Tanja Messerli: «Die Mischung von Wort und Bild wird sich schnell weiterentwickeln»

Publiziert am 6. Oktober 2021 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Tanja Messerli, Geschäftsführerin des Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verbandes SBVV. Sie sagt, die grösste Veränderung der Medienwelt sei mit der Internet-Flatrate gekommen, «da wurden News zu Feeds, die von irgendwoher angeschwemmt wurden». Sie sagt, es sei ein Privileg, «wenn wir mit einem Abo und einer Mitgliedschaft für unabhängige Information bezahlen können und nicht mit dem Leben, wie in viel zu vielen Regionen dieser Welt.» Die Schweiz brauche «kleine, engagierte Zellen für unabhängigen Journalismus wie auch für Indie-Verlage und für Distributoren von Information, die wir nicht mit Daten bezahlen müssen.» Das sei aufwändig, nicht immer lustig, schon gar nicht gratis. «Aber es ist sinnstiftend, gibt zu denken und zu tun.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Mir fiel als erstes Uriella ein und gleich darauf Marshall McLuhan – was meine Aufmerksamkeit auf die hochinteressante Begriffsgeschichte des Wortes «Medium» lenkte. Ich frühstücke zwar nicht, aber ich nehme normalerweise noch im Bett das Buch, das ich abends gelesen habe, morgens wieder zur Hand. Danach hole ich das Handy von der Ladestation und checke die Familienchats und die «Republik», die ich dann auf dem Arbeitsweg lese.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram? 

Das sind zweckgebundene Plattformen für mich. Facebook privat für den Austausch mit Gleichgesinnten, oft geografisch weit Entfernten und um mich selbst als Datensammlung und -spiegel zu erfahren. Insta ebenso, doch visueller und mit Storys. Twitter nutze ich passiv als Aggregator für meine Themen und als Newsfeed. Selber zu twittern ist für mich momentan zu anspruchsvoll.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Ich lese ungefähr einen Drittel mehr auf dem Notebook als vor einem Jahr.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter? 

Ich nehme als «früher» einmal die Achtziger des letzten Jahrhunderts in der Schweiz an.

Das war besser: Die Recherche, die Anzahl hochspezialisierter Journalisten, die Fachredaktionen, die Lesekompetenz und Ausgabebereitschaft beim Publikum.

Das war schlechter: Die Macht und Deutungshoheit einzelner Medienhäuser oder einzelner Stimmen, der Frauenanteil unter Schreibenden, unter Genannten und Befragten und die Möglichkeit für die Leserschaft, Themen zu vertiefen und selber zu recherchieren.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Natürlich. Gingen sie verloren, würden sie wieder erfunden, als Rauchzeichen, Keilschrift. Hieroglyphen. Die Mischung von Wort und Bild wird sich schnell weiterentwickeln. Darin sehe ich auch eine Bewegung, die wir brauchen, um uns in der multiplen Welt zu verständigen.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Diese Frage ist am besten der Buchhändlerin oder dem Buchhändler seines Vertrauens zu stellen. Ich selber bin gerade am vierten der fünf für den Schweizer Buchpreis nominierten Bücher und kann jedes nur ans Herz legen.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ich lege sie gut und gern weg. Ich habe meine Tätigkeit im Buchhandel zwar wehmütig verlassen, aber darauf, dass ich das nun endlich darf, habe ich mich sehr gefreut.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Im Dialog mit anderen Menschen, aus Büchern und aus der Presse.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Ich weiss es nicht.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Das ist von so vielen Faktoren abhängig, meine Antwort würde den Rahmen sprengen. Für Facebook ist es anders als für «The New York Times», für SRF anders als für den Diogenes Verlag.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen? 

Meine letzte feste Gewohnheit diesbezüglich war die Hitparade in den Achtzigern, «Major Tom» und so. 

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Oh ja! Lieblings sind schon wieder Bücher: 52 beste beispielsweise. Diesen Sommer habe ich unzählige Male das geistreiche Gespräch mit Judith Hermann, Luzia Stettlers letztem Gast, gehört, ich heulte fast und kam mir alt und sentimental vor. Und «eins.sieben.drei»  ist für mich auch ein ganz einnehmender Literaturpodcast, der sprüht vor Engagement für das, was eben nicht sonst schon überall gepriesen wird. 

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Das ist die Altersklasse, die ich über 16 Jahre als Berufsfachschullehrerin unterrichtet und beobachtet habe. Die grösste Veränderung kam mit der Internet-Flatrate, da wurden News zu Feeds, die von irgendwoher angeschwemmt wurden. Gesellschaftlich bedeutet es das gleiche, wie in anderen Bereichen auch: Dass wir divers denken und nicht mehr unsere eigene Vorstellung voraussetzen sollten. So, wie Sprache und Nachrichtenkonsum heute vermittelt werden, funktioniert das nicht mehr. Jugendliche suchen sich andere Kanäle – ihre eigenen News, das, was für sie relevant und verständlich ist. Und dann halten sie implizites Wissen rasch für explizites. Aber sind wir Medienerfahrenen da wirklich anders? 

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Nein. Mir fällt aber auch keine einzige Definition zum Thema Journalismus ein, die ich mit Herrn Supino teile. Folgerichtig, dass wir auch in der Prognose nicht übereinstimmen. 

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Zum Tod bestimmt nicht. Mit den Medien ist es wir mit dem geschriebenen Wort: Auf das Verschwinden folgt immer die Neuentdeckung. Ich glaube auch nicht, dass der Journalismus befreit werden muss, sondern dass er befreit. Und dass die Freiheit ihren Preis hat. Und dass es ein Privileg ist, wenn wir mit einem Abo und einer Mitgliedschaft für unabhängige Information bezahlen können und nicht mit dem Leben, wie in viel zu vielen Regionen dieser Welt.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Auf jeden Fall. Wir brauchen kleine, engagierte Zellen für unabhängigen Journalismus wie auch für Indie-Verlage und für Distributoren von Information, die wir nicht mit Daten bezahlen müssen. Das ist aufwändig, nicht immer lustig, schon gar nicht gratis. Aber es ist sinnstiftend, gibt zu denken und zu tun. Das war ja bei Börne oder Kisch, die den Journalismus auch je erneuert haben, nicht anders.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Jeden Tag – unleserlicher.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Sein Auftritt auf der Weltbühne hat eine Entwicklung begünstigt, die ich für positiv halte. Ohne die Story um Cambridge Analytica wüssten viel weniger Menschen, wie viele Daten über uns gesammelt und wie sehr wir dadurch manipuliert werden. Und mit Carole Cadwalladr wurde eine Journalistin in genau dieser essentiellen Rolle sichtbar; zudem fiel die kooperative Recherche zu den «Panama Papers» auf fruchtbaren Boden. An der Kranksparung journalistischer Arbeit hat es leider nichts geändert und es ist nun an uns Konsumentinnen und Konsumenten, hier vorwärts zu machen.

Wem glaubst Du?

Ich habe so meine Kontakte.

Dein letztes Wort?

…ist eine Frage: Haben Sie heute schon ein leserfinanziertes Magazin oder ein Buch aus einem unabhängigen Verlag der Schweiz gelesen?


Tanja Messerli
Tanja Messerli machte 1988 bis 1991 eine Lehre zur Buchhändlerin und blieb dem Beruf bis 2007 in verschiedenen Funktionen treu – als Abteilungsleiterin, Berufsbildnerin, Marketingverantwortliche und Geschäftsleiterin. Parallel amtete sie ab 1993 als Chefexpertin der Prüfungen für Buchhändlerinnen und Buchhändler sowie als Fachlehrerin. Seit August 2020 ist sie Geschäftsführerin des Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verbandes SBVV.
https://www.sbvv.ch/  


Basel, 22. September 2021, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Bild: Ayse Yavas

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