Raphael Zehnder: «Wer alles mitkriegen will, ist nie bei sich selbst»

Publiziert am 10. März 2021 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Raphael Zehnder, Kulturjournalist bei Radio SRF und Schriftsteller. Er schätzt Fake News als Gefahr ein, «weil sie die Lüge zum Normalfall machen und trotzdem viele Anhänger finden.» So werde die Grenze des Sagbaren «immer weiter ins Ungeheuerliche verschoben.» Das Resultat: «Die Menschen bewegen sich auseinander.» Wichtig sei deshalb dass «eine lebendige Diskussionskultur» gepflegt werde, und zwar «in der Schule, zuhause und in den Medien». Die aber haben es schwer, weil ihr «Publikum mittlerweile voraussetzt, journalistische Leistungen gratis zu bekommen». Zehnder findet deshalb: «Die Branche ist in einem kritischen Zustand.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Beim Frühstück das Gespräch mit meiner Familie. Danach die «bz basel», damit ich regional einigermassen auf dem Laufenden bin, und die Nachrichten von Radio SRF. Danach ein Blick auf die Nachrichten von «Le Monde», «Guardian» und BBC. Das mache ich digital.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Ich bin auf allen dreien präsent, aber dosiert. Ich beschränke mich auf konstruktive Personen und sachliche, informative Quellen. Ein bisschen Spass ist auch dabei. Auf Twitter schreibe ich seit vier Jahren jeden Werktag über #schoenesachen wie zum Beispiel Lavendelduft, den Gedanken an Eisbären oder Bescheidenheit, um der permanenten Aufregung ein Quäntchen Positivmeldungen entgegenzusetzen. Da bin ich mittlerweile bei Nummer 963. Manche Leute freuen sich jeden Tag über #schoenesachen.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Ich lese noch mehr Belletristik als ohnehin schon. Auf den Grossteil der Corona-bezogenen Polemik verzichte ich. Über das C-Thema informieren mich die Berichte der SRF-Wissenschaftsredaktion. Die finde ich am verlässlichsten.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Die Vielfalt war deutlich grösser. Heute versorgen Zentralredaktionen flächendeckend ganze Regionen. Viele Journalistinnen und Journalisten leiden unter Zeitdruck. Das hilft der Qualität nicht.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Ja. Geschrieben wird seit Tausenden von Jahren. Wir sollten nicht so vermessen sein zu denken, diese Kulturtechnik sei überflüssig. Eine Welt nur aus Bildern, Piktogrammen und Kürzeststoffen wäre für mich fad. In jedem Wort steckt eine Welt. Deshalb liebe ich auf SRF 2 Kultur die Rubrik «100 Sekunden Wissen».

Was soll man heute unbedingt lesen?

Den Text der Europäischen Menschenrechtskonvention und den Grundrechtekatalog sowie die Präambel der Bundesverfassung: «gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen».

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Wenn mir ein Buch nach dreissig Seiten nicht zusagt, inhaltlich wie stilistisch, klappe ich es endgültig zu. Es gibt genügend Bücher, mit denen ich gerne Zeit verbringe. Ich bin ein Vielleser, aber immer schön ein Buch nach dem anderen.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Meist im Gespräch mit meiner Familie. Meine Kinder sind im oder kommen ins Teenageralter. Da tauchen Themen und Sichtweisen auf, die mich zum Denken anregen. Viel erfahre ich auch beim Durchblättern von allem Gedruckten, von Plakaten, im Radio, in Museen und manchmal auf Twitter.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Kaffeesatzlesen kann ich nicht. Aber im Café die Zeitung lesen, das mag ich sehr gerne, und ich bin nicht der Einzige. Lesen auf Papier behagt mir mehr als Lesen am Bildschirm. Das Rascheln der Seiten, der schnelle Überblick, die Überraschung, weil ich dort auf Sachen stosse, die interessant sind und die ich digital nicht anklicken würde. Auf gedruckte Zeitungen möchte ich nicht verzichten.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Eine Gefahr. Weil sie die Lüge zum Normalfall machen und trotzdem viele Anhänger finden. So wird die Grenze des Sagbaren immer weiter ins Ungeheuerliche verschoben. Die Menschen bewegen sich auseinander.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Radio höre ich viel… Nachrichten von Radio SRF und die Sendung «Kontext» auf SRF2 Kultur, für die ich meist arbeite. Beim Kochen am Sonntag gerne «52 Beste Bücher», am Samstag «Musik für einen Gast». Dadurch habe ich schon viele interessante Menschen kennengelernt. Am Radio erfahre ich alles Wichtige – und viel Neues, Hintergründiges. Aber ich bin ein schlechter Fernsehzuschauer. Ich lese lieber. Da kann ich die Bilder und das Tempo selbst bestimmen.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Selten. Der Tag hat bekanntlich nur 25 Stunden, und ich kann mich nicht die ganze Zeit, in der ich wach bin, mit Inhalten beschäftigen. Es gibt noch anderes im Leben als Medien. Natürlich verpasse ich auf diese Weise vieles, das auch interessant und gut wäre. Wer alles mitkriegen will, ist nie bei sich selbst.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Man weiss aus Studien: Das Interesse an Information steigt mit wachsendem Alter. Das relativiert diese Zahl etwas. Ich erlebe viele Kinder und Jugendliche als sehr an Nachrichten und Hintergründen interessiert. Die Eltern müssen das vorleben. In unserem Wohnhaus haben meines Wissens nur noch zwei von zwölf Partien eine Tageszeitung abonniert… Medien müssen noch stärker als bisher daran denken, ihre Inhalte verständlich und anschaulich zu vermitteln. Ein guter Text, eine gute Reportage vermag alle anzusprechen, egal um welches Thema es geht. Wichtig ist eine lebendige Diskussionskultur, die in der Schule, zuhause und in den Medien gepflegt wird.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Nein. Sicher nicht, wenn Journalismus neugierig, kritisch, ungewöhnlich und sprachlich gut sein will.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Als Leser und beim Recherchieren stosse immer wieder auf ergiebige Quellen im Internet. Informationen, die ich in der vordigitalen Zeit mühsam telefonisch herausfinden musste, sind heute oft schnell aufzufinden. Natürlich besteht die Gefahr, sich in der Masse der Informationen zu verlieren. – Die Verlage dagegen stehen vor dem Problem, dass ihr Publikum mittlerweile voraussetzt, journalistische Leistungen gratis zu bekommen, und dass die Werbung zu Internetkonzernen abwandert. Deshalb werden Redaktionsstellen abgebaut und Medientitel ausgedünnt. Das merken die Leserinnen, Hörerinnen und Zuschauer und wenden sich ab. Die Branche ist in einem kritischen Zustand.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Ja, solange Unternehmen genügend Geld in journalistische Stellen investieren und das Publikum bereit ist, für die Arbeit der Journalistinnen und Journalisten zu bezahlen.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ja, ich habe immer ein Notizbuch und einen Stift in meiner Jackentasche. Ideen kommen mir immer und überall und nicht nur, wenn ich mich an den Computer setze. Und ich liebe es, Briefe und Postkarten zu schreiben.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Schlecht. Wegen seiner permanenten Lügen und seiner Ego-Show. Damit hat er weltweit viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen und von den wirklichen Problemen abgelenkt. Wichtiger als seine Selbstdarstellung sind Demokratie und die Menschenrechte. Was hat Trump für die Gesellschaft geleistet? Auf seiner Agenda standen nicht Themen wie soziale Ungleichheit, Bildungsgefälle, die Schere zwischen Arm und Reich, Geschlechtergerechtigkeit, Rassismus… Er hat nur destruktiv Aufregung produziert.

Wem glaubst Du?

Meinem eigenen Verstand – der sich auch gerne eines Besseren belehren lässt. Denken ist zumutbar und eine Bereicherung im Leben. Ich finde es eine Verarmung, wenn alles vereinfacht wird.

Dein letztes Wort?

Am 23. März erscheint mein neuer Krimi «Müller und die Schützenmatte». Nur soviel: Es geht um Fussball. Auf dieses Buch freue ich mich wie über den Frühling.


Raphael Zehnder:
Raphael Zehnder, geboren 1963, ist in Birmenstorf AG aufgewachsen. Nach 26 Jahren in der Stadt Zürich zog er 2008 mit seiner Familie nach Basel. Er hat in Zürich französische, mittellateinische und lateinische Sprach- und Literaturwissenschaft studiert und in französischer Literatur promoviert. Ende der Achtzigerjahre begann er als Rockmusik-Journalist u.a. für die «WoZ», die «Basler Zeitung» und das «Aargauer Tagblatt» zu schreiben. Seit 2002 arbeitet er als Redaktor für Radio DRS bzw. SRF2 Kultur, hauptsächlich für die Sendung «Kontext». Ausserdem schreibt er Kriminalromane: Am 23. März erscheint sein achter Krimi «Müller und die Schützenmatte» (Emons, Köln).

www.raphaelzehnder.ch


Basel, 10. März 2021, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

PS: Nicht vergessen – Wochenkommentar abonnieren. Kostet nichts, bringt jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen Kommentar, den aktuellen «Medienmenschen» einen Sachbuchtipp und einen Video-Buchtipp auf einen Roman:
www.matthiaszehnder.ch/abo/

 

Ein Kommentar zu "Raphael Zehnder: «Wer alles mitkriegen will, ist nie bei sich selbst»"

  1. Toll: Vieles, was Herr (Raphael) Zehnder sagt, stimmt sehr mit meinen Gedanken und Ideen überein. Neu ist für mich die Einschätzung und Erkenntnis, dass es immer mehr Medien, aber dabei immer weniger Vielfalt gibt. Ein Paradox, das aber in vielen (Lebens-)Bereichen anzutreffen ist.

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