Tim Krohn: «Je weniger wir nach News süchtig sind, desto nützlicher sind wir für die Gesellschaft»

Publiziert am 29. Juli 2020 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – im Sommer mit Schweizer SchriftstellerInnen. Heute: Tim Krohn. Er sagt, Lesen habe Zukunft. «Die Leute lesen ja nach wie vor wie wild, nur eben zerstückelter.» Literatur sei dabei die moderne Form von Religion, ein Ort der Kontemplation. «Das Buch auf dem Kopfkissen vor dem Einschlafen ist nach Mutters Einschlafgeschichte das Nächstbeste und wird es immer bleiben.» Medien, insbesondere News gegenüber, ist er kritisch. Alle News seien gefärbt bis tendenziös. «Und wenn du zu denen gehörst, über die immer mal wieder geschrieben wird, weisst du auch, wie schlecht recherchiert die meisten – auch die vermeintlich seriösen – Medien sind.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Wir haben vier kleine Kinder zwischen sieben Jahren und sieben Monaten, da läuft höchstens mal eine Spieluhr oder ein Kinderradio.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Facebook ist eines meiner Werbemittel und eine schöne Art, im Random-Modus die Welt zu erfahren.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Wir haben den Republik-Newsletter sehr genossen, für mehr hat die Zeit nicht gereicht. Wir hatten alle vier Kinder rund um die Uhr zuhause, und die Grosseltern, die Tür an Tür wohnen, durften sie nicht mehr hüten.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Kommt darauf an, wieviel früher. Es gab mal eine Zeit, in der war die «NZZ» Weltklasse, die «Weltwoche» ein respektables Organ und der «Tages-Anzeiger» niveauvoll, erschöpfend und immer wieder überraschend. Die «WOZ» hat mich schon immer wegen ihrer vielen Sprachfehler genervt. Jetzt gibt es die «Republik», die wir nach einem Jahr auch wieder aufgegeben haben, ganz einfach, weil uns die Zeit fehlt, sie zu lesen. Der Stil dort ist gut, die Themen sind – nicht unbedingt im Feuilleton, aber sonst – brisant und gut gewählt. Aber das Versprechen, nicht mehr als drei Artikel pro Tag zu veröffentlichen, wurde allzu schnell gebrochen, und die einzelnen Texte sprengen oft jedes vernünftige Format.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Oh ja. Die Leute lesen ja nach wie vor wie wild, nur eben zerstückelter. Und Literatur ist die moderne Form von Religion, ein Ort der Kontemplation. Das Buch auf dem Kopfkissen vor dem Einschlafen ist nach Mutters Einschlafgeschichte das Nächstbeste und wird es immer bleiben.

Was muss man unbedingt gelesen haben?

Mich haben drei Bücher mehr als alles andere geprägt: Ottfried Preusslers «Krabat», Günter Grass’ «Blechtrommel» und Virginia Woolfs «Orlando».

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ach, in meinem dicht gedrängten Alltag muss ich sogar gute Bücher vor dem Ende weglegen. Dafür lese ich andere, oft grottenschlechte, zwanzig-, dreissigmal, weil die Kinder sie immer wieder hören wollen.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Von meinem Sohn, der mit seinen sieben Jahren voll im Entdecker- und Erfinderfieber ist. Und über Facebook.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Nicht mehr lange.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Eine Gefahr, solange man auf News angewiesen ist. Irgendwann löst man sich davon, konzentriert sich auf die unmittelbare Umgebung und entdeckt, mit wieviel mehr Kraft man in den Alltag startet, wenn man sich nicht schon zwanzig Minuten lang mit einer Zeitung die Laune hat verderben lassen. Denn machen wir uns nichts vor: Alle News sind gefärbt, sind in irgendwelcher Richtung tendentiös. Und wenn du zu denen gehörst, über die immer mal wieder geschrieben wird, weisst du auch, wie schlecht recherchiert und fehlergebeutelt die meisten – auch die vermeintlich seriösen – Medien sind.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Keine Zeit.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Keine Zeit.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Ich verstehe den Begriff schon gar nicht. News konsumieren doch wohl gerade die Jüngeren, fragt sich nur, über welches Medium. Tatsächlich glaube ich, je weniger wir nach News süchtig sind, desto nützlicher sind wir für die Gesellschaft. Es gibt die Nörgler, und es gibt die, die anpacken. Die Nörgler brauchen die Medien als Rechtfertigung für ihre Untätigkeit. Die Tätigen brauchen nur Informationen darüber, wo es Not tut anzupacken. Dazu ist keine Datenschwemme nötig.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Sicherlich. Aber irgendwann werden ihn auch nur noch Roboter lesen. Es gab mal ein Experiment, ob man Säuglinge ohne Zuneigung grossziehen kann. Ging daneben. Auch Erwachsene brauchen den Geruch des Menschen, die Wärme, den Schweiss, die Spuren von Anstrengung, Engagement und Verausgabung. Das nennt man Nestwärme.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Führte der digitale Druck zum Tod der Literatur? Das war vor einigen Jahrzehnten die Frage. Tatsächlich ist die Menge an Gedrucktem explodiert, der Datenfluss wurde demokratisiert. Die Vielfalt wurde gefördert. Nur hat leider gleichzeitig der Kapitalismus dazu geführt, dass nur ein Bruchteil dieser Ware den Weg zu den KonsumentInnen fand.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Ja. Wir Kunstschaffenden siechen ja auch ohne nennenswertes Geld dahin und schaffen uns doch nicht ab. Das könnt ihr auch.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Habe ich nie. Ich kann meine Handschrift kaum lesen.

Ist Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Wer?

Wem glaubst Du?

Dem Zufall. Und manchmal der Eingebung.

Dein letztes Wort?

Geht in Babygeschrei unter.


Tim Krohn
Er sagt über sich selbst: Ich habe alles Mögliche ohne Abschluss studiert, mir sieben Jahre als Leser der Blindenhörbücherei ein enormes Halbwissen angeeignet, war auch wieder sieben Jahre Professor am Literaturinstitut Biel und bin nun seit sieben Jahren Vater. Habe Bücher geschrieben wie Quatemberkinder, Vrenelis Gärtli, die Romantrilogie Menschliche Regungen und Krimis unter dem Pseudonym Gian Maria Calonder. Dazu führen wir eine Pension für kreativen Rückzug, die Chasa Parli www.chasa-parli.ch

Weil mir die Zeit fehlt, meine Homepage zu warten, hier die Verlagsseite:
https://kampaverlag.ch/tim-krohn/

Engadiner Hochjagd

Massimo Capaul ist 33 Jahre alt und Polizist im Engadin, auf dem Posten in Samedan. Capaul ist neu. Neu im Engadin und neu bei der Polizei. Das heisst: Eigentlich arbeitet er schon im dritten Krimi im Engadin, aber im letzten Roman wurde er kurz nach seiner Anstellung suspendiert. Auf Zusehen hin und mit Probezeit stellt Polizeioffizier Gisler Capaul wieder ein. Er soll bei einem Felssturz helfen. Seine Anweisung: «Sie werden dabei nicht denken, Capaul, nur zupacken. Das Denken überlassen Sie Ihren erfahrenen Kollegen!» Natürlich hält sich Capaul nicht daran und gerät in eine alte Oberengadiner Geschichte. Vier Männer sind darin verwickelt. Drei von ihnen sind bald tot. Ausgangspunkt ist eine Engadiner Hochjagd, also eine Jagd auf Rehe und Hirsche. Doch die Jäger sind bald selbst die Gejagten.

Gian Maria Calonder: Engadiner Hochjagd. Ein Mord für Massimo Capaul. Kampa Verlag, 192 Seiten, 20.90 Franken; ISBN 978-3-311-12015-5

Ausführlichere Angaben zum Buch finden Sie hier und hier finden Sie meinen Buchtipp als Video auf Youtube.


Basel, 29. Juli 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

PS: Nicht vergessen – Wochenkommentar abonnieren. Kostet nichts, bringt jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen Kommentar, den aktuellen «Medienmenschen» einen Sachbuchtipp und einen Video-Buchtipp auf einen Roman. Einfach hier klicken. Videos dazu gibt es auf meinem Youtube-Kanal.

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