Sarah Genner: «Ich sehe in der Medienbranche viel Innovationsgeist»

Publiziert am 15. Dezember 2021 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Digitalexpertin Sarah Genner. Sie sagt, sie erkenne und anerkenne das Gefahrenpotenzial Sozialer Medien, sie «schöpfe persönlich jedoch viel Inspiration daraus und schätze den Austausch und die Vernetzung». Twitter ermögliche zudem Blicke hinter die Kulissen des Medienschaffens: «Nirgendwo kann man Debatten unter Journalist:innen so gut lauschen.» Genner freut sich über die digitale Innovation in der Medienbranche. «Gleichzeitig betrübt es mich sehr, dass das Geschäftsmodell des Schweizer Qualitätsjournalismus durch die digitale Transformation massiv unter Druck geraten ist.» Problematisch findet Genner den Begriff «News-Deprivierte»: «Wir haben kaum sinnvolle Daten, um zu vergleichen, wie gut junge Menschen vor einigen Jahrzehnten mit News versorgt waren.» Sie engagiere sich stark in der Medienbildung, «weil es mir ein Anliegen ist, dass junge Menschen ausgewogen informiert sind.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Ich frühstücke – wenn immer möglich – ohne Bildschirme und tagesaktuelle Papiermedien nutze ich im Alltag keine mehr. 

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram? 

Social Media begleiten mich seit Ende der 90er-Jahre, als sie noch nicht so genannt wurden. Ich las damals ein Blog aus den USA, das sich mit «Social Software» und später «Web 2.0» beschäftigte. In den Nullerjahren begann ich selbst zu bloggen, schrieb meine Lizenziatsarbeit über Blogs und wurde bei der «NZZ» Bloggerin. Bis heute bin ich eine intensive Nutzerin Sozialer Medien – derzeit am intensivsten Twitter, Instagram, LinkedIn und Facebook. Ich erkenne und anerkenne die Gefahrenpotenziale und Kritik, schöpfe persönlich jedoch viel Inspiration daraus und schätze den Austausch und die Vernetzung. Twitter ermöglicht zudem Blicke hinter die Kulissen des Medienschaffens: Nirgendwo kann man Debatten unter Journalist:innen so gut lauschen.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Auf Twitter folge ich epidemiologischen und virologischen Expert:innen und kann mir dadurch zusätzlich zur Pandemie-Berichterstattung in klassischen Medien ein eigenes Bild machen. Ich war leider nie mehr im Kino, dafür hat der zu Pandemie-Beginn neu angeschaffte Smart-TV Hochkonjunktur: Endlich meine Kulturlücke «Seinfeld» auf Netflix schliessen, Filme und Serien auf Apple-TV, Dokumentarfilme in der «Arte»-App, die tollen Serien «Frieden» und «Tschugger» auf PlaySuisse, Spotify für Playlists und Podcasts.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter? 

Kulturpessimismus langweilt mich, blinder Optimismus allerdings auch. Da ich ein Technologie-Fan bin, ist für mich der digitale Wandel zunächst einmal hochinteressant. Ich sehe selbst in der gebeutelten Medienbranche viel Innovationsgeist, tolle neue Medienformate und nie dagewesene Austauschmöglichkeiten unter Medienkonsument:innen und Journalist:innen. Gleichzeitig betrübt es mich sehr, dass das Geschäftsmodell des Schweizer Qualitätsjournalismus durch die digitale Transformation massiv unter Druck geraten ist. Einerseits fehlen die Werbeeinnahmen, die ins Silicon Valley abwandern. Andererseits steigen die Ansprüche des Publikums, auf zahlreichen Kanälen bedient zu werden. Das führt zu einem fast unmöglichen Spagat und zu einem bedauernswerten Braindrain aus dem Journalismus in die wachsende Kommunikationsbranche. 

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Ja.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Qualitätsmedien und gute Bücher. Twitter halte ich für optional.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ich lese oft mehrere Bücher gleichzeitig und lese nicht alle fertig. Wenn ich ein Buch rezensiere, lese ich es gewissenhaft zu Ende. 

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

In Gesprächen, auf Twitter und in digitalen Qualitätszeitungen.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Noch lange, jedoch zunehmend als Nischenprodukt.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Beides. Die gezielte Taktik, die Glaubwürdigkeit von Qualitätsjournalismus unter anderem mit Falschnachrichten zu torpedieren, geht leider teilweise auf. Konkret haben das Phänomen Lügenpresse und Trumps Strategie, guten Journalismus, der ihm gefährlich werden konnte, mit dem Begriff «Fake News» zu verleumden, Spuren hinterlassen. Gleichzeitig ist vielen bewusst geworden, wie wichtig Qualitätsmedien für Demokratien sind, und das ist gut so.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen? 

Tatsächlich selten – am ehesten schaue ich lineares Fernsehen während des Homeoffice-Lunchs. Live-Radio am ehesten am Wochenende, SRF 3 oder SRF 2 Kultur.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Ja. Aktuell höre ich regelmässig «Sway» («New York Times»), «Unter Pfarrerstöchtern» («Die Zeit»), phasenweise «Echo der Zeit» (SRF) und «This American Life» (Chicago Public Radio).

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Die fög-Studien schätze ich grundsätzlich sehr. Der Begriff «News-Deprivierte» hat mich jedoch seit seiner Einführung irritiert. Er wirkt auf mich etwas abschätzig und gleichzeitig wird in der Berichterstattung häufig suggeriert, dass frühere Generationen topinformiert gewesen seien und im Gegensatz zur Snapchat-Jugend brav Qualitätszeitungen gelesen haben. Wir haben doch kaum sinnvolle Daten, um zu vergleichen, wie gut junge Menschen vor einigen Jahrzehnten mit News versorgt waren. Natürlich engagiere ich mich auch deswegen stark in der Medienbildung, weil es mir ein Anliegen ist, dass junge Menschen ausgewogen informiert sind.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Natürlich kann ein kleiner Teil der Sport-, Börsen- und Abstimmungsberichterstattung automatisiert werden. Und wenn Schreibroboter «Tobi» sehr viele Artikel produziert, ist Supinos Prognose nicht unrealistisch. Für echte Analysen und Geschichten, die über Zahlen und Resultate hinausgehen, wird natürliche Intelligenz der künstlichen noch sehr lange überlegen sein. Ich befasse mich seit Jahren mit Automatisierungsdebatten im Arbeitsmarkt. Man kann feststellen, dass es grösstenteils ein Sensationsdiskurs ist, der gerade auch von klassischen Medien befeuert wird. In der Praxis wird in vielen Branchen künstliche Intelligenz ergänzend als Unterstützung bestehender Tätigkeiten verwendet.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Weder noch. Medien und Vertriebskanäle kommen und gehen, Journalismus bleibt.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Ja.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ja, aber tatsächlich kaum noch. 

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Für Boulevardmedien war und ist er ein gefundenes Fressen: Er generiert Aufmerksamkeit, Quoten und Klicks. Er weiss sich medialer Mechanismen zu bedienen. Für Qualitätsmedien ist ein notorischer Lügner in einer solchen Machtposition unerträglich und sehr aufwändig: Die «Washington Post» hat im Verlauf seiner Amtszeit 30’573 falsche oder irreführende Aussagen gezählt. Und er hat laut dem Twitter Trump Archive in fast 900 Tweets aus seiner Sicht missliebige Medien – wie die «Washington Post» oder CNN – als «Fake News» verunglimpft. Gleichzeitig berichtete mir eine gut befreundete US-Journalistin, dass sie gerade während der Trump-Ära auch deutlich mehr Wertschätzung erfahren habe.

Wem glaubst Du?

Menschen, die über längere Zeit mein Vertrauen gewonnen haben.

Dein letztes Wort?

Eines meiner Lieblingszitate, das auch zur Medienbranche im digitalen Wandel passt: «If you don’t like something, change it. If you can’t change it, change your attitude.» (Maya Angelou)


Sarah Genner
Sarah Genner hat in Zürich, Berlin und Harvard Medien- und Kommunikationswissenschaften studiert und promoviert. An der ZHAW forschte und lehrte sie von 2010 bis 2018 zu Mediennutzung, Medienpsychologie und Digitalisierung. Seither ist sie freischaffende Digitalexpertin, Dozentin an verschiedenen Universitäten und Hochschulen und zweifache Verwaltungsrätin.
genner.cc


Basel, 15. Dezember 2021, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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