Reto Lipp: «Wer hat schon Zeit, stundenlange Podcasts zu hören.» 

Publiziert am 22. Februar 2023 von Matthias Zehnder

Das 217. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Reto Lipp, Moderator und Wirtschaftsjournalist beim Schweizer Fernsehen SRF. Er kritisiert den Tempo-Druck im heutigen Journalismus: «Heute muss alles in dem Moment über den Sender gehen, in dem es passiert.» Das führe «unweigerlich zu Fehlern und Fehleinschätzungen, was wiederum dem Image des Journalismus massiv schadet.» Lipp ist gar kein Anhänger des zeitverschobenen Fernsehkonsums: Live-Fernsehen mache bei ihm «den ganz grossen Teil des Fernsehkonsums aus. Die Idee, dass alle nicht linear schauen, ist völlig unrealistisch. Wer will schon Sport oder News zeitverschoben sehen?» Skeptisch sieht er auch Podcasts, vor allem dann, wenn sie «wenig professionell gemacht sind»: Zum Beispiel Printjournalisten, «die jetzt auch noch ein bisschen Talken müssen. Da ist mir Radio lieber.» Und die Tageszeitung, wenn auch auf dem Tablet: «Das ist viel besser als im Internet selbst auf die Suche zu gehen. Weil man dann nur das sucht, was man tendenziell eh schon kennt.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Ich frühstücke unter der Woche immer nur sehr kurz, da schaffe ich gerade einen kurzen Blick auf die Schlagzeilen von «Tages-Anzeiger» und «NZZ».

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Von den dreien kommt mir von meinem Temperament her Twitter am nächsten. Facebook und Instagram brauchen private Fotos. Und das mache ich nicht. Berufs- und Privatleben versuche ich strikt getrennt zu halten. Ich habe keine Lust, mein Privatleben zu zelebrieren.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Eigentlich kaum. Ich bleibe den klassischen Medien treu.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Sicher nicht schlechter. Die meisten Journalisten sind heute viel besser ausgebildet. Was früher besser war: Man hatte mehr Zeit für die Recherche. Heute muss alles in dem Moment über den Sender gehen, in dem es passiert. Das führt unweigerlich zu Fehlern und Fehleinschätzungen, was wiederum dem Image des Journalismus massiv schadet.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Auf jeden Fall. Zumindest solange meine Generation noch lebt. (Und das geht hoffentlich noch ein Weilchen.)

Was soll man heute unbedingt lesen?

Ich finde den «Econmist» sehr gut und plädiere auch dafür, möglichst viele ausländische Zeitungen zu lesen. Zum Beispiel die «Süddeutsche», die «FAZ» oder «Le Monde». Das sind alles grosse Vorbilder auch für den Schweizer Journalismus.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ich lese selbst die mühsamsten Bücher immer zu Ende. Gerade jetzt lese ich das neue Buch von Peter Stamm – und ganz ehrlich, – ich tue mich sehr schwer.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Das ist der grosse Vorteil einer Tageszeitung. Die Journalisten machen eine Vorauswahl von Themen. So lese ich dort immer wieder Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte oder von denen ich nichts wusste. Das ist viel besser als im Internet selbst auf die Suche zu gehen. Weil man dann nur das sucht, was man tendenziell eh schon kennt.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Ich hoffe doch noch lange. Ich bin ein Fan. Lese heute aber die Tageszeitung auf dem Tablet.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Klar sind Fake-News eine Gefahr. Eine Gefahr sind auch Bildbearbeitungsprogramme und Avatare, die inzwischen von echten Menschen nicht mehr zu unterscheiden sind. Das wird uns noch ganz intensiv beschäftigen. Ein Foto ist heute kein Beweis mehr dafür, dass etwas wirklich echt ist.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Da ich viele News-Sendungen konsumiere, schaue ich sie meist live oder ganz kurz verschoben, weil ich später heimkomme und die Sendung noch schauen will. Noch immer macht das Live-Fernsehen den ganz grossen Teil des Fernsehkonsums aus. Die Idee, dass alle nicht linear schauen, ist völlig unrealistisch. Wer will schon Sport oder News zeitverschoben sehen?

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Ich höre vor allem französische Radio-Sendungen als Podcasts («face à Duhamel»). Nur für Podcasts gemachte Podcasts höre ich selten. Diesen angeblichen Podcast-Boom halte ich für übertrieben. Wer hat schon Zeit, zum normalen Medienkonsum noch stundenlange Podcasts zu hören, die dann oft noch wenig professionell gemacht sind? Zum Beispiel Printjournalisten, die jetzt auch noch ein bisschen Talken müssen. Da ist mir Radio lieber.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Das finde ich natürlich schlecht. Ich bin nur nicht sicher, ob ich damals zwischen 16- und 29 – hätte ich nicht bei einem Radio gearbeitet, – so wahnsinnig viel News gehört hätte. Ich stelle einfach fest, dass das, was man das, was man im Alter unter 30 wahnsinnig unterhaltsam und lustig gefunden hat, mit 40 nicht mehr hören und sehen kann. Das Alter verändert.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Ich denke schon, dass man Texte automatisieren kann, wenn man die heutige Entwicklung mit der künstlichen Intelligenz betrachtet. Ich muss aber auch gestehen, dass ich das deprimierend finde. Aber auch das ist vermutlich eine Altersfrage.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Leute wollen immer eine Geschichte hören. Dafür sorgt der Journalismus. Auf welchem Träger die Geschichte dann läuft, ist eigentlich unerheblich. Deshalb bin ich für den Journalismus zuversichtlich. Für die klassischen Medien weniger.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Ein Land mit vier Sprachen und einer direkten Demokratie braucht lebendige Medien. Dass allein die Privatwirtschaft dies nicht leisten kann, zeigt nur schon die Wirtschaftsberichterstattung. Weder European Business Channel, noch Cash TV, CNN Money und sogar «SRF Eco» gibt es noch. Das zeigt, wie schwer es zum Beispiel der Wirtschaftsjournalismus hat, der doch genau so wichtig ist wie der Politjournalismus.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Selbstverständlich. Ich finde Papier sehr sinnlich. Viel sinnlicher als das Tablet. Ich lese auch (Belletristik)-Romane immer als Print-Ausgabe.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Auflage- und Einschaltquoten-mässig sicher gut. Demokratiemässig fatal.

Wem glaubst Du?

Ich glaube seriösen Journalisten/innen, denn es gibt immerhin einen Journalisten-Kodex und einen Presserat. In den sozialen Medien herrscht dagegen Wildwuchs ohne Grenzen.

Dein letztes Wort?

Ein gutes Buch ist besser als jede Promi-Cocktail-Party.


Reto Lipp
Reto Lipp ist seit 2007 Moderator und Wirtschaftsjournalist beim Schweizer Fernsehen SRF. Nach einem Ökonomiestudium startete er beim damaligen «Radio Z», später führte er den Finanzbund der «HandelsZeitung», gab das Anleger-Magazin «Stocks» heraus, war kurz bei der UBS und landete 2007 als Moderator beim Wirtschaftsmagazin «Eco» des Schweizer Fernsehens. Seit Sommer 2021 moderiert er die Nachfolge-Sendung «Eco Talk». Er moderiert auch «SRF Börse« und analysiert das Wirtschaftsgeschehen regelmässig in der «Tagesschau« oder in «10vor10». Er wurde gerade von der Zeitschrift «Journalist:in» auf Platz 3 der Schweizer Wirtschaftsjournalisten gewählt.
https://www.srf.ch/news/wirtschaft


Basel, 22. Februar 2023, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Seit Ende 2018 sind über 200 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/

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2 Kommentare zu "Reto Lipp: «Wer hat schon Zeit, stundenlange Podcasts zu hören.» "

  1. Schön, wenn Herr Lipp als Mainstream-Journalist im SRF sagt, dass sein «keine Zeit haben» und Überfluss sogar auch wirtschaftlich betrachtet in einem Zusammenhang gesehen werden können. Zu viel des Guten von ihm erwartet wäre wahrscheinlich ein Hinweis darauf, dass ein echter Wohlstand folgende fünf Dimensionen eines neuen, ganzheitlichen Wohlstandsbegriffs meint: Zeit, erfüllende Beziehungen, Kreativität, Verbundenheit mit den Mysterien des Lebens sowie mit der unbändigen Schönheit der Natur. Ob sich wohl auch Herr Lipp bewusst sein mag, dass ein solch umfassender und nicht nur materieller Reichtum nicht im Widerspruch zu einem fundamental notwendigen Wandel steht, sondern im Gegenteil dadurch erst ermöglicht wird? Eine Voraussetzung dafür ist allerdings, dass wir uns dem Trauma und dem Schmerz der inneren Armut in unserer Gesellschaft stellen und uns mit unserer Sehnsucht nach einem guten Leben für alle verbinden.

  2. Sehr gutes Interview, sehr guter Mann. Ihm merkt man seine Leidenschaft zur Wirtschafts-Thematik an. Er nimmt Zuschauer ernst, auf Augenhöhe, er will informieren und nicht erziehen. Keine Barriere zwischen Moderation und Zuschauer. Er will erklären und nicht belehren.
    Welten, Planeten zwischen den SRF-Sendungen tun sich da auf. Mit freundlicher Ansage, mit normalem Adieu beendet er seine Sendungen.
    Ohne „Chichi“, aber von Herzen. Wie damals Moderatoren wie Paul Spahn oder Leon Huber. Ihr Markenzeichen war eine nahezu perfekte Aussprache ohne Versprecher. Herr Lipp knüpft an sie an.
    Doch dann begann der Hang zur Selbstdarstellung beim Zwangsgebühren-Sender SRF: Stephan Klapproth mühte sich jeweils mit etwas Originellem ab. Nachfolgende „Sich-ins-Zentrum-Steller“ flöteten pseudosozial ein „Machen sie es gut“, was nach ewiger Trennung tönt…
    Neue Massstäbe in der Kunst der Verabschiedung setzt jetzt die Sendung „Kassensturz“. Genauer die Moderatorin Bettina Ramseier. Sie macht es nämlich so: „Wir sehen uns in einer Woche wieder. Bleiben Sie anständig, haben Sies gut und bis dann.“
    Was qualifiziert eigentlich den Kassensturz/Bettina Ramseier, das Publikum zum Anstand anzuhalten? Etwa das SVP-Bashing kurz vor den Wahlen wie der Ombudsmann festhielt? Oder die Sexismus-Skandale im eigenen Hause SRF und und und….
    Die Fernsehmacher sollten nicht von sich auf andere schliessen. Denn in der realen Welt gibt es anständige Menschen. Doch unsere öffentlich-rechtlichen Pädagogen vor der Kamera genügt es nicht, anständig zu sein. Denn anständige Menschen wissen stets, warum alle andern unanständig sind. Empfohlen sei Bettina Ramseier folgende Abmoderation: „Herzlichen Dank, liebe Zwangsgebühren-Zuschauer, für ihren Anstand, mir so einen unanständigen Lohn zu bezahlen….“
    Herr Reto Lipp ist das wohltuende Gegenteil von dem Allem. Zu Schade fürs SRF. Aber wo will man schon hin in der Schweiz bei dieser staatlich-politisch gewollten SRG-Dominanz….
    Im seinem/meinem nächsten Leben sieht es vielleicht anders aus….

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