Sandra Leis: «Der Kulturjournalismus hat gelitten»
Das 216. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Sandra Leis, die seit 1. Februar bei «kath.ch» ein neues Podcastformat entwickelt. Die ehemalige Leiterin der Redaktion «Kultur&Gesellschaft» bei Radio SRF 2 Kultur sagt: «Als Literaturredaktorin musste ich berufsbedingt auch schlechte Bücher zu Ende lesen. Heute lege ich sie nach rund fünfzig Seiten weg, weil das Leben zu kurz ist für schlechte Bücher.» Die Medienbranche sei wie andere Branchen auch im ständigen Wandel. Speziell gelitten habe dabei die Medienvielfalt, «was insbesondere auch der Kulturjournalismus zu spüren bekommt. Gab es vor zwanzig Jahren verschiedene Rezensionen zu einem neuen Roman, so erscheint heute, – wenn überhaupt – eine einzige Besprechung in allen Blättern, die zum selben Konzern gehören.» Sandra Leis ist skeptisch, ob gedruckte Tageszeitungen über die Lebensdauer der derzeitigen Druckmaschinen hinaus Zukunft haben: «Ich vermute, in zehn Jahren wird es kaum noch gedruckte Tageszeitungen geben.»
Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?
Radio SRF 2 Kultur inklusive «Heute Morgen», NZZ, «Tages-Anzeiger» und neu das Online-Portal «kath.ch».
Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?
Twitter und Instagram nutze ich regelmässig, auf Facebook bin ich noch nicht, werde dies zur Lancierung des neuen Podcasts von kath.ch jedoch nachholen.
Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?
Viele Interviews waren nur noch aus dem Studio via Leitung möglich – da ging einiges an Zwischentönen verloren. Digitale Redaktionssitzungen sind eine Zeitersparnis, weil die Reisezeit wegfällt; dem Teamspirit hingegen sind sie nicht förderlich. Heute schätze ich die Möglichkeit der hybriden Treffen, die gab’s vor Corona nur selten. Und ich freue mich über die persönliche Begegnung mit Menschen, die ich zu Interviews wieder vor Ort treffen kann.
Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?
Weder noch. Die Medienbranche ist wie andere Branchen auch im ständigen Wandel. Gelitten hat die Medienvielfalt, was insbesondere auch der Kulturjournalismus zu spüren bekommt. Gab es vor zwanzig Jahren verschiedene Rezensionen zu einem neuen Roman, so erscheint heute, – wenn überhaupt – eine einzige Besprechung in allen Blättern, die zum selben Konzern gehören.
Haben geschriebene Worte noch Zukunft?
Aber sicher!
Was soll man heute unbedingt lesen?
Bücher, die einen eintauchen lassen in eine faszinierende Sprache und eine andere Welt. Zum Beispiel die neapolitanische Romantetralogie von Elena Ferrante. Der erste Band heisst «Meine geniale Freundin» und könnte als Obertitel über allen vieren stehen. Ferrante erzählt von der Freundschaft zweier sehr unterschiedlicher Mädchen aus einem Armenviertel und von der Entwicklung Italiens über ein halbes Jahrhundert.
Zurzeit lese ich den Roman «Schilten. Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz» von Hermann Burger aus dem Jahr 1976. Er wäre im vergangenen Sommer 80 Jahre alt geworden – Anlass für mich, nun endlich diesen ungemein sprachmächtigen Schriftsteller besser kennenzulernen.
Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?
Als Literaturredaktorin musste ich berufsbedingt auch schlechte Bücher zu Ende lesen. Heute lege ich sie nach rund fünfzig Seiten weg, weil das Leben zu kurz ist für schlechte Bücher.
Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?
Bei der Lektüre von Wochenzeitungen und Newslettern, im Gespräch mit Freunden und Verwandten, im Ruderclub und im ÖV.
Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?
Solange es sich für die Medienhäuser noch lohnt und die Druckmaschinen ihren Dienst tun. Ich vermute, in zehn Jahren wird es kaum noch gedruckte Tageszeitungen geben.
Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?
Eine Gefahr. Denn Menschen, die ihnen erliegen, sind meist ziemlich immun gegen Faktenchecks.
Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?
Am Morgen Radio (siehe oben) und abends zeitversetzt Fernsehen, zum Beispiel die «Tagesschau» und die «Heute-show».
Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?
Ja, sehr gerne! Beim Sport (Fitness und joggen), beim Kochen und unterwegs. Regelmässig höre ich «Sternstunde Religion», «Perspektiven», «Kontext», «Kultur-Talk», «Passage», «LiteraturPur», «Unter Pfarrerstöchtern» und «Die Podcastin».
Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?
Das ist erschreckend und eine der ganz grossen Herausforderungen für die Medienbranche. Denn ohne gut informierte Bürgerinnen und Bürger verkommen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zur Farce.
Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?
Teilweise sicher. Doch Recherche, Fachwissen und ein pointiert-eleganter Schreibstil lassen sich nicht so leicht automatisieren.
Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?
Weder noch. Die Digitalisierung schafft neue Vertriebskanäle und verlangt nach neuen Formaten und Formen der Vermittlung, die den heutigen Bedürfnissen entsprechen und hoffentlich auch junge Menschen erreichen. Das heisst, die klassische Zeitung, das klassische Radio und Fernsehen müssen Federn lassen, weil nicht mehr, sondern tendenziell weniger finanzielle Mittel zur Verfügung stehen.
Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?
Ja. In einem kleinen und wegen der Mehrsprachigkeit sehr fragmentierten Markt braucht ein vielfältiges und qualitativ hochstehendes Medienangebot öffentliche Gelder.
Schreibst Du manchmal noch von Hand?
Ja, To-do-Listen (am liebsten streiche ich Erledigtes durch), Einkaufszettel, Notizen und Karten.
Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?
Schlecht. Erstens weil er Lügen in die Welt setzt und zweitens weil viele Medien ihm viel zu viel Platz einräumen.
Wem glaubst Du?
Menschen, denen ich vertraue.
Dein letztes Wort?
Lasst uns umsichtig mit dem Nachwuchs umgehen, damit guter Journalismus Zukunft hat.
Sandra Leis
Sandra Leis studierte Germanistik und Kunstgeschichte in Zürich und Berlin. Nach Stationen bei der «Weltwoche», beim Berner «Bund» und der Gewerkschaft Syna wechselte sie 2012 zu SRF, wo sie in unterschiedlichen Funktionen für Radio SRF 2 Kultur tätig war. Die letzten drei Jahren leitete sie die 25-köpfige Redaktion «Kultur & Gesellschaft». Seit 1. Februar 2023 arbeitet sie für das Online-Portal kath.ch und entwickelt einen neuen Podcast.
https://www.kath.ch/
Basel, 15. Februar 2023, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
Seit Ende 2018 sind über 200 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/
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Ein Kommentar zu "Sandra Leis: «Der Kulturjournalismus hat gelitten»"
Ob ich ein Buch sogenannt gut oder sogenannt schlecht finde, scheint mir sehr subjektiv und auch situativ. Bücher, die mir beim Lesen nicht entsprechen, kann ich nicht wegwerfen: ich lege sie auf die Seite. Zur Zeit lese ich Bücher aus meiner Bibliothek, die mich auf Anhieb nicht angesprochen haben. So beispielsweise vor zehn Jahren „Das Erwachen der Senorita Prim“ von Natalia Sanmartin Fenollera: Eine traumhaft schöne und wunderbare Geschichte. – Was den Journalismus betrifft, so staune ich noch und noch, was mir von den Massenmedien vorenthalten wurde, und wie der Gap zwischen der Realität, wie ich sie erlebe und sehe, und dem, was davon und darüber berichtet wird, immer noch grösser wird: wie wenn es zwei Welten wären!