dass weder Trump noch der «Trumpismus» verschwunden sind. Diese Trends («alternative Fakten») gab es vor Trump und es wird sie auch nach ihm geben. Insofern finde ich die Frage daher etwas zu plakativ auf Trump zugeschnitten. Grundsätzlich aber gilt für die Medien, das entstandene Misstrauen weiterhin mit einer gewissenhafte Berichterstattung und seriösen Arbeit zu widerlegen.
Wem glaubst Du?
Meiner Familie und meinen guten Freund:innen.
Dein letztes Wort?
Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar (Ingeborg Bachmann).
Valerie Wendenburg
Valerie Wendenburg (*1972 in Hamburg), ist seit 2006 Redaktorin der Jüdischen Medien AG und schreibt regelmässig für das Wochenmagazin «tachles». Sie gehört ferner zum Autoren-Team des Elternmagazins «Fritz & Fränzi» und verfasst Beiträge für Zeitungen wie die «Fabrikzeitung». Hauptberuflich ist sie seit August 2022 zuständig für Medien und Kommunikation beim entwicklungspolitischen Hilfswerk Terre des Hommes Schweiz. Valerie Wendenburg hat Geschichte und Germanistik in Heidelberg und Berlin studiert und lebt seit 2002 mit ihrer Familie in Bottmingen (BL).
https://valeriewendenburg.ch/
https://www.terredeshommesschweiz.ch/
Basel, 17. August 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
Bild: Ruben Hartog
Seit Ende 2018 sind über 180 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/
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