Seraina Gross: «Ich halte das Gejammer über den Zustand der Medien für absurd»

Publiziert am 21. Dezember 2022 von Matthias Zehnder

Das 208. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Seraina Ursina Gross, Reporterin für Food und Pharma bei der «Handelszeitung». Sie sagt, die Medien seien heute definitiv besser als früher: «Die Szene ist kreativer, innovativer und vielfältiger geworden. Was sich zum Beispiel während der Pandemie beim Datenjournalismus getan hat, ist grossartig.» Das mediale Angebot sei «noch nie so umfangreich und gut» gewesen. Wie lange es gedruckte Tageszeitungen noch gibt, weiss sie nicht: «Wenn ich meinen Medienkonsum anschaue, dann frage ich mich schon lange, warum es sie noch gibt.» Um die jungen und jugendlichen Nutzerinnen und Nutzer macht sie sich keine Sorgen: «Unsere Aufgabe ist es, guten Journalismus zu machen und gute Texte zu schreiben. Den Zugang zu den Medien müssen die Jungen schon selber finden.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

«NZZ», «Spiegel Online», «Financial Times» und «Bloomberg» und am Wochenende die «New York Times» und das «Wall Street Journal».  Kürzlich habe ich zudem «Readly» entdeckt, eine App, auf der man unzählige Publikationen lesen kann. Wenn ich Zeit habe, dann schaue ich auch hier rein.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Facebook boykottiere ich, ebenso wie Instagram. Twitter nutze ich als News-Feed, bin aber nicht aktiv. Da halte ich mich an LinkedIn, das ist für meine Themen die beste Plattform.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Er ist internationaler geworden und ich schaue mir mehr Publikationen an, diese dafür selektiver. Das heisst, ich picke mir raus, was mich interessiert.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Heute ist alles besser, eindeutig. Die Szene ist kreativer, innovativer und vielfältiger geworden. Was sich zum Beispiel während der Pandemie beim Datenjournalismus getan hat, ist grossartig. Ich halte das Gejammer über den Zustand der Medien für absurd. Das Angebot war noch nie so umfangreich und gut. Vielleicht verlangt es den Konsumentinnen und Konsumenten mehr ab als früher, aber das war immer so, wenn neue Medien die Landschaft disrumpierten.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Klar. Das geschriebene Wort gibt es seit tausenden Jahren. Warum sollte es keine Zukunft haben?

Was soll man heute unbedingt lesen?

Das kann ich so nicht beantworten.  Ich denke, man neigt dazu, nur das zur Kenntnis zu nehmen, das einem in seinen Meinungen bestätigt; ein Verhalten, das die sozialen Medien befördern. Mir scheint wichtig, dass man immer wieder Dinge liest, die einem und die eigene Meinung herausfordern.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Offensichtlich schlechte Bücher lege ich weg oder ich kaufe sie lieber gar nicht. Aber wenn ich mit einem Buch nicht gerade auf Anhieb warm werde, dann lege ich es mal auf die Seite. Es ist mir nämlich schon oft passiert, dass ich ein Buch, das mir nicht gefiel, nach Jahren wieder aus dem Regal nahm und dass ich es plötzlich toll fand. Offenbar gibt es auch für Bücher richtige und falsche Zeitpunkte im Leben um sie zu lesen.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Im Kultur- und im Wissenschaftsteil, manchmal auch im Gesellschaftsteil.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Wenn ich meinen Medienkonsum anschaue, dann frage ich mich schon lange, warum es sie noch gibt. Ich bin schon seit mehr als zehn Jahren rein digital unterwegs. Aber um die Frage zu beantworten: Ich denke, die gedruckten Tageszeitungen werden in den nächsten Jahren mit Ausnahme einiger weniger Referenzzeitungen wie der «NZZ» oder der «Süddeutschen» verschwinden. Ob die Wochen- und Sonntagszeitungen überleben, weil die Menschen etwas in der Hand halten wollen, nachdem sie die ganze Woche vor dem Computer sassen? Ich weiss es nicht.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Ich würde sagen, sie sind eine Herausforderung.  Journalistinnen und Journalisten sollten meiner Meinung nach nicht in einen Modus geraten, in dem sie all den Unsinn, der auf den sozialen Medien kursiert, zu «korrigieren» versuchen. Jemand, ich glaube es war Caspar Selg vom «Echo der Zeit», hat mal gesagt, dadurch entstehe eine falsche Symmetrie, und das fand ich sehr gut formuliert.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Etwas ZDF, etwas BBC, manchmal noch etwas F1 und bei «Breaking News» CNN. CNN ist meiner Meinung nach noch immer unschlagbar, wenn es irgendwo auf der Welt brennt. Schweizer Fernsehen sehe ich praktisch nicht mehr. Manchmal höre ich am Abend beim Kochen die Nachrichtensendung auf RTS, eine Gewohnheit aus meiner Zeit als Korrespondentin in der Romandie.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Ja, den Podcast von Gideon Rachman, dem Chief Foreign Affairs Columnist der FT. Und wenn ich am Wochenende Zeit habe, dann höre ich mich durch die Podcasts von Gabor Steingart. Einfach grossartig!

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Ist das mehr als früher? Ich denke nicht, dass wir als Journalistinnen und Journalisten Schlüsse als Umfragen ziehen sollten. Unsere Aufgabe ist es, guten Journalismus zu machen und gute Texte zu schreiben. Den Zugang zu den Medien müssen die Jungen schon selber finden.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Das halte ich für realistisch. Rein nachrechtliche Texte werden sich automatisieren lassen. Und auch bei den Kommentaren wird die Versuchung gross sein, sie auch von der Maschine schreiben zu lassen. Die Frage ist, ob es sinnvoll ist. AI kann ja nur mit dem arbeiten, was schon an Gedanken vorhanden ist. Bei einem Kommentar aber zählen die Kreativität und die Originalität der Gedankengänge. Wichtig scheint mir, dass die Texte entsprechend gezeichnet werden werden. Ob ein Text von einem Journalistin/einer Journalistin oder von einem Algorithmus geschrieben wurde, ist eine wichtige Information für die Leser und Leserinnen.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Weder noch. Die Digitalisierung hat uns neue Kanäle gebracht, mit denen Texte verbreitet werden können. So wie früher erst das Radio und dann das TV dazu kamen.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Auf keinen Fall. Warum sollte es eine Medienförderung brauchen? Die Einstiegshürden für neue Produkte waren noch nie so tief wie heute. Alles, was es braucht, um eine Publikation zu lancieren, ist ein Computer und ein Internetanschluss. Zudem: Wenn ein Teil der Medien gefördert wird, dann haben es die, die keine Förderung bekommen, schwerer; die Vielfalt wird also kleiner. Und wer bitte entscheidet, welche Medien förderungswürdig sind und welche nicht? Journalistinnen und Journalisten, die bei staatlich finanzierten Medien arbeiten, sind in ihren Freiheiten eingeschränkt. Eine staatliche Medienförderung verträgt sich grundsätzlich nicht mit einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaftsordnung.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Da bin ich in einem Dilemma. Wenn ich mir Gesprächsnotizen von Hand mache, dann kann ich mir das Gesagte besser merken, das heisst, ich brauche die Notizen eigentlich danach kaum mehr. Dafür kann ich nach einiger Zeit nicht mehr alles lesen, was ich aufgeschrieben habe. Wenn ich die Notizen elektronisch mache, dann bin ich mehr auf die Notizen angewiesen, dafür bin ich, etwa bei Zitaten, auf der sicheren Seite.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Tun wir ihm da nicht zu viel Ehre? Donald Trump war meiner Meinung nach nur ein Katalysator, der Entwicklungen beschleunigt hat, mit denen wir uns ohnehin irgendwann hätten auseinandersetzen müssen. Wir sollten die Bedeutung des Mannes für die Medien nicht allzu ernst nehmen.

Wem glaubst Du?

Niemandem. Ist wohl berufsbedingt. Als Journalistin bin ich grundsätzlich skeptisch. Aber ich lasse mich gerne von etwas überzeugen.

Dein letztes Wort?

Tolle Fragen, hat Spass gemacht. Ich musste über Dinge nachdenken, über die ich so noch nie nachgedacht habe.


Seraina Ursina Gross
Seraina Gross ist bin Reporterin für Food und Pharma bei der «Handelszeitung» und stellvertretende Ressortleiterin. Zuvor zwar sie während fast zwanzig Jahren bei der «Basler Zeitung», als Inlandredaktorin, Ressortleiterin Politik und als Korrespondentin in der Romandie. Sie hat in Zürich und Basel Geschichte und Germanistik studiert und ich an der Universität Basel ein Nachdiplomstudium in Marketing und Betriebswirtschaft absolviert.
https://www.handelszeitung.ch/


Basel, 21. Dezember 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Seit Ende 2018 sind über 200 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/

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