Timo Grossenbacher: «Die Automatisierung von Journalismus sollte sich primär an den Nutzerinnen und Nutzern orientieren»

Publiziert am 1. September 2021 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Timo Grossenbacher, Projektleiter für automatisierten Journalismus bei Tamedia. Er sagt, dass sich die allermeisten journalistischen Arbeiten nicht automatisieren lassen, «dafür ist und bleibt künstliche Intelligenz auf absehbare Zeit zu dumm.» Grosses Potenzial sieht Grossenbacher aber für eine «Teil-Automatisierung, wo also ein ‹Roboter› einen Text vorschraffiert und dieser dann von Menschen zu Ende geschliffen wird.». Oder ganz einfach eine konsequent gehandhabte Digitalisierung. «Dieses Potenzial wird noch viel zu wenig genutzt.» Es sei unglaublich, wie viel «Zeit, Geld und Nerven» heute noch für ineffiziente Arbeitsabläufe draufgingen. Die Realität sei oft banal: «Die meisten Redaktorinnen und Redaktoren wissen nicht einmal, wie man in Excel eine Summe bildet.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

SRF 4 News und der digitale «Tagi». Am Wochenende auch mal etwas SRF 3 und Radio 32, aber eher wegen der teils ziemlich trashigen Popmusik, die dort läuft.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Weil ich alle drei Apps – zuletzt Twitter – von meinem Handy verbannt habe, nutze ich diese Dienste nur noch sehr sporadisch und höchstens ab und zu zur Prokrastination (nichts gegen Twitter: ohne diese geniale Plattform wäre ich beruflich wohl nicht da, wo ich heute bin). Heute habe ich gerade erstaunt festgestellt, dass ich während meiner dreiwöchigen Sommerferien kein einziges Mal auf Twitter war.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Nicht gross. Ich habe in dieser Zeit aber zur Tamedia gewechselt, also hat sich mein Medienkonsum automatisch etwas angepasst. Beruflich hat sich natürlich auch viel geändert, das meiste davon begrüsse ich. Ausser dass viele in Videocalls immer noch nicht kapiert haben, dass sie wenigstens die Notifications stummschalten sollten, wenn sie sich trotz bald zwei Jahren Pandemie partout kein Headset anschaffen wollen.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Da ich noch relativ jung bin und auch erst seit etwa sieben Jahren im Medienbusiness, will ich mir hier keine Antwort anmassen. Aber es war wohl schon alles besser…

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Selbstverständlich.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Schwierige Frage. Ich finde Bücher-Vorschläge, wie sie zu hunderten in meinem E-Mail-Posteingang und auf Twitter und sonst wo zu finden sind, wenig hilfreich. Erstens kann ich kaum glauben, dass gewisse Leute neben Job, Familie und Freizeit/Sport wirklich so viel lesen können und wollen, zweitens stressen sie mich immer etwas. Ich habe ja selber noch zig ungelesene Bücher im Regal. Und überhaupt: Den Kram, den ich lese, interessiert hier sowieso niemanden. Kostprobe? Aktuell sind es «How Computers Really Work», «Foundations of Information Security» und «Smart Home mit OpenHAB2». qed.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ich habe die eigentlich gute Angewohnheit, angefangene Dinge zu Ende zu bringen. Leider auch bei schlechten Büchern.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Im Gespräch mit Freunden und Fremden. Bier und Wein hilft.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Das musst Du meinen obersten Boss fragen.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Weder noch. Sie sind aus meiner Sicht überwertet und auch medial etwas aufgebauscht, zumindest in der Schweiz und in den meisten anderen demokratischen Staaten. Aber: Ich habe grossen Respekt vor Kolleginnen und Kollegen, die nicht jede Aussage eines Politikers oder einer Mediensprecherin unhinterfragt wiedergeben – sondern auch mal richtig hart den Finger in die Wunde legen. Das ist die beste Waffe gegen «Fake News», alles andere ist Theorie.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Wenn irgendwann überhaupt noch etwas linear konsumiert wird, dann wohl Radio. Ich rede natürlich nur von mir.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Siehe meine Antwort zu den Büchern. Ich höre sporadisch einzelne Folgen von gewissen Tech-Podcasts, die hier wohl auch niemanden interessieren, bin Fan von SRF News Plus (aber im linearen Radio…), und ab und zu höre ich mir auch eine gut erzählte Docufiction an (z.B. «Es geschah am…» von SRF).

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Die Frage ist: Was passiert, wenn sie 30 werden? Ziel muss sein, diese News-Deprivierten irgendwann wieder «reinzuziehen», mit welchen Mitteln auch immer. Ich glaube aber, das haben die meisten Medien hierzulande langsam aber sicher gemerkt. Und auch die Fehlannahme, die «Jungen» seien nur noch mit möglichst kurzem Audio und Video zu erreichen, wird irgendwann mal aus den Köpfen verschwunden sein.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Hier muss ich ausholen, es ist ja mein tägliches Brot. Journalismus hat sehr viele Spielarten, vom Sportticker über das Interview zur multimedial erzählten Recherche. Gewisse Aspekte lassen sich ganz oder zum Teil automatisieren, das meiste aber auch nicht. Repeat after me: Das allermeiste nicht. Dafür ist und bleibt künstliche Intelligenz auf absehbare Zeit zu dumm, und es liesse sich aus zig Gründen auch nicht rechtfertigen, wenn sie es besser könnte.

Ich sehe Potenzial in der Automatisierung von Berichterstattung, die sich nur auf blanke Resultate bezieht – zum Beispiel Sport oder Abstimmungen. Erst das ermöglicht Personalisierung, und meine Erfahrung zeigt, dass Personalisierung und Interaktivität bei den Mediennutzenden sehr gut ankommt. Die meisten interessieren sich nun mal zuallererst für die eigene Gemeinde und die eigene Altersklasse und was weiss ich.

Kritik, die automatisierten Journalismus dafür verurteilt, emotions- und seelenlos zu sein, greift zu kurz. Ich möchte mal eine Redaktion sehen, die für 200 Fussballmatches an einem Wochenende Emotionen einfängt. Das ist auch gar nicht der Zweck dieser Art von Journalismus. Und viele mögen es wohl nicht wahrhaben, aber: Zuweilen interessieren sich unsere Leserinnen und Leser wirklich nur für die langweiligen Fakten und Zahlen, und nicht für die Stimmung bei den Abstimmungsgewinnern und was es zum Apéro gibt.

Bei anderen Feldern kann Teil-Automatisierung, wo also ein «Roboter» einen Text vorschraffiert und dieser dann von Menschen zu Ende geschliffen wird, eine grosse Hilfe und Entlastung sein. Oder einfach eine konsequent durchgesetzte Digitalisierung. Dieses Potenzial wird noch viel zu wenig genutzt. Es ist unglaublich, wie viel Zeit, Geld und Nerven heute noch für ineffiziente Arbeitsabläufe drauf gehen (natürlich nicht nur in den Medien).

Letzlich sollte es aber eine redaktionelle Entscheidung sein, welche Teile des Journalismus man automatisiert, und in welchem Umfang. Sie sollte sich primär an den Nutzerinnen und Nutzern orientieren. Und man darf nicht vergessen: Automatische Systeme sind kein Selbstläufer. Man muss sie designen, implementieren, warten, flicken und verbessern. Das eröffnet ganz neue journalistische Berufsfelder und ist nicht etwas, dass wir vollständig der «IT» überlassen sollten.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Sie führt hoffentlich zum Tod von lächerlich ineffizienten und frustrierenden Arbeitsabläufen. Aber da sind wir als Menschen natürlich auch gefragt. Ich finde allgemein, zu viele in der Branche lassen die digitalen Neuerungen unreflektiert und zu passiv über sich hinweg prasseln. Ich wünschte mir, wir alle würden aktiver mitbestimmen, was Digitalisierung für den Journalismus bedeutet, und das Feld nicht den Informatikerinnen, Digital-Change-Blah-Blah-Managern und Grosskonzernen aus dem Silicon Valley überlassen. Die Realität ist aktuell leider die: Die meisten Redaktorinnen und Redaktoren wissen nicht einmal, wie man in Excel eine Summe bildet oder wie man bei Google nach dem Ursprung eines Bildes sucht. Das muss sich ändern.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Selbstverständlich, je länger je mehr.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Persönliche Briefe, Grusskarten und Einkaufszettel. Vorhersehbar!

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Ich glaube, in der Bilanz hat er – zumindest in den USA – mehr Schaden angerichtet als sonst etwas. Dass ein paar grosse Medienhäuser profitieren konnten, ist ja schön, aber das Klima für Journalistinnen und Journalisten ist insgesamt wohl schlechter geworden.

Wem glaubst Du?

Ich versuche, zu wissen, nicht zu glauben. Nein ehrlich: Ich habe keine gescheite Antwort auf diese Frage. Vielleicht sollte ich mal ein A4-Blatt dazu vollschreiben. Von Hand.

Dein letztes Wort?

Kommt alle ans Investigativ.ch-Sommerfest am 11. September in Biel/Bienne!


Timo Grossenbacher
Timo Grossenbacher (1987) ist Projektleiter für automatisierten Journalismus bei Tamedia. Zuvor war er während rund fünf Jahren als Datenjournalist für SRF tätig. Grossenbacher hat an der Universität Zürich Geographie und Informatik studiert und eine Weiterbildung (DAS) in Data Science absolviert. Nebenbei doziert Grossenbacher an verschiedenen Hoch- und Berufsschulen zu den Themen Datenjournalismus und Datenvisualisierung. Er ist ausserdem im Vorstand von investigativ.ch, dem Schweizer Recherche-Netzwerk, und Mit-Organisator von HacksHackers Zürich.
https://timogrossenbacher.ch | https://twitter.com/grssnbchr


Basel, 1. September 2021, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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