Samuel Tanner: «Wichtig ist nicht das Papier, sondern der Text»

Publiziert am 8. März 2023 von Matthias Zehnder

Das 219. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Samuel Tanner, Inlandredaktor der «NZZ». Er sagt, dass es früher «schon viele tolle Leute mit eigener Sprache» gegeben habe. Er selbst liest deshalb oft «Reportagen aus dem ‹Tagi-Magi› oder aus der ‹Weltwoche› der Neunziger- und Nullerjahre». Tanner sagt aber auch, dass von der Sprache abgesehen alles andere seither in den Medien «wahrscheinlich besser» geworden sei. Bloss die Repräsentanz nicht: «Wir sind in den Redaktionen sicher zu wenig divers: zu alt, zu Zürich, zu GLP, zu Uniabschluss, zu Kunstmuseum.» Tanner ist überzeugt, dass die Digitalisierung zur Befreiung des Journalismus geführt hat: «Nie war mehr möglich als jetzt.» Im Übrigen will er nicht glauben, dass sich Journalismus automatisieren lässt.

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Ich schlafe am Morgen leider so lange es irgendwie geht. Dann scanne ich, was man als Inlandjournalist scannen muss: die E-Papers von «NZZ», «Tagi», «St. Galler Tagblatt», meaning CH-Media, dann «Blick», Twitter.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Auf Facebook geh ich nur noch, um die neusten Kaspar-Surber-looking-at-things-Bilder anzuschauen. Auf Instagram schau ich, wer von meinen alten Freundinnen und Freunden ein neues Kind bekommen hat. Twitter ist Arbeit.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Eine Zeit lang fand ich Bundesrats-Pressekonferenzen extrem spannend, jetzt ist aber alles wieder so, wie es früher war.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Ich lese oft Reportagen aus dem «Tagi-Magi» oder aus der «Weltwoche» der Neunziger- und Nullerjahre, da gab es schon viele tolle Leute mit eigener Sprache. Alles andere ist wahrscheinlich besser geworden.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Ja. Ich checke sowieso nicht, wieso man nicht lesen will, wenn man lesen kann.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Mein journalistisches Vorbild, seit immer, ist Alexander Osang vom «Spiegel». Sein Buch «Fast hell» hab ich bestimmt schon zehn Mal verschenkt und würde es jederzeit wieder. Wer ihn liest, will sofort selber schreiben. Sonstige Favoriten: Thomas Hürlimann, Annie Ernaux, Hermann Burger, Joseph Roth, Dürrenmatt.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Weglegen.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

In alten Reportagebänden. Gerade habe ich über vercrackte Kannibalen im Monrovia der Neunzigerjahre gelesen. Sonst ganz klassisch: im Auslandteil der «NZZ», in den Lokalzeitungen, in den Feuilletons, die es noch gibt (Lieblingslektüre in den Zeitungen), manchmal bei «11 Freunde».

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Find ich nicht so entscheidend. Ich lese zwar, wenn immer möglich, auf Papier. Aber wichtig ist nicht das Papier, sondern der Text.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Ich weiss es nicht.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Nur noch Sport. Wenn ich am Samstagmorgen das Skirennen oder am Sonntagnachmittag St. Gallen-Luzern einschalte, kann ich abschalten.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Ja, unbedingt. Am Montagabend mache ich am liebsten nichts ab und höre, aneinandergereiht, «Roger vs. Markus», «Dritte Halbzeit» und «Die sogenannte Gegenwart». Leider unoriginell, aber die Podcasts der «Zeit» sind eh super: auch «Unter Pfarrerstöchtern» oder «Alles gesagt».

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Wir sind in den Redaktionen sicher zu wenig divers: zu alt, zu Zürich, zu GLP, zu Uniabschluss, zu Kunstmuseum. Es liegt an den Medien selbst, die Leute zu gewinnen.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Das will ich nicht glauben.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Zur Befreiung. Nie war mehr möglich als jetzt.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Nicht mehr, als wir jetzt haben.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ja, fast alle Notizen. Und die Notizbücher bewahre ich, für was auch immer, auf.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Er war eine gute Geschichte.

Wem glaubst Du?

Altmodisch, wie ich bin: Büchern.

Dein letztes Wort?

Immer rausgehen.


Samuel Tanner
Samuel Tanner ist 1991 geboren 1991 und in Marbach im St. Galler Rheintal aufgewachsen. Er war Banklehrling und begann dann als Lokaljournalist beim «Rheintaler». Er ist Absolvent des Medienausbildungszentrums in Luzern und des Literaturinstituts in Biel. Er war Reporter für die «Basler Zeitung» und die «NZZ am Sonntag». Und er ist Gewinner des Swiss Press Awards und des Nachwuchspreises des Zürcher Journalistenpreises, zudem wurde er als Sportjournalist des Jahres ausgezeichnet. Seit November 2021 arbeitet er auf der Inlandredaktion der «NZZ».
https://www.nzz.ch/impressum/samuel-tanner-sta-ld.1673296


Basel, 8. März 2023, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Ein Kommentar zu "Samuel Tanner: «Wichtig ist nicht das Papier, sondern der Text»"

  1. Der Ausgangspunkt jedes Interviews sind gute Fragen. Dies ist hier dank des profunden, unermesslichen Medienwissen durch Herr Dr. M. Zehnder gegeben.
    Der heutige „Gast“ gibt darauf unglaublich frische, pfiffige, ja man merkt, junge Antworten.
    Auf die Frage „Führt die Digitalisierung zum Tod oder Befreiung der Medien“ sagte er positiv gestimmt: „Zur Befreiung. Nie war mehr möglich als jetzt.“ Wie recht er hat. Ich möchte also nicht mehr zurück zur (vorkäuenden) „National-Zeitung“, zu „RadioBeromünster“ in Sachen Nachrichten (eine Wahrheit, sonst – mangels anderen Kanälen – keine Wahrheit mehr weit und breit), aber z.B. auch in Sachen Musik muss man sich von einem FM (Francois Mürner) nicht mehr vorschreiben lassen, was man hören muss und was man gut oder schlecht zu finden haben hat…
    Auch ob die Medien staatlich gefördert werden müssen – aus junger, anderer, innovativer und voll Ideen sprühender Sicht gar nicht mehr so zwingend, wie man aus der Antwort von Hr. Tanner hervorspüren kann.
    Und ob Trump gut oder schlecht war – antwortete Hr. Tanner ganz Journalist: „Eine gute Geschichte.“
    Ganz Profi, vom Job her gesehen, er vermischt nicht persönliche Sympathie oder Antipathie mit den Berufsfragen (wie andere: Schrecklich, Monster, Gift = sprich ihre persönliche Ansicht auf eine Jobfrage vermischen).
    Nein – solcher erfreulicher Journalistennachwuchs mach Hoffnung und Freude und Perspektiven….

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