Susanna Petrin: «Billigmedien werden als Zeitverschwendung entlarvt»

Publiziert am 16. Oktober 2019 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview mit Susanna Petrin, Journalistin in Kairo, über ihren persönlichen Mediengebrauch, ihren Umgang mit sozialen und anderen Medien sowie Zustand und Zukunft des Journalismus in der Schweiz. Sie sagt, im Vergleich sei die Schweiz für Journalisten ein Paradies. «Doch nur weil es andernorts viel schlechter ist, sehe ich trotzdem nicht plötzlich alles rosiger.» Sie plädiert dafür, den Leserinnen und Lesern mehr zuzutrauen: «Wir sollten nicht vom Dal ausgehen, dem dümmsten anzunehmenden Leser.» Sie glaubt daran, «dass eine kleine Anzahl qualitativ hochstehender Zeitungen auch in gedruckter Form noch lange überleben wird.» Zeit sei wertvoller als Geld, «Billigmedien werden als Zeitverschwendung entlarvt.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Einen Cappuccino und eine gedruckte Tageszeitung, was gibt es Schöneres am Morgen? Aber ich lebe seit zwei Jahren in Kairo. Mein Arabisch ist leider zu schlecht, um die hiesigen Tageszeitungen zu lesen. Und wenn ich es könnte, so müsste ich es mit Vorbehalt tun: Es gibt hier keine freie Presse. Deshalb habe ich vier Google Alerts eingerichtet: Cairo, Kairo, Egypt, Ägypten. So kriege ich mit, was täglich lokal sowie weltweit über meinen neuen Wohnort geschrieben wird. Wenn die Zeit danach noch reicht, lese ich die NZZ als E-Paper. Regelmässig schaue ich zudem bei der Zeit, der Süddeutschen, dem Guardian, der New York Times und dem New Yorker rein.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Vor allem junge Leute schwören darauf, aber ich kann mit Instagram nichts anfangen. Bei Twitter schaue ich gelegentlich auf langen Taxifahrten rein. Am häufigsten nutze ich Facebook: Um Bekannte wenigstens im Augenwinkel zu behalten, um mich über die Cartoons des «New Yorkers» zu freuen sowie um von Freunden empfohlene Artikel zu lesen. Vor allem aber, um selber hin und wieder etwas zu posten. Ehrlicher formuliert: Um mich selbst darzustellen. Ausserdem macht es mir Spass, Fotos aus meinem absurden Alltag in Kairo zu posten.

Es passiert etwas ganz Schlimmes wie 9/11. Wie informierst Du Dich?

Indem ich das Stichwort bei Google unter der Rubrik News eingebe. Auch bei Facebook, Twitter und sogar Podcasts nutze ich generell gerne die Suchfunktion.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

«Und früher war früher auch alles besser.» Das hat mir die Schauspielerin Barbara Lotzmann mal gesagt. Ein paar Sachen waren besser, ein paar schlechter. Wenn ich sehr alte Zeitungsausgaben lese – es hat mir zum Beispiel jemand einige vergilbte Basler Zeitungen aus meinem Geburtsjahr geschenkt –, staune ich, wie stilistisch schlecht viele Artikel waren, wie einseitig und anbiedernd so manches dargestellt wurde. Ich denke, heute wird tendenziell ansprechender geschrieben – klug und unterhaltsam gleichzeitig, das lernen wir allmählich von den Angelsachsen. Anderseits könnten wir den Leserinnen und Lesern gerne bisschen mehr zutrauen an Komplexität, an Sprachgewalt, an Experimentierfreude. Wir sollten nicht vom Dal ausgehen, dem dümmsten anzunehmenden Leser.

Das Arbeitstempo und der Druck sind stark gestiegen. Auf Regionalredaktionen müssen junge Journalisten fast täglich einen Artikel raushauen. Es wird kaum mehr anerkannt, dass Qualität Zeit braucht. Inzwischen pensionierte Kollegen haben mir erzählt, wie sie früher regelmässig Zeit hatten, nach dem Mittagessen noch eine Runde zu jassen. Heute haben Tagesjournalisten nicht einmal mehr fürs Mittagessen Zeit – dabei könnte man dabei nachdenken, auf Ideen kommen oder interessante Leute treffen, die Ideen haben. Oft wird von Journalisten neben dem Printbeitrag auch noch Online-Beitrag, ein Foto und sogar ein Videofilmchen erwartet. Als ob Fotografieren zum Beispiel nicht eine Kunst für sich wäre! Immer weniger Journalisten müssen immer mehr machen.

Wie hat sich Dein Urteil über die Schweizer Medien verändert, seit Du in Kairo bist?

Es hat sich nicht stark verändert. Dass die Pressefreiheit etwas sehr Wertvolles ist, war mir schon vorher bewusst. Die Medienlandschaft hier bietet im Vergleich einen traurigen Anblick: inhaltlich wie ästhetisch – alles, was uns auf Schweizer Redaktionen layouterisch strikt verboten wurde, wird hier gemacht. Ich kenne zudem eine Frau, die über das Ministerium schreibt, bei dem sie selber zugleich als Pressesprecherin angestellt ist. Überhaupt erlebe ich hier als Journalistin ständig kafkaeske Situationen. Zum Beispiel als ich versucht habe, ein offizielles Interview mit einem Staatsangestellten zu führen. Er wollte, dass ich dafür eine Genehmigung einhole. Aber derjenige, der mir diese Genehmigung hätte ausstellen sollen, sagte, dass ich sie nicht bräuchte, er sie mir folglich nicht geben könne. So ging das dann hin und her. Am Ende hat man mir in jenem Ministerium irgendeinen armen Kerl vor die Nase gesetzt, der über das Thema gar nicht Bescheid wusste. Hier als Journalist zu arbeiten, ist viel anstrengender, viel nervenaufreibender als in der Schweiz. Am Schlimmsten ist natürlich: Wer hier regimekritisch berichtet, riskiert, im Gefängnis zu landen. Sicher, im Vergleich ist die Schweiz für Journalisten ein Paradies. Doch nur weil es andernorts viel schlechter ist, sehe ich trotzdem nicht plötzlich alles rosiger. Ich weiss nicht, wie viele Spar- und Entlassungsrunden ich die letzten 15 Jahre schon erleben musste. Es gibt auch ein paar neue interessante Medien seither, das stimmt hoffnungsfroh. Allerdings ist die Zahl an Stellen im Journalismus insgesamt stark zurückgegangen. Und man sehe sich bitte mal die Zahl der Frauen in den Chefetagen und Ressortleitungen an! Die Medien sind in der Schweiz männerdominiert. Und das liegt nicht einfach nur daran, dass die Frauen nicht aufsteigen wollen, wie manche behaupten. Ich kenne gute Journalistinnen, die nicht gefördert und befördert wurden, obwohl sie es wollten.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Mit Sicherheit. Das geschriebene Wort gehört zu den grössten Errungenschaften des Menschen. Es hält sich schon seit gut 6000 Jahren.

Was muss man unbedingt gelesen haben?

Uff, Hamlet vielleicht. Es gäbe da noch das eine oder andere Buch… Journalisten sollten unbedingt Tucholsky sowie «The Imperfectionists» von Tom Rachman lesen. Anhand einer Handvoll wunderbar getroffener Charaktere geht es in diesem Roman um alles, was im Journalismus schiefläuft.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Inzwischen kann ich sie weglegen. Das Leben ist zu kurz für schlechte Bücher. Aber wenn ich ein Buch rezensiere, dann lese ich es von A bis Z, obs mir passt oder nicht.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Im Internet, via soziale Medien, im Gespräch. Eigentlich ist da ständig von allem zu viel. Die Kunst besteht für mich darin, nicht zu oft auf irgendwas zu klicken, das mir gerade von irgendjemandem untergejubelt wird. Ich möchte gerne selber bestimmen, was für mich gerade wichtig ist. Bitte, man möge mir vor allem keine Youtube-Videos schicken!

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Vielleicht bin ich hoffnungslos altmodisch, aber ich glaube daran, dass eine kleine Anzahl qualitativ hochstehender Zeitungen auch in gedruckter Form noch lange überleben wird. Es könnte sogar einen Gegentrend geben: Zeit ist wertvoller als Geld, Billigmedien werden als Zeitverschwendung entlarvt. Gemäss einer neuen Studie kann man sich Inhalte von Büchern viel besser merken, wenn man sie auf Papier statt auf einem Bildschirm liest. Das müsste ja eigentlich auch auf Zeitungen zutreffen.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Eine Gefahr. Als Fake News kann man heute alles abtun, was einem gerade nicht ins eigene Weltbild passt. Ich habe zum Beispiel einen Amerikaner gefragt, ob es ihn nicht störe, dass ein Milliardär wie Trump keine oder viel zu wenig Steuern bezahlt. Seine Antwort: Woher wissen wir, dass das keine Fake News ist? Damit entzog er unserer Diskussion jede Grundlage, er musste nicht einmal auf das Thema eingehen.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Gar nicht.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Ich höre in jeder freien Minute Podcasts. Zum Aufräumen, zum Zähneputzen, zum Autofahren. Immer, wenn ich die Hände nicht frei habe. Ich höre täglich das «Echo der Zeit» sowie «Kultur Kompakt» dann, wann es mir passt. Hinzu kommen Sendungen der BBC, des Deutschlandfunks, Französischlektionen und vieles mehr. Unis stellen interessante Vorträge oder ganze Studiengänge online. Das finde ich genial. Mein Lieblingspodcast ist der Fiction Podcast des New Yorkers. Da wird Literatur vorgelesen und anschliessend besprochen.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 53 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Ich musste jetzt zunächst nachschauen, was das genau bedeutet. «Depriviert» dünkt mich für dieses Phänomen eine irreleitende Bezeichnung. Junge Menschen können sich, zumindest im Westen, jederzeit jede News holen, wenn sie das nur wollen – es wird ihnen ja nichts vorenthalten. Warum wollen das viele trotzdem nicht? Dem müsste man nachgehen, um besser zu verstehen, was man ändern könnte, um bei ihnen wieder Interesse an anspruchsvollem Journalismus zu wecken. Ich selber erlebe viele junge Menschen als reifer als ich es damals war.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Ich staune über die Verachtung für Journalisten, die aus dieser Einschätzung spricht. Aus derselben Haltung heraus haben Verleger den Fehler des Jahrhunderts begangen, nämlich als sie beschlossen, Inhalte, die im Print kosten, online gratis herzugeben. Damit wurde Journalismus im Grunde für wertlos erklärt. Kein Wunder, will nun niemand mehr Geld für Artikel ausgeben! Ja, Roboter können offenbar bereits kurze News verfassen. Aber Portraits, Features, Interviews? Formen, bei denen man Wissen, Empathie, Intuition und Sprachgefühl zugleich braucht? Roboter werden uns Journalisten erst dann ersetzen, wenn sie generell intelligenter und emphatischer sind als wir Menschen. Vorher werden sie Verleger.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Ja. Es ist und bleibt ein grossartiger Beruf. Leider ist es oft bequemer, mit den Reichen Cüpli zu trinken, als bei den Armen Missstände zu recherchieren. Doch die besten unter uns riskieren alles für eine wichtige Geschichte.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ja, meine Arabisch-Hausaufgaben sowie Notizen. Beides kann ich später oft selber nicht mehr lesen. Leider bin ich zu faul für Briefe und Postkarten.

Ist Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Es ist höchst ärgerlich, dass die Medien seit Jahren jeden Mist, den dieses groteske Monster von sich gibt, perpetuieren. Natürlich erzielt das hohe Klickraten. Aber damit setzen wir eine Teufelsspirale der Idiotie in Gang. Wir können die Verantwortung für Inhalte nicht einfach an die Leserschaft abgeben.

Wem glaubst Du?

Am liebsten prüfe ich nochmal selber nach.

Dein letztes Wort?

Wir Menschen sollten uns das Leben gegenseitig verschönern.


Susanna Petrin

Susanna Petrin lebt und arbeitet als Journalistin in Kairo. Ihre allerersten Texte – von denen sie hofft, sie mögen für immer verschollen bleiben – schrieb sie mit 14 für die einstige Jugendzeitschrift «Magic». Seither hat sie unter anderem ein Studium der Germanistik, Anglistik und Publizistik in Basel und Zürich abgeschlossen, als Redaktorin für diverse Zeitungen gearbeitet und Einsitz in die Jury des Schweizer Buchpreises genommen. Bis vor ihrer Abreise nach Kairo war Susanna Petrin Kulturredaktorin bei der «bz Basel».

https://www.facebook.com/susanna.petrin


Basel, 16. Oktober 2019, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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2 Kommentare zu "Susanna Petrin: «Billigmedien werden als Zeitverschwendung entlarvt»"

  1. Solange die einzelnen Medien bzw. Journalisten die Schwerpunkte nicht auf ausgewogene Fakten und entsprechenden Argumenten, statt „weltanschaungsgetränkten“ persönlichen Meinungen, legen, wird der Wiederaufstieg der Medien nicht gelingen. Der Medienkonsument will nicht einseitig verführt werden, sondern mit den ausgewogenen Tatsachen eine eigene Meinung bilden.

  2. Solange die einzelnen Medien bzw. Journalisten die Schwerpunkte nicht auf ausgewogene Fakten und entsprechenden Argumenten, statt “ persönlichen Meinungen, legen, wird der Wiederaufstieg der Medien nicht gelingen. Der Medienkonsument will nicht einseitig verführt werden, sondern mit den ausgewogenen Tatsachen eine eigene Meinung bilden.

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