Sylke Gruhnwald: «Ich mag nicht streiten mit 280 Zeichen»

Publiziert am 20. November 2019 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview mit Sylke Gruhnwald, Reporterin bei der «Republik», über ihren persönlichen Mediengebrauch, ihren Umgang mit sozialen und anderen Medien sowie Zustand und Zukunft des Journalismus in der Schweiz. Sie sagt, sie werte es als «brandgefährlich, dass ‹Fake news› fast schon zu einem eigenen Format hochgeföhnt werden». Deshalb brauche es «journalistische Profis, die unabhängig berichten, aufdecken, analysieren, einordnen, kommentieren.» Trotzdem mache es Sinn, journalistische Roboter einzusetzen, und zwar «dort wo es möglich ist, Informationen automatisch zu verarbeiten und Ergebnisse auszuspucken, wie bei Wettervorhersagen, Börsenkursen und Abstimmungsergebnissen.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Montagmorgens bis samstagmorgens lade ich die NZZ, den «Tagi» und die «Süddeutsche Zeitung» auf mein iPad, blättere durch die ePaper-Ausgaben und trinke dazu eine Tasse Tee, meist Rooibos. Sonntags die «NZZ am Sonntag» und die Sonntagszeitung

Auf dem Weg zur Arbeit lese ich die Schlagzeilen bei «Blick», «Spiegel Online», «20 Minuten» oder dem «Standard», wo es mich im Netz gerade hintreibt. Oft überfliege ich auch das tägliche Briefing der New York Times, was per E-Mail in meinem Postfach landet.

«Zeit», «Spiegel», «Weltwoche», «WoZ», «Economist», «New Yorker» und Blätter für deutsche und internationale Politik verteile ich über die Woche.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Ich bin bei Facebook angemeldet, bei Twitter und bei Instagram. Meist verteile ich meine journalistischen Arbeiten über alle drei Kanäle, sie sind für mich Promotionsplattformen.

Auf Twitter und Instagram kann ich prima Zeit verplempern, Prokrastination olé. Ich beobachte dabei mehr, als dass ich mich einmische. Ich mag schlicht nicht streiten mit 280 Zeichen. Und reine Bildsprache ist auch nicht so meins.

Anders Facebook: Darüber halte ich Kontakt mit meinen Schulfreunden aus München und Johannesburg, mit meinen Studienkolleginnen aus Wien und Shanghai. Das ist dann Privatsache. (Und ja, ich weiss, Facebook liest mit, verdammt!)

Es passiert etwas ganz Schlimmes wie 9/11. Wie informierst Du Dich?

Über SRF 4 News, BBC und Twitter.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

So pauschal: weder noch. Vieles hat sich gewandelt, klar, und einiges zum Besseren. Zum Beispiel hat es heute deutlich mehr Kolleginnen auf den Redaktionen und in den Chefetagen.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Aber sicher! Digital und gedruckt.

Was muss man unbedingt gelesen haben?

«Pippi Langstrumpf». Muss man nicht, lege ich aber ans Herz.

Gerade fertig gelesen habe ich «Bad Blood» und «She said». Auf dem Stapel neben dem Bett liegen noch «Shaking the Foundations – 200 Years of Investigative Journalism in America», «Transit» von Anna Seghers, Ronan Farrows «Catch and Kill», eine Biografie über die Investigativ-Reporterin Nellie Bly und «Auf Erden sind wir kurz grandios» von Ocean Vuong.

Alle auf Empfehlungen von Schwester, Freundinnen und Kolleginnen: Merci, Dorothea, Julia, Christina, Daniel, Hanna, Daniel!

Ich greife mal zum Sachbuch und mal zur Belletristik. Sachbücher wegen der Recherche, Belletristik wegen der Sprache. Recherche und Sprache sind unsere Werkzeuge. Und die sollten wir pflegen, wie es eben gute Handwerkerinnen tun.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ein langweiliges Buch? Weg damit!

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Auf Reisen.

In Gesprächen.

Auf Recherchen.

In Büchern und Fachzeitschriften.

Auf Twitter und Instagram.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Simple Prognosen sind verführerisch. Und liegen meist voll daneben. Aber wenn ich mein Glück versuchen müsste: Gedruckte Zeitungen werden noch eine ganze Zeit am Kiosk zu kaufen sein. Fraglich ist für mich, wann, wie oft, mit welcher Auflage und zu welchem Preis.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Nehmen wir die Investigation: Rechercheplattformen wie ProPublica in den USA und Correctiv in Deutschland würde es wohl nicht geben. Beide nutzen das Netz, um Bürgerinnen in die Recherche einzubinden.

2014 veröffentlichte ProPublica einen kurzen Beitrag mit Titel: «Long After Sandy, Red Cross Post-Storm Spending Still a Black Box: Donors gave $312 million after the storm, but it’s not clear how exactly the money was spent». Was ungewöhnlich daran war: ProPublica konzentrierte sich auf das, was die Reporter nicht herausgefunden hatten, nämlich wie das Rote Kreuz die mehr als 300 Millionen US-Dollar ausgegeben hatte, die sie für die Opfer von Hurrikan Sandy gesammelt hatte. Am Ende stand ein einfacher Satz: «If you have experience with or information about the American Red Cross, including its operations after Sandy, email (…).» Und der Aufruf funktionierte. Über Monate erhielt der Reporter Hinweise, und er konnte dadurch immer wieder Neues berichten.

Correctiv hat den Crowdnewsroom entwickelt, eine Plattform, auf der Journalistinnen und Bürgerinnen gemeinsam recherchieren. So entsteht eine Art virtuelle Redaktion, die zum Beispiel Misstände am Mietmarkt in deutschen Städten, bei den deutschen Sparkassen und Unterrichtsausfall im deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen aufdeckt.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Ich werte es als brandgefährlich, dass «Fake news» fast schon zu einem eigenen Format hochgeföhnt werden, wie die Nachricht, der Kommentar, das Interview, die Satire oder die investigative Recherche. Deshalb braucht es journalistische Profis, die unabhängig berichten, aufdecken, analysieren, einordnen, kommentieren.

Was dazu auch auf meinem Bücherstapel liegt: das neue Buch des britischen Autors Peter Pomerantsev. Er ist um die Welt gereist und hat in seinem Buch «This is Not Propaganda: Adventures in the War Against Reality» den Informationskrieg protokolliert, wie Rodrigo Dutertes «War on drugs» auf den Philippinen, Baschar al-Assads Krieg in Syrien, und mit dem Blick eines Sohnes sowjetischer Dissidenten analysiert er Putins Russland. Kolumnist Daniel Binswanger zitiert eine Schlüsselpassage.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Ich habe kein Radio, keinen Fernseher.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Ja. Weil ich auf dem Crosstrainer im Fitnessstudio nicht lesen kann, höre ich Podcasts: NPRs «Planet Money» (meine Lieblingsfolge ist die über das Schweizer Käsekartell), den Longform Podcast und fast alles von Gimlet Media.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Ich kenne die Schlagzeilen: «4 von 10 Schweizern wissen nicht, was in der Welt passiert» («Tages-Anzeiger»), «Über ein Drittel zählt zu den News-Deprivierten» («Persoenloch.com») oder «Wir konsumieren News, aber nicht aus Zeitungen» («20 Minuten»). Eine 16-jährige Teenagerin liest Nachrichten vielleicht an anderen Orten als eine 29-jährige junge Frau. Die wiederum sammelt Informationen an anderen Flecken als ich, eine 38-jährige Reporterin. Ob die beiden deshalb «News-Deprivierte» sind? Ich habe die fög-Studie nicht gelesen. Habe noch nicht mal die Zusammenfassung überflogen. Weiss nichts zu sagen über die Methodik. Das müsste ich machen – bevor ich hier Halbgares zum Besten gebe.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Hat Pietro Supino das in einem Interview gesagt? Angesprochen während einer Podiumsdiskussion? Geschrieben in einer E-Mail an seine Mitarbeiterinnen?

Da geht es mir ähnlich, wie bei der fög-Studie: Ich weiss, die Branche klatscht und tratscht darüber. Eine inhaltlich fundierte Auseinandersetzung darüber hat aber meines Wissens noch nicht stattgefunden.

Grundsätzlich meine ich: machen. Dort wo es möglich ist, Informationen automatisch zu verarbeiten und Ergebnisse auszuspucken, wie bei Wettervorhersagen, Börsenkursen und Abstimmungsergebnissen. Das ersetzt keine Hintergrundgespräche mit Whistleblowern und Interviews mit Expertinnen, keine Recherchen von Dokumenten mittels Öffentlichkeitsgesetz und die Auswertungen von Datenlecks. Ich habe bei John Keefe, Chef des Investigationsteam bei «Quartz», eine zweitägige Einführung in Machine Learning besucht. Jetzt rüste ich meinen Computer in eine Maschine auf, die mir helfen wird, Muster in Dokumenten schnell, effizient und möglichst fehlerfrei zu erkennen.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Ja.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ja, auf Recherche nehme ich mein Aufnahmegerät mit, Bleistift und Block. Am liebsten linierte gelbe «Legal Pads». Die sind günstig.

Ist Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Darf ich die Frage an Reporterinnen und Korrespondentinnen weitergeben, die aus Washington D.C. berichten? Was sagt Isabelle Jacobi? Was recherchiert Jodi Kantor? Und was kommentiert Maggie Habermann?

Wem glaubst Du?

Investigative Recherche ist nie eine Glaubensfrage. Ich muss alle Informationen dokumentieren, beim Faktencheck und bei der juristischen Abnahme vorlegen. Ganz egal, ob es sich um Details handelt, wie der Preis für einen Besuch im Solarium neben dem Büro eines Finanzbetrügers (5 Franken), oder ob eine Recherche en gros zeigt, welcher Schaden angerichtet wurde, zum Beispiel wie Banker, Anwälte und Investoren Finanzämter in ganz Europa erleichtert haben (um mindestens 55,2 Milliarden Euro).

Dein letztes Wort?

Matthias, danke Dir für die Einladung in Deinen Salon.

Machen wir es wie bei Arthur Schnitzlers Reigen. Ich möchte als Letztes eine Frage stellen an Deinen nächsten Gast bei den Medienmenschen: Was bereitet Ihnen, liebe Unbekannte, lieber Unbekannter, Freude an Ihrem Beruf?


Sylke Gruhnwald

Sylke Gruhnwald (*1981) hat Sinologie und Betriebswirtschaft an den Universitäten München und Wien studiert. Sie hat Hacks/Hackers Zürich, Lobbywatch.ch und das Reporter-Forum Schweiz mitgegründet. Sie war Verwaltungsratspräsidentin von Journalismfund.eu und Vorstandsmitglied bei Investigativ.ch und hat am Rechercheprojekt «The Migrants’ Files» mitgearbeitet. Für ihre Arbeiten wurden ihre Teams und sie selbst mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Swiss Press Award (2018), dem Grimme Online Award (2014), dem European Press Prize (2015) und dem IRE Special Award (2015). Von Oktober 2018 bis März 2019 war sie Co-Chefredakteurin der «Republik». Davor hat Sie für die NZZ und das Schweizer Fernsehen SRF gearbeitet und da jeweils Datenteams aufgebaut und geleitet.
https://de.wikipedia.org/wiki/Sylke_Gruhnwald https://www.republik.ch/~sylke https://www.facebook.com/gruhnwsy https://twitter.com/SylkeGruhnwald https://www.instagram.com/sylkegruhnwald/?hl=de


Basel, 20. November 2019, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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