Simone Meier: «Leben und Journalismus sind nicht dazu gemacht, dass man sie vor Bildschirmen verbringt»

Publiziert am 31. Juli 2019 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview mit der Journalistin und Autorin Simone Meier über ihren persönlichen Mediengebrauch, ihren Umgang mit sozialen und anderen Medien sowie Zustand und Zukunft des Journalismus in der Schweiz. Sie sagt, dass sie sich gerne an «ultraluxuriöse Zeiten» erinnere, als sie Ende der 90er-Jahre beim «Tages-Anzeiger» angefangen habe. «Aber faute de mieux ist heute ganz klar die Zeit von personell wie monetär bescheideneren oder jüngeren oder risikofreudigen Medien.» Ein Anliegen ist ihr, dass Journalistinnen und Journalisten sich bei aller Experimentierfreude um die Sprache kümmern: «Sprache ist das Geschenkpapier, mit dem wir Informationen verpacken. Dazu sollte man Sorge tragen.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Mein Müesli. Nein, im Ernst, ich lese ungern Zeitungen zum Frühstück. Ich mache gern journalistische Inhalte, konsumiere sie aber höchst widerwillig als Erstes am Morgen. Ich stelle mir vor, dass eine Coiffeuse auch nicht grosse Lust hat, schon zum Frühstück Haare zu schneiden. Aber weil ich muss, sind das der «Guardian» und der «Tages-Anzeiger». Ganz schnell. Danach lese ich lieber noch eine halbe Stunde in einem Buch.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Ich brauche sie als Distributions-, Kommunikations-, Promotions- und Prokrastinations-Plattform. Wahrscheinlich auch als Narzissmuszentrifuge. Man muss jedoch klar festhalten, dass sie in grösseren gesellschaftlichen Kontexten wie etwa Wählerbeeinflussung brandgefährlich und deshalb nur mit Misstrauen zu geniessen sind.

Es passiert etwas ganz Schlimmes wie 9/11. Wie informierst Du Dich?

Über mein Lieblingsmöbel, das Fernsehen. Switchenderweise. Mit grösster Hochachtung für die Kolleginnen und Kollegen, die da stundenlang im Studio stehen. Zuletzt bei der österreichischen Ibiza-Affäre. Was das ORF da an einem Samstag leistete, war atemberaubend.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Natürlich waren die grossen alten Schlachtschiffe viel besser ausgerüstet als heute. Ich erinnere mich an ultraluxuriöse Zeiten, als ich Ende der 90er-Jahre beim «Tages-Anzeiger» anfing. Aber faute de mieux ist heute ganz klar die Zeit von personell wie monetär bescheideneren oder jüngeren oder risikofreudigen Medien wie der WoZ, der Republik und eben watson. Für mich persönlich war der Wechsel zum Abenteuer watson nach 16 Jahren Glanz und Niedergang beim «Tages-Anzeiger» höchst belebend.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Selbstverständlich.

Was muss man unbedingt gelesen haben?

Viele Bücher! Und damit meine ich viel Belletristik. Der Fokus auf Fiktion gibt uns ein Gespür für die stilistischen und dramaturgischen Möglichkeiten der Sprache und ist in einem Job, bei dem es im Kern immer noch ums Schreiben geht, unverzichtbar. Sprache ist das Geschenkpapier, mit dem wir Informationen verpacken. Dazu sollte man Sorge tragen.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ich kann schlechte Bücher schon nach wenigen Seiten weglegen. So, wie ich auch ein schlechtes Theaterstück zügig verlasse. Ich gebe vielem eine Chance, aber selten eine zweite.

Liest Du Bücher auch elektronisch oder muss es für Dich Papier sein?

Da geht beides. Ich nenne meinen E-Reader «mein Buch». Aber wenn mir ein Werk besonders wichtig ist, wird es in der Buchhandlung gekauft. Zuletzt war das «GRM» von Sibylle Berg. Fantastisch. Ich habe ja auch grosse Freude an meinen eigenen Büchern, an ihrer Gestaltung, ihrer Haptik.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Die cheapen im deutschen Privatfernsehen und die stilistisch etwas hochwertigeren in der «Vanity Fair».

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

2765 Tage? Keine Ahnung. Nicht mehr lange. Aber darf ich stattdessen die Frage «Welche App benutzt Du am liebsten?», die ich so oder ähnlich in einem andern Deiner Interviews gesehen habe, beantworten? Meine PostFinance-App! Wir haben ein libidinöses Verhältnis. Ich konsultiere da oft meinen Kontostand, überschlage schnell mein Jahresbudget und bin beruhigt. Oder auch nicht.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Nicht als Satire oder anderweitig deklarierte Fake News sind des Teufels. Fertig. Man darf das nicht zu einer Kunstform verklären.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Ich liebe es! Gibt es etwas Schöneres, als das Abendessen zuzubereiten und dabei «Echo der Zeit» zu hören? Und das Fernsehen ist, wie schon gesagt, mein Lieblingsmöbel. Seit den olympischen Winterspielen von Sapporo 1972. Damals band ich mir eine Windel um den Kopf, rannte auf die Strasse und schrie: «Ich bin Russi! Ich bin Russi!»

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Nein.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 53 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Ich kenne zum Glück die andern 47 Prozent. Aber natürlich ist das fatal. Bei watson ist es so, dass unsere Userinnen und User nie nur einen rein journalistischen, sondern oft auch einen sehr spielerischen Zugang zu unseren Inhalten finden. Dass sie quasi über die Mausefalle des Entertainments zu den klassischen News-Stoffen gelockt werden. Für mich als Journalistin war diese Umstellung zu Beginn auch sehr befremdlich, danach sehr erfrischend und kreativitätsfördernd. Zudem hoffe ich sehr, dass junge Bewegungen wie etwa die Klimabewegung, die einen ernsthaften, dringenden Kern hat, jüngeren Menschen die Notwendigkeit des Informiertseins wieder näher bringen.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Mein Lehrer, der kürzlich verstorbene Reinhardt Stumm, sagte mir: «Als Kulturjournalistin hast du nicht per se recht. Aber du kannst deinen Leserinnen und Lesern mit deinen Texten ein Treppengeländer oder eine Leitplanke auf ihrer Suche nach einer kulturellen Identität geben. Auch wenn sie deine Ansichten nicht teilen, sie müssen wissen, nach welchen Kriterien du urteilst und sich auf dich verlassen können.» Kann man sich auf das ästhetische, ethische, analytische Urteilsvermögen einer Maschine verlassen? Können Maschinen etwas reflektieren? Ich denke nicht.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Wieso nicht?

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Natürlich. Ich mache alle meine Artikel-Notizen von Hand. Und kann sie dann fast nicht dechiffrieren. Aber ich bin weitaus aufmerksamer, wenn ich Notizen mache, daher sind sie unverzichtbar.

Ist Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Für die Quote ein Segen, auch hierzulande. Und dafür, dass wir uns mal wieder bewusst werden, was wir eigentlich tun und vor allem tun müssen, ebenfalls.

Wem glaubst Du?

Meinem Liebesleben. Bedingungslos. Sie ist übrigens auch eine Journalistin.

Dein letztes Wort?

Rausgehen, rausgehen, rausgehen. Leben und Journalismus sind nicht dazu gemacht, dass man sie ausschliesslich vor Bildschirmen verbringt.


Simone Meier

Simone Meier, geboren 1970 in Lausanne, aufgewachsen im Aargau, ist Autorin und Journalistin. Nach einem Studium der Germanistik, Amerikanistik und Kunstgeschichte arbeitet sie als Kultur- und Gesellschaftsredakteurin, erst bei der WochenZeitung, dann beim Tages-Anzeiger, seit 2014 bei watson. Ihre Schwerpunkte sind Fernsehen, Feminismus und alles Fleischliche. Neben dem Journalismus schreibt sie Bücher. Ihre letzten Romane «Fleisch» (2017) und «Kuss» (2019) erschienen bei Kein & Aber. Simone Meier lebt und schreibt in Zürich.
https://de.wikipedia.org/wiki/Simone_Meier


Basel, 31. Juli 2019, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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