Urs Dahinden: «Die gedruckte Zeitung wird zu einem Nischenprodukt für eine kleine Elite»

Publiziert am 7. Dezember 2021 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Urs Dahinden, Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Fachhochschule Graubünden. Er sagt, wichtiger als die Frage, wie lange es noch gedruckte Tageszeitungen gebe sei «die Frage, wie lange wir noch Medien haben, welche uns mit qualitativ hochstehender Information versorgen, unabhängig von der medialen Form». Er sieht die gedruckte Zeitung zu einem Nischenprodukt für eine kleine, wohlhabende Elite werden. «Die Medienhäuser haben leider noch sehr wenig Phantasie in diese Richtung entwickelt, wie ein attraktives hybrides Medium aussehen könnte.» Die grosse Knacknuss bei den Online-Medien sei deren Finanzierung: «Die Mehrheit des Publikums erwartet nach wie vor, dass Online-Inhalte gratis sein müssen und zeigt nur eine sehr geringe Zahlungsbereitschaft.» 

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Zeitungen, und zwar aus Papier. 

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram? 

Ich nutze alle diese Social-Media-Dienste für unterschiedliche Zwecke. Sie sind aber für mich nie die primären Informationsquellen, sondern bieten manchmal interessante Ergänzungen und Zusatzinformationen. Bei der Nutzung bleibt aber oft ein schaler Nebengeschmack: War es die Zeit wert? Habe ich etwas Neues, Interessantes erfahren? 

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Ich war schon vor der Pandemie ein News-Junkie, der Medien sehr intensiv nutzte. Das hat sich noch verstärkt: Ich möchte nach wie vor rasch und umfassend informiert werden, und da sich die Lage täglich und zum Teil stündlich ändert, nutze ich Medien seit der Pandemie noch intensiver. 

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter? 

Ich halte nicht viel davon, die Vergangenheit zu verklären und in Nostalgie zu schwelgen. Es ging den Medien in der zweiten Hälft des 20. Jahrhunderts ökonomisch sicher besser, aber ich weiss nicht, ob das Publikum deshalb damals besser informiert war als heute. Jede Zeit hat ihre eigenen Herausforderungen, und die neue Vielfalt und Kreativität in der Online-Kommunikation empfinde ich als wertvolle Bereicherung gegenüber der Vergangenheit. 

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Sicher. Das geschriebene Wort hat sehr viele Vorteile gegenüber der rein mündlichen und rein visuellen Kommunikation. Es bietet Konstanz und kann zudem viel schneller genutzt werden, als eine Audio- und Videoversion des gleichen Textes.  

Was soll man heute unbedingt lesen?

Ich möchte hier keine Leseempfehlungen abgeben. Ein weltoffener und medienkompetenter Mensch kommt auch ohne meine Empfehlungen klar.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ich versuche, schlechten Bücher von vornherein auszuweichen. 

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Grundsätzlich immer aus diversen Medien, aber ich habe dafür noch keine vollständig überzeugende Quelle gefunden. Ich bin (auch ohne Mediennutzung) ein Mensch, der sich für sehr viele Dinge interessiert. Die Frage wäre bei mir eher, wo ich Dinge erfahre, von denen ich nicht wusste, dass ich sie noch nicht weiss. 

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Diese Frage ist interessant, aber wichtiger finde ich die Frage, wie lange wir noch Medien haben, welche uns mit qualitativ hochstehender Information versorgen, unabhängig von der medialen Form (Print, Audio, Video, Online). 

Aber ich möchte der Frage nach den Tageszeitungen nicht ausweichen. Für die Beantwortung hilft ein Blick in die Mediengeschichte. Die wenigsten heutzutage «alten» Medien sind vollständig ausgestorben, sondern haben durch die Einführung von «neuen» Medien ihre Funktion verändert und sich stärker spezialisiert. Ein paar Beispiele: In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war das Kino unter anderem auch ein Informationsmedium. Durch die Einführung des Fernsehens ist das Kino nicht verschwunden, sondern hat sich zu einem reinen Unterhaltungsmedium gewandelt. Auch das E-Book hat das gedruckte Buch nicht vollständig vom Markt verdrängt, sondern eher das Gegenteil ist der Fall. Das gedruckte Buch ist nach wie vor beliebter als das Nischenprodukt E-Book.

Tageszeitungen sind selbstverständlich anders als Bücher, kurzlebiger, aber auch bei den gedruckten Zeitungen bin ich überzeugt, dass die digitale Version die analoge nie ganz verdrängen wird. Allerdings wird die gedruckte Zeitung wohl zu einem Nischenprodukt für eine kleine, wohlhabende Elite werden. Denn Printmedien hat neben den bekannten Nachteilen (Kosten, Logistik, etc.) auch sehr viele Vorteile gegenüber einem Online-Medium: Es braucht kein Lesegerät und keinen Akku; Printmedien bieten durch die typografische Gestaltung einen sehr guten Überblick und können zudem viel grössere Flächenformate einsetzen, als dies auf einem Smartphone-Bildschirm möglich ist. Vielleicht werden diese neuen Print-Elite-Medien auch nicht mehr Tages- sondern eine Wochenzeitungen sein, welche die News der Woche einordnen und kommentieren. 

Die Medienhäuser haben leider noch sehr wenig Phantasie in diese Richtung entwickelt, wie ein attraktives hybrides Medium (Kombination von Print und Online) aussehen könnte. Welche Beiträge kann man problemlos auf dem Smartphone, welche eher im Print lesen? Was sind wirklich News, die rasch raus müssen? Welche Einzelfakten können warten und am Wochenende mit mehr Überblick analysiert und publiziert werden? Diese Fragen und die entsprechenden Produkten darauf werden noch zu wenig diskutiert und entwickelt. 

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Fake News stellen sicher eine Gefahr für eine Demokratie dar, wenn sie mit dem Anspruch verbreitet werden, echte News zu sein. Solche Fake News sind schlicht Betrugsversuche im Sinne von Lügen, die ein medienkompetentes Publikum mit Vorkenntnissen durchaus erkennen sollte. 

Die vielen Fake News im Zusammenhang mit Corona waren auch eine Chance, weil intensiv und öffentlich darüber diskutiert wurde, wieso man bestimmten Quellen vertrauen darf und anderen eher nicht. Ich glaube, dass durch diese medienkritische Debatte einerseits die Medienkompetenz bei der Mehrheit der Bevölkerung gesteigert wurde. Allerdings hat sich auch eine Minderheit aus der gemeinsamen öffentlichen Debatte verabschiedet und sich in selbstgewählten Echokammern und Filterblasen zurückgezogen, das ist sehr bedauerlich. 

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen? 

Ich bin ein leidenschaftlicher Leser. Radio empfinde ich als eher störend und nutze es fast nie. Lineares Fernsehen gönne ich mir, wenn ich dafür Zeit habe, undm zum Beispiel um 10 vor 10 Uhr informiert werden will. Meistens kenne ich die harten Fakten bereits aus der Online-Nutzung und erfreue mich dann im Fernsehen an den schönen Bildern und den ergänzenden Interviews. 

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Nein, denn wie gesagt bin ich ein leidenschaftlicher Leser. Podcasts sind nicht mein Ding, da ich dabei keinen schnellen Überblick habe und das Medium nicht gezielt und selektiv nutzen kann. 

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Ich schätze die Forschungsarbeiten des fög sehr, aber die Kolleginnen und Kollegen haben auch eine stark pessimistische Tendenz, die ich nicht teile. Das fög hängt die Latte des normativ Wünschbaren meist so hoch, dass dann nur eine Minderheit diesen Ansprüchen genügen kann und die Mehrheit als «News-Deprivierte» definiert und marginalisiert wird. Unabhängig von solchen wissenschaftlichen Definitionsdebatten ist für die Demokratie relevant, ob eine Mehrheit der jungen Erwachsenen über ein ausreichendes Wissen verfügt, um an den demokratischen Prozessen (Wahlen, Abstimmungen) teilnehmen zu können. Da bin ich nach wie vor zuversichtlich. 

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Ja, gewisse Teilbereiche des Journalismus können durchaus automatisiert werden, zum Beispiel in den Rubriken Wetter, Börse oder auch Sport. Das betrachte ich nicht als grosses Problem. Denn die wichtigste Leistung des Journalismus ist nicht die Transformation von simplen Daten (Wetterdaten, Sportresultate etc.) in ausformulierte Texte, wie das der Roboterjournalismus leistet, sondern die Analyse von komplexen Zusammenhängen und deren Einordnung und Interpretation für das Publikum. Diese anspruchsvolle Leistung wird nach meiner Einschätzung noch sehr lange kein Roboter erbringen können. 

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Die Digitalisierung der Medien hat sehr viel kreative Energie freigesetzt, weil die Investitionskosten für die Technik und Logistik bei einem Online-Medium praktisch Null sind. Die Digitalisierung ist aber auch eine Bedrohung, denn die Personalkosten sind bei einem Online-Medium (vereinfacht gesagt) gleich gross wie bei einem Offline-Medium. Die grosse Knacknuss bei den Online-Medien ist deren Finanzierung: Die Mehrheit des Publikums erwartet nach wie vor, dass Online-Inhalte gratis sein müssen und zeigt nur eine sehr geringe Zahlungsbereitschaft. 

Einige Nischenmedien, wie zum Beispiel das digitale Magazin «Republik» konnten dieses Problem mit einem kleinen, hochmotivierten und zahlungsbereitem Zielpublikum lösen, aber dieser Ansatz wird eine seltene Ausnahme bleiben. Online-Medien für die grosse Mehrheit der Bevölkerung müssen anders finanziert werden. Da führt wohl kein Weg vorbei an den bekannten Finanzierungsmechanismen über demokratisch legitimierte Gebühren wie beim öffentlichen Rundfunk (Beispiel SRG) oder über staatliche Medienförderung durch Stiftungen. Dabei ist der Schutz der Unabhängigkeit der Medien vor einer direkten Einflussnahme durch die Politik sehr wichtig. Bei der wissenschaftlichen Forschung kennen wir bereits einen solchen Schutzmechanismus, in dem eine staatlich alimentierte Stiftung (der schweizerische Nationalfonds SNF) zwischen Geldgeber und Geldempfänger geschaltet wird. Ein analoger Schutzmechanismus sollte meiner Meinung nach für eine staatliche Medienförderung entwickelt und angewandt werden. 

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Ja, sicher! Der Bedarf nach qualitativ hochstehenden Informationen und Einordnungsleistungen ist in einer komplexen und sich dynamisch verändernden Welt grösser als je zuvor. Dies ist die zentrale Kompetenz des professionellen Journalismus, der auch in Zukunft nicht vom Aussterben bedroht sein wird.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ja, aber nur kurze Notizen und Pendenzenlisten, die ich oft selber kaum lesen kann. 

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Ich glaube, dass es nicht Trumps Absicht war, aber er hat durch sein Verhalten eine intensive medienkritische Debatte ausgelöst und dadurch die Bedeutung von Qualitätsmedien eher gestärkt als geschwächt. Zu Trump und der Mediensituation in den USA gäbe es noch viel mehr zu sagen, aber das sprengt den Rahmen dieses Interviews. 

Wem glaubst Du?

Glauben ist ein sehr starkes Wort im Zusammenhang mit Medien. Ich nutze eine Vielzahl von Qualitätsmedien und vertrauenswürdigen Online-Quellen. Besonders erwähnen möchte ich wissenschaftliche Quellen, die zwar anspruchsvoll im Zugang und in der Nutzung sind, aber eine hohe Glaubwürdigkeit aufweisen. Aus all diesen Puzzleteilen versuche ich mir ein Bild der Lage zu machen. 

Dein letztes Wort?

Die Zukunft der Medien ist ungewiss, aber es gibt keinen Anlass zu Pessimismus, denn die Zukunft kann von uns allen aktiv gestaltet werden. 


Urs Dahinden
Urs Dahinden arbeitet als Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Fachhochschule Graubünden und leitet dort den Forschungsbereich «Big Data and Analytics».  Zu seinen Lehr- und Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem Neue Informations- und Kommunikationstechnologien. In einem aktuellen SNF-Forschungsprojekt untersucht er (zusammen mit anderen Kolleginnen und Kollegen an der FH Graubünden) die digitale Transformation der Lokalkommunikation.
https://www.fhgr.ch/personen/person/dahinden-urs/


Basel, 8. Dezember 2021, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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