Simon Häring: «Wir sind gefordert, Wichtiges interessant zu machen»

Publiziert am 12. Juni 2024 von Matthias Zehnder

Das 285. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Simon Häring, Journalist und Autor bei CH Media. Er sagt, dass Journalismus nach seinem Verständnis immer ein Handwerk bleiben werde, bei dem es im Kern darum gehe, gute Geschichten erzählen. «Dabei geht es darum, mit jenen Mitteln, die uns noch zur Verfügung stehen das Optimum herauszuholen.» Trotz allen neuen Medien setzt er auf die geschriebene Sprache: «Geschriebenes hat gegenüber Gesprochenem den Vorteil, dass wir uns in unserem eigenen Tempo damit auseinandersetzen können.» Er liebe zwar die gedruckte Tageszeitung, könnte aber problemlos darauf verzichten, «so lange ich mit Geschichten überrascht, informiert, beglückt, verärgert und zum Nachdenken angeregt werde. Das geht auch mit einer App.» Die Digitalisierung sei eine Art Evolution: Höhlenmalereien waren eine tolle Sache, aber eine Zeitung ist dann doch praktischer.» Die Medien seien heute gefordert, «nicht dauernd der Versuchung zu erliegen, Interessantes wichtig zu machen, weil wir damit ein grösseres Publikum finden. Das mag bequem sein, ist aber nicht unser Auftrag.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Weil ich selten frühstücke, gibt es die Nachrichten von Radios SRF3 auf leeren Magen. Danach lese ich das E-Paper der «Aargauer Zeitung» quer, scanne die Newsapps der NZZ und des «TagesAnzeiger» – in zufälliger Reihenfolge. Auch auf Twitter (an den Namen X werde ich mich wohl nie gewöhnen) schaue ich vorbei und auf Instagram mache ich mir Lesezeichen zu Artikeln, die ich gerne lesen würde (und dann oft doch vergesse …)

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram, LinkedIn, YouTube, TikTok und BeReal?

Gibt es Facebook noch? Scherz bei Seite: Vor zwei, drei Jahren habe ich meinen Account gelöscht. Besonders einschneidend war das nicht, weil ich die Plattform ohnehin kaum mehr genutzt habe. Twitter ist für mich noch immer ein Seismograph für Geschichten und für den unkomplizierten Austausch mit Kolleginnen und Kollegen im Ausland. Instagram nutze ich zwar vorwiegend privat (wetten, Sie finden meinen Account nicht?), stosse aber über Slides und Reels dauernd auf Geschichten, die mich ansprechen. Bisher hatte ich kein Bedürfnis, auf Instagram ein Sendebewusstsein zu entwickeln. Bei LinkedIn habe ich zwar ein Profil und stosse auch ab und zu auf interessante Gedanken und Geschichten, verhalte mich aber eher passiv. YouTube ist eine Art Sparringspartner. Heute hat mir eine Nähinfluencerin (es gibt dort wirklich alles!) beigebracht, wie ich einen Knopf an meiner Jacke annähe. Dazu schaue ich mir auf YouTube Arte-Dokfilme an. Bei TikTok, BeReal (oder auch Clubhouse …) habe ich mal reingeschaut und mich dann früher oder später wieder verabschiedet. Ich muss nicht mehr jede Welle mitsurfen. Da fällt mir ein, dass ich bei BlueSky ein Profil habe, das zu verstauben droht …

Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?

Betreffend Intensität: In Wellen. Es gab und gibt Phasen, in denen ich exzessiv Medien konsumiere. Zum Beispiel beim Einmarsch der russischen Truppen in der Ukraine, nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 oder in der Frühphase der Coronapandemie (so ging es wohl fast allen). Inzwischen nehme ich mir ganz bewusst Pausen. Wenn ich Sport mache, ist das Smartphone im Flugmodus. Wenn ich in den Ferien bin, nehme ich Nachrichten zur Kenntnis, ohne den Impuls zu haben, mitmischen zu wollen. Das gelingt mir zugegebenermassen erst nach einer Woche Abstand (ein Plädoyer für lange Ferien!)

Meinen ersten Job im Journalismus habe ich im Januar 2009 angetreten. Konvergenz war damals eher ein Konzept als gelebte Realität und Online-Plattformen Nebenprodukt von gedruckten Zeitungen, die damals noch Flaggschiffe waren. Soziale Medien spielten noch keine Rolle, Facebook kannte ich nur vom Hörensagen und Instagram existierte meines Wissens damals noch gar nicht. Liveticker hingegen spielten schon damals eine wichtige Rolle. Wir haben oft den Eindruck, dass heute mehr von uns verlangt wird. Das ist sicher nicht ganz falsch. Allerdings sind die Werkzeuge heute auch deutlich besser.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Anders. Ich bin kein Freund davon, in Erinnerungen an vergangene Tagen zu schwelgen. Nach meinem Verständnis war, ist und wird Journalismus immer ein Handwerk bleiben, bei dem es im Kern immer um die gleiche Sache geht: gute Geschichten erzählen. Dabei geht es darum, mit jenen Mitteln, die uns noch zur Verfügung stehen (Zeit, Geld, Platz) das Optimum herauszuholen. Manchmal ist das schwieriger, manchmal leichter.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Ja. Punkt.

Und ausführlicher: Geschriebenes bildet für mich das Herz der Sprache. Geschriebenes hat gegenüber Gesprochenem den Vorteil, dass wir uns in unserem eigenen Tempo damit auseinandersetzen können. Wir können etwas ein zweites oder drittes Mal lesen, eine Nacht drüber schlafen und mit anderen darüber diskutieren. Ausgesprochenes ist hingegen unveränderbar. Es entfaltet sofort seine Wirkung.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Magazine und Bücher, die in einem historischen Kontext spielen. Ich lerne nie so viel über die Welt, die Menschen, vor allem aber auch über mich, wie wenn ich Bücher lese.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Das Leben ist zu kurz, um Zeit mit Dingen zu verschwenden, die uns nicht bereichern. Also ja, ich habe kein Problem, ein «schlechtes» Buch wegzulegen.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Mich würde interessieren, wo ich von Dingen erfahre, die mich NICHT interessieren. Spass bei Seite: Ich glaube, ich gehe neugierig und mit offenen Dingen durch die Welt und hoffe, dass mir diese Eigenschaft nicht abhanden kommt. Überrascht werde ich bei der Lektüre von Magazinen und Zeitungen (herzliche Grüsse an meine geschätzten Kolleginnen und Kollegen aus dem Kulturressort).

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Ich bin haptisch veranlagt und deshalb versucht, zu sagen: Hoffentlich noch sehr lange. Andererseits kann ich problemlos damit leben, wenn es ab Morgen keine gedruckten Tageszeitungen mehr gibt, so lange ich mit Geschichten überrascht, informiert, beglückt, verärgert und zum Nachdenken angeregt werde. Das geht auch mit einer App.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Beides, wobei ich hoffe, dass wir uns auf die Chancen konzentrieren, ohne die Gefahren zu bagatellisieren. Sie können gefährlich sein und der Reputation von Medien schaden. Andererseits können Sie das Bewusstsein dafür schärfen, wie wichtig zuverlässige, recherchierte, verifizierte und gut erzählte Informationen sind. Ergo: Wie wichtig Journalismus für unsere Gesellschaft ist, und wie gefährlich Fake News.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Ich bin ein 76-jähriger Radiohörer im Körper eines 15-jährigen TV-Zuschauers. Heisst: Radio höre ich von Morgen früh bis spätabends linear, Fernsehen schaue ich fast gar nicht. Mit der Ausnahme, dass ich in der Freizeit ab und zu Livesport schaue. Bei Breaking News wie Terroranschlägen oder Kriegsausbruch schalte ich CNN ein. Auch eine Bundesrats-PK wie beim Krimi um die Credit Suisse nutze ich den Fernseher.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

«Zeitblende» von SRF (ich würde mir wünschen, es gäbe mehr Folgen!), «Echo der Zeit», «Zeit Geschichte», manchmal «Servus. Grüezi. Hallo.» Auch die Podcasts von CH Media («Tribünengeflüster», «Hinter der Schlagzeile») kann ich empfehlen. Neuerdings «Inside Austria» (gibt es Unterhaltsameres als die österreichische Politik?!) und «The Geraint Thomas Cycling Club», den der walisische Veloprofi Geraint Thomas unterhält.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?

Für uns Medien, dass wir noch mehr gefordert sind, Wichtiges interessant zu machen und nicht dauernd der Versuchung zu erliegen, Interessantes wichtig zu machen, weil wir damit ein grösseres Publikum finden. Das mag bequem sein, ist aber nicht unser Auftrag. Eine AHV-Reform, eine Revision des Energiegesetzes oder die Kostenbremse-Initiative ist halt nicht so sexy wie eine Geschichte über Streit in der britischen Königsfamilie oder Einsprachen bei Roger Federers Bauvorhaben, haben aber für uns alle Auswirkungen. Unsere Aufgabe ist es, das zu vermitteln (und dabei sicher auch zu unterhalten).

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Nachrichten lassen sich ausgezeichnet automatisieren, Polizeimeldungen zum Beispiel. Journalismus hingegen nicht. Einordnung, Interpretation, Kontextualisierung – das alles ist journalistisches Handwerk, das Menschen besser, oder sogar ausschliesslich machen können. Gute Interviews zum Beispiel setzen Offenheit und Vertrauen voraus, was oft erst entsteht, wenn sich Interviewte und Interviewer bereits länger kennen. Ein Beispiel aus dem Sport: Ein Roboter kann aus Daten herauslesen, dass ein Stürmer in den letzten zehn Spielen immer mindestens ein Tor geschossen hat. Der Roboter weiss aber nicht, wie der Stürmer jubelt, oder dass er zwei Tage vor dem Spiel Spiel Vater geworden ist oder seine Schwester verstorben ist. Journalismus sollte eine sinnliche Erfahrung sein: Ich will nicht nur wissen, dass jemand etwas sagt, sondern auch wie, wo und warum.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Evolution, und dazu zählt die Digitalisierung, führt zum Tod von Medien als Träger von Informationen – und das ist gut so. Höhlenmalereien waren eine tolle Sache, aber eine Zeitung ist dann doch praktischer. Ich sehe in der Digitalisierung die Chance, dass sie uns zu Werkzeugen verhilft, dank denen wir wieder mehr Zeit für Arbeiten haben, die nur Menschen leisten können. Bin ich nicht damit beschäftigt, News zu schreiben, oder das TV-Programm zu produzieren, kann ich Menschen treffen und Geschichten schreiben.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Wir müssen sicher offen dafür sein, diese Diskussion ernsthaft zu führen. Journalismus ist und war nie ein Geschäftsmodell, das funktioniert hat. Zeitungen wurden nie (nur) wegen der Berichterstattung verkauft, sondern weil sie für unser Zusammenleben unverzichtbar waren. Wer eine Wohnung, oder einen Job suchte, oder ein neues Auto kaufen wollte, brauchte eine Zeitung. Wer wissen wollte, was im Kino läuft, wann der Gottesdienst an Ostern ist und wie das Wetter wird, oder wann der Gotthardtunnel für Reparaturen gesperrt ist, brauchte Zeitungen. Zeitungen waren immer querfinanziert.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Selbstverständlich – und zum Leid von Freunden und Familie, weil meine Schrift nicht einfach zu lesen ist. To-do-Listen, Postkarten und natürlich Liebesbriefe.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Gut für die Klicks, schlecht für die Glaubwürdigkeit (wir sollten nicht jeden Furz zur Geschichte aufblasen, nur weil ein Wirrkopf auf der Handytastatur rumdrückt …)

Wem glaubst Du?

Meinen Mitmenschen schenke ich lieber Vertrauen als Glauben.

Dein letztes Wort?

Schon?


Simon Häring
Simon Häring (37) arbeitet seit Januar 2017 bei CH Media und war davor während acht Jahren bei der «Blick»-Gruppe. Seine Geschichten bewegen sich oft an der Schnittstelle zwischen Sport, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Dabei berichtet er von Olympischen Spielen, Grand-Slam-Turnieren oder anderen Grossanlässen. Daneben hilft er seinen Kolleg:innen als Online-Tagesleiter (Cvd) für nationale und internationale Themen, Geschichten so zu erzählen, dass sie ein möglichst grosses Publikum finden. Gelegentlich schreibt er Geschichten für das Velomagazin «Gruppetto». Häring hat an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur (ZHAW) studiert und einen Bachelor of Arts in Communication with Specialisation in Journalism erlangt. Seit Herbst 2023 ist er Co-Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Graubünden im Studiengang Betriebsökonomie, Studienrichtung Sport Management.
https://simonhaering.ch/


Basel, 12. Juni 2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Seit Ende 2018 sind über 280 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/

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2 Kommentare zu "Simon Häring: «Wir sind gefordert, Wichtiges interessant zu machen»"

  1. «Dabei geht es darum, mit jenen Mitteln, die uns noch zur Verfügung stehen, das Optimum herauszuholen.» ist aus meiner Sicht ein Schlüsselsatz. Und dies nicht nur für den Journalismus. Gilt es doch in allen Handlungs- und Lebensbereichen, mit den uns verbleibenden Ressourcen vernünftig umzugehen. Dabei geht es aber nicht nur um Effizienz, sondern vor allem und insbesondere um Gerechtigkeit.

  2. ….Bin immer wieder erstaunt, wie einförmig und gleichgeschaltet sich die „Fragebogen-Medienmenschen“ informieren (Neudeutsch: was sie „reinziehen“)….
    Auch Herr S. Häring: SRF, AargauerZeitung, Tagi, NZZ und ein bisschen „X“….
    Dürftig für ein Medienschaffender; Allumfassende Info sieht doch anders aus: Da fehlt mir z.B. eine WoZ, eine Republik, eine Weltwoche, eine Schweizerzeit, aber auch Regionales (wie in meiner Region Basel die Formate „Bajour“, „PrimeNews“, „RegioTVplus“), es fehlen mir die „Anzeiger“ welche in jeder Regio gratis und nahe bei den Leuten sind (Wochenblatt Birseck, Anzeiger Laufental, GundeldingerZeitung, KleinbaslerZeitung um wiederum ein paar Beispiele aus meiner Region zu bringen). Dann, ja dann ist man – zwar auch nur annähernd -informiert, jedoch vielfältiger und in die Kapillaren der Schweiz eindringender wie mit den (an Relevanz und Reichweite – warum wohl? – ) verlierenden „Haupt-Medien“ (oder wie der Chefredaktor der schwindsüchtigen BaZ sein Organ betitelt: „Leitmedium“…)
    Am ergibigsten jedoch – das gilt für mich – ist heute das unendliche Internet; dass, wenn man die Quellen sorgfältig prüft, heut‘ der grösste Wissens- und Info-Brunn weltweit ist…

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