Timo Posselt: «Nur mit Kulturkampf erreicht man die Jungen nicht.»
Das 197. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Timo Posselt, Hospitant bei «Zeit Online» in Berlin. Er sagt, wenn er durch die Schweizerische Mediendatenbank streife, finde er «immer wieder Perlen, von denen man gerne heute mehr in den Zeitungen lesen möchte. Vielleicht war die Arbeit an der Form und am Stil früher intensiver und konzentrierter.» Sicher seien früher die ideologischen Positionen beweglicher gewesen. «Frontal gegen den Zeitgeist kämpfte damals wohl niemand an.» Dass mehr als die Hälfte der jungen Menschen als News-Deprivierte gelten, sieht er als Chance für die Medien: «Da liegt die Zukunft.» Wenn der Journalismus beweglich bleibe und sich auf seine Kernkompetenzen besinne, könne er «sich weiterentwickeln und bisher Unerreichte für sich gewinnen».
Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?
Manchmal hab ich sie schon abends davor heruntergeladen und angelesen: Aber die digitalen Ausgaben der «Süddeutsche Zeitung» und der «NZZ» lese ich immer gerne zum Frühstück. Am Wochenende sind es die «Zeit» und ihre Schweiz-Seiten, die «NZZ am Sonntag», die «WoZ» und die «Republik».
Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?
Facebook gerät bei mir immer mehr in die Versenkung. Auf Twitter lese ich eigentlich alles mit – von links bis rechts. Tweete selbst jedoch nur eigene Artikel. Damit fühlte ich mich bis anhin am wohlsten. Auf Instagram teile ich manchmal Momente aus meinen Berufsalltag und meinem Leben. Auf TikTok spiele ich rum, was mit Abstand am meisten Spass macht.
Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?
Ich war noch an der Uni, als der Lockdown kam, und sass gefühlt zehn Stunden am Tag vorm Bildschirm. Abends in ein dickes Buch zu schauen, entlastete die Augen und das Lesen bot mir Struktur, wo ich gerade wenig vorfand. Ich abonnierte erst den «New Yorker» und dann auch «Guardian Weekly». Beide wöchentlich im Briefkasten zu haben, war damals eine grosse Freude in einer eher freudlosen Zeit. Heute lese ich kaum noch Printabos, mit Ausnahme weitsichtiger Zeitschriften mit einer schönen Haptik wie der «London Review of Books» und dem «Merkur».
Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst, – war früher alles besser oder schlechter?
Schlecht soll es ja schon gewesen sein, als ich überhaupt damit anfing, eigenständig Medien zu konsumieren. Als Spätgeborener staunt man natürlich über die Gewinne, Honorare und Verhältnisse der 90er-Jahre und der frühen 2000er. Streift man wild durch die Schweizerische Mediendatenbank, findet man wirklich immer wieder Perlen, von denen man gerne heute mehr in den Zeitungen lesen möchte. Vielleicht war die Arbeit an der Form und am Stil früher intensiver und konzentrierter. Vom Schiff der Gegenwart aus waren die ideologischen Positionen auf jeden Fall beweglicher. Frontal gegen den Zeitgeist kämpfte damals wohl niemand an.
Haben geschriebene Worte noch Zukunft?
Gerade recherchiere ich eine Geschichte zum Einfluss von TikTok auf den Buchmarkt. Kurz gesagt: Er ist phänomenal und wird in Europa noch zunehmen. Dass nun ausgerechnet das schnellste aller sozialen Netzwerke junge Menschen in den USA und Europa zum Buch bringt, straft jeden Kulturpessimismus lügen.
Was soll man heute unbedingt lesen?
Die junge, brillante Reporterin Marlene Knobloch von der Süddeutschen Zeitung. Die Interviews des verstorbenen André Müller, die es noch in Büchern nachzulesen gibt. Und alles von Roberto Bolaño, weil niemand den Blick in den Abgrund, der unsere Welt ist, eindringlicher schildern kann.
Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?
Weglegen. Das Leben ist zu kurz dafür und es gibt viel zu viel, was ich noch lesen will.
Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?
In den epischen Sachbuchrezensionen der «New York Review of Books» und der «London Review of Books» oder den Essays des «Merkur» und der «Foreign Affairs». Wenn man eine halbe Stunde braucht, um den letzten Twitter-Sturm nachzuvollziehen, sind diese vier Medien zeitlose Inseln für Neugierige. Kaufen kann man sich damit nichts und fast 17 Franken am Kiosk sind schon eine Zumutung.
Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?
Zwei Monate, bis das Papier ausgeht. Nein, im Ernst, ich hoffe noch ein bisschen länger. Aber gerne auch als gebündelte Wochenausgaben.
Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?
Eine grosse Gefahr weniger für die Medien als für die Demokratie. Waren sie immer schon und sind sie auch noch heute. Darum werden sie wohl auch noch genauso gezielt eingesetzt.
Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?
Radio lang und viel. Fernsehen sehr selten und danach meistens mit leisem Bedauern, kein Buch gelesen zu haben.
Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?
Oft und gerne beim Sport. Den Geschichtspodcast «Cliocast» kennen vielleicht noch nicht alle. Der Historiker Jan-Friedrich Missfelder und andere sprechen darin mit Historikerinnen und Historikern über ihre neuen Bücher. Klug, konzentriert, unprätentiös.
Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?
Eine Chance. Da liegt die Zukunft. Nur mit Kulturkampf erreicht man sie nicht.
Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?
Ich glaube nicht jenen, wofür die Menschen bereit sind zu zahlen.
Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?
Weder noch. Neue Ausspielformate stellen eigene Ansprüche. Wenn der Journalismus beweglich bleibt und sich auf seine Kernkompetenzen besinnt, kann er sich weiterentwickeln und bisher Unerreichte für sich gewinnen.
Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?
Ich habe ein Jahr lang in Norwegen gelebt. Dort gibt es zwei Schriftsprachen, eine Bevölkerung in etwa Grösse der Deutschschweiz, einen grandiosen öffentlich-rechtlichen Rundfunk und eine unheimliche Vielfalt an Lokalmedien. Die Zahlungsbereitschaft ist gross und fast nirgendwo sonst soll mehr gelesen werden. Zumindest in Norwegen ist klar: Der Markt allein hat das nicht geschafft.
Schreibst Du manchmal noch von Hand?
Nur noch Notizen und Briefe. Diese dafür dann umso liebevoller.
Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?
Kurzfristig verkaufsfördernd, langfristig bedrohlich.
Wem glaubst Du?
Meinem Bauchgefühl, nachdem ich im besten Fall zwei Menschen angerufen habe, die sich auskennen und alles gelesen habe, was ich dazu finden konnte.
Dein letztes Wort?
Rosebud.
Timo Posselt
Timo Posselt, geboren 1991 in St. Gallen, hat nach Legasthenie-Verdacht in der Primarschule erst eine kaufmännische Berufslehre absolviert, dann über den zweiten Bildungsweg die Matura nachgeholt und schliesslich an den Universitäten Basel und Bergen Geschichte, Gender Studies und Deutsch studiert. Er schreibt seit zehn Jahren regelmässig als freier Journalist über Politik, Gesellschaft und Kultur. Seine Texte erschienen in der Schweiz unter Anderem in der «NZZ am Sonntag», der «Republik» und der Wochenzeitung «WoZ». In Deutschland in der «Süddeutschen Zeitung» und der «Zeit». Er schreibt eine regelmässige Kolumne im Kulturmagazin «041». Zurzeit ist er Hospitant bei «Zeit Online» in Berlin.
https://www.zeit.de/index
Basel, 5. Oktober 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
Bild: Fabienne Bieri
Seit Ende 2018 sind über 190 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/
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