Sarah Jäggi: «Die Monokultur im Regionaljournalismus ist ein ernsthaftes Problem»

Publiziert am 6. April 2022 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Sarah Jäggi, stellvertretende Büroleiterin des Schweizerbüros der «Zeit». Sie sagt, «vorauseilende Zensur, dem Chef gefallen oder das eigene Milieu bedienen zu wollen», sei  ähnlich gefährlich wie Fake News, «aber kaum thematisiert». Dass Jugendliche sich viel seltener mit News beschäftigen, habe vielleicht damit zu tun, «dass sich junge Menschen so sicher und aufgehoben fühlen in ihrer Welt, dass sie sich den Luxus leisten können, auf News zu verzichten». Sie würde aber «viel darauf wetten, dass spätestens der Ukraine-Krieg» das ändern werde. Jäggi ist überzeugt, dass wir in der Schweiz eine Medienförderung für den Regionaljournalismus brauchen, weil in der Schweizer Demokratie «die grossen Entscheide so kleinräumig gefällt werden». 

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Aus Gründen der Familien-Demokratie: SRF 1. Im Zug lese ich dann, was im Briefkasten lag oder die Twitter-Bubble bereit hat: «Oltner Tagblatt», «Tagi», «NZZ», «WOZ», «KOLT», «Le Temps», «El Heraldo», «Süddeutsche». 

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram? 

Gehört dazu. Twitter ist ein gutes News- und Recherche-Tool, alle drei sind grosse und manchmal blosse Zeitfresser.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Ich habe eskapistische Formate schätzen gelernt, einen Fernseher gekauft und endlich angefangen, Serien zu schauen. 

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter? 

Weder noch. Ich konnte in den Nullerjahren meine Artikel an drei, manchmal vier Zeitungen verkaufen. Dieses Geschäftsmodell funktioniert heute nicht mehr. Andererseits erschrecke ich manchmal, wie wenig Wert früher auf Sprache und Storytelling gelegt wurde. Als ob Inhalt ohne Form funktionieren würde.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Für den Genitiv sehe ich schwarz, für alles andere nicht.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Bücher. Tove Ditlevsen für ihre Sprache, Virgine Despentes für ihre Geschichten und Michael Fehr für beides.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ich lasse sie im Zug liegen.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Beim Reisen, Lesen und Diskutieren. Oder wenn ich über Themen schreibe, die ich nicht selber gewählt habe.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Solange genügend viele Verlage genügend viele Druckereien davon überzeugen können, ihre Druckmaschinen am Laufen zu halten.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Eine permanente Herausforderung, nicht erst seit Trump. Vorauseilende Zensur, dem Chef gefallen oder das eigene Milieu bedienen zu wollen, sind ähnlich gefährlich, aber kaum thematisiert.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen? 

Live: Covid-Pressekonferenzen, Fussball, «Logo» auf ZDF und das «Echo der Zeit». Tatort: eine Stunde zeitversetzt oder gar nicht.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Zuletzt begeisterte mich der Auftritt von Margaret Atwood in «The Ezra Klein Show» und die Serie über die frühere SP-Präsidentin Ursula Koch, die bei der «NZZ am Sonntag» erschienen ist. Dazu schnause ich gerne in der SRF- und «Zeit»-Küche.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Vielleicht, dass sich junge Menschen so sicher und aufgehoben fühlen in ihrer Welt, dass sie sich den Luxus leisten können, auf News zu verzichten? Ich würde viel darauf wetten, dass spätestens der Ukraine-Krieg der nächsten fög-Umfrage andere Resultate bringen wird. 

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Herr Supino hat diese Aussage vor gut vier Jahren gemacht. Wenn ich den Tagi anschaue, habe ich den Eindruck, dass er nicht ganz auf Kurs ist. Aber natürlich wäre es wunderbar, simple News und den Totomat-Journalismus an Roboter zu delegieren. Erst recht, wenn Pietro Supino seine Redaktoren und Reporterinnen damit freispielen kann für hartnäckige Recherchen und kluge Analysen.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Weder noch. Guter Journalismus hängt auch in Zukunft davon ab, welche Fragen sich die Profis stellen, wieviel Zeit sie haben, um nach Antworten zu suchen und ob sie von Vorgesetzten umgeben sind, die sich für Journalismus interessieren.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Ja. Vor allem die Monokultur im Regionaljournalismus ist ein ernsthaftes Problem in einer Demokratie, in der die grossen Entscheide so kleinräumig gefällt werden wie in der Schweiz. 

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ja. Notizen, To-do-Listen, Ideen und Story-Lines. Ob ich sie später noch lesen kann, ist eine andere Frage.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Im besten Fall hat er all jene wachgeküsst, die dachten, dass gewisse Dinge unantastbar sind: Dass ein Argument gilt, Fakten nicht mit Meinung getoppt werden können und Lügen kurze Beine haben.

Wem glaubst Du?

Menschen mit Expertise, Erfahrung und Herz, denen Zweifel nicht fremd sind.

Dein letztes Wort?

Privilegiert.


Sarah Jäggi
Sarah Jäggi (*1973) hat in Zürich, Basel und La Coruna Geschichte studiert, und danach Lehrmittel für Geschichte geschrieben und für verschiedene Zeitungen gearbeitet. Seit 2015 ist sie im Team des Schweizerbüros der «Zeit» in Zürich. Dort schreibt sie vor allem über Umwelt-, Polit- und Landwirtschaftsthemen. Für ihre verdeckte Recherche über die Abtreibungsgegner in der Schweiz wurde sie mit dem Medienpreis «Aargau Solothurn» ausgezeichnet. Seit Januar 2022 ist sie stellvertretende Büroleiterin des Schweizerbüros der «Zeit».
https://www.zeit.de/schweiz


Basel, 6. April 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
Bild: Lea Hepp

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