Petra Ivanov: «Vieles, was heute als News verkauft wird, ist Unterhaltung»

Publiziert am 5. August 2020 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – im Sommer mit Schweizer SchriftstellerInnen. Heute: Krimiautorin Petra Ivanov. Sie empfindet soziale Medien als Zeitverschwendung und sagt: «Ich bin an Hintergründen interessiert.» Wenn sie Informationen braucht, liest sie lieber ein Sachbuch, recherchiert im Internet oder führt Gespräche mit Fachpersonen. In den Medien sei die Nachfrage nach fundierten Inhalten stark gesunken. Sie selbst ist bekannt für ihre präzisen Recherchen. Damit sie weiss, wie sich ein Schiesseisen anfühlt, greift sie schon mal selbst zum Revolver. Und schiesst scharf.

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Mein Tag beginnt mit Schreiben. Erst wenn der Hunger den Fluss unterbricht, frühstücke ich. Dabei lasse ich das Geschriebene nachklingen. Jedes Medium würde mich stören und emotional aus der Geschichte reissen.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Ich halte mich so wenig wie möglich und so viel wie nötig auf sozialen Medien auf. Wobei ich immer noch nicht weiss, wie viel tatsächlich nötig ist. Ich bezweifle, dass sich Buchverkäufe über Facebook & Co. steigern lassen. Ich persönlich empfinde soziale Medien als Zeitverschwendung. Ich bin an Hintergründen interessiert. Wenn ich Informationen brauche, lese ich Sachbücher, recherchiere im Internet oder führe Gespräche mit Fachpersonen. Wenn ich die Nähe zu Menschen suche, dann treffe ich mich lieber in der realen Welt mit ihnen.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Ich rufe öfter ausländische Online-Medien auf, um gezielt nach Informationen zu suchen. Da ich in New York aufgewachsen bin, hat mich die Situation dort stark beschäftigt, und ich habe mir regelmässig CNN-Beiträge angeschaut. Weiter faszinieren mich die Verschwörungstheorien, die in den Medien kursieren. Als Kriminalautorin befasse ich mich häufig mit extremen Reaktionen. Ich versuche, die Beweggründe zu verstehen und mich mit den Argumenten vertraut zu machen. Dazu lese ich auch die Kommentare auf Online-Plattformen.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Alles war anders. Ich habe viele Jahre als Journalistin gearbeitet. Aufgehört habe ich, weil die Arbeitsbedingungen immer schlechter wurden. Gleichzeitig sank auch die Nachfrage nach fundierten Inhalten. Ist das besser oder schlechter? Wohl einfach ein Spiegel der Gesellschaft.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Manchmal überkommen mich Zweifel. Kürzlich hielt ich eine Lesung an einer Berufsschule. Da fragte mich ein Lernender: «Mal ehrlich, wer liest so etwas freiwillig?» Mit «so etwas» war ein Buch gemeint.

Was muss man unbedingt gelesen haben?

Gar nichts. Lesen empfinde ich als Privileg, nicht als Muss.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Weglegen kann ich sie leider nicht. Dazu bin ich einfach zu neugierig. Aber wenn mir ein Buch gar nicht gefällt, lese ich es quer.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Auf Reisen, beim Lesen und im Gespräch mit Menschen. Häufig spielt der Zufall eine Rolle. Die Idee zu meinem Kriminalroman «Alte Feinde» zum Beispiel entstand auf einer Reise im amerikanischen Bundesstaat Georgia. Ich stiess auf ein Denkmal zu Ehren von Heinrich H. Wirz, einem Schweizer, der in den USA wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit hingerichtet wurde. In den Südstaaten wird er noch heute als Märtyrer verehrt, im Norden als Kriegsverbrecher beschimpft. Ich hatte den Namen noch nie zuvor gehört und bin der Geschichte nachgegangen. Die nächsten Jahre habe ich mich mit dem Sezessionskrieg auseinandergesetzt und die Rolle von Schweizern und insbesondere Heinrich H. Wirz studiert.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Vielleicht spielen dabei auch Ereignisse wie das Corona-Virus eine Rolle? Manchmal frage ich mich, wie häufig Gratiszeitungen noch in die Hände genommen werden.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Fake News gab es schon immer. Erneut muss ich an meine Recherchen zu «Alte Feinde» denken. Mit ein Grund für die Verurteilung von Heinrich H. Wirz waren die Medien, die gezielt einseitig und teils bewusst falsch berichtet haben. Heute werden Fake News einfach schneller verbreitet. Meine Hoffnung ist, dass sie auch schneller erkannt werden, weil die Menschen sensibilisierter sind.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Ich höre täglich die Nachrichten am Radio, aber immer zeitversetzt.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Dafür bin ich zu ungeduldig. Ich lese lieber in meinem Tempo.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Das kommt darauf an, was mit News gemeint ist. Vieles, was heute als News verkauft wird, ist Unterhaltung.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Das Musical «Beyond the Fence» soll von einer KI-Software geschrieben worden sein, und in Japan soll ein Buch, ebenfalls von einem Computer geschrieben, es bis in die zweite Runde eines Literaturpreises geschafft haben. Wenn das keine Fake News sind, lässt sich vielleicht auch der Journalismus automatisieren. Die Frage ist allerdings, zu welchem Preis. Das Musical soll ziemlich vorhersehbar sein.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

An einer Lesung wurde ich einmal gefragt, weshalb ein E-Book etwas koste. «Es steckt ja keine Arbeit dahinter», meinte die Zuschauerin. «Es ist ja alles nur digital.»

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Ich wage keine Prognosen, zu sehr überrascht mich die Welt immer wieder.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ja, Brief, Postkarten und meine Einkaufsliste.

Ist Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Beides. Einerseits spaltet er die Medien, indem er sie für seine Zwecke einsetzt, andererseits darf man den Unterhaltungswert seiner Auftritte nicht unterschätzen, was sich bestimmt auf Einschaltquoten und Leserzahl auswirkt.

Wem glaubst Du?

Diese Frage setzt voraus, dass es eine Wahrheit gibt. Ich finde, es gibt viele Wahrheiten. Wir nehmen unsere Umgebung selektiv wahr, filtern Informationen und ziehen eigene Schlüsse. Später passen wir unsere Wahrheit vielleicht an oder vergessen sie ganz. So gesehen glaube ich nicht einmal mir.

Dein letztes Wort?

Ich mag Anfänge lieber als Abschlüsse, deshalb verzichte ich darauf.


Petra Ivanov
Petra Ivanov verbrachte ihre Kindheit in New York. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz absolvierte sie die Dolmetscherschule und arbeitete als Übersetzerin, Sprachlehrerin und Journalistin. Heute ist sie als Autorin tätig und gibt Schreibkurse an Schulen und anderen Institutionen. Ihr Debütroman «Fremde Hände» erschien 2005. Ihr Werk umfasst Kriminalromane, Jugendbücher und Kurzgeschichten. Sie ist bekannt für ihre akribischen Recherchen: Sie legt Wert darauf, dass in ihren Büchern alle Details stimmen.
www.petraivaov.ch

Alte Feinde

Kriminalpolizist Bruno Cavalli und Staatsanwältin Regina Flint begegnen sich bereits im neunten Buch und ermitteln im achten gemeinsamen Fall. Diesmal führen die Ermittlungen in die USA – und zwar getrennt. Regina Flint untersucht Spuren einer Mordwaffe. Die Kugel, mit der in Zürich Albert Gradwohl erschossen worden ist, stammt offenbar aus einer Waffe aus dem 19. Jahrhundert, die im amerikanischen Bürgerkrieg benutzt wurde. Bruno Cavalli ermittelt in einem Cherokee-Reservat in den Smoky Mountains. Er hat schon seit Monaten kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben. Erst als sich ihre Ermittlungen kreuzen, finden Flint und Cavalli wieder zueinander.

Auf die Idee zu dieser Geschichte stiess Petra Ivanov im Drummer Boy Civil War Museum in Andersonville, Georgia. Die Dame am Empfang machte sie auf Heinrich H. Wirz aufmerksam. Der Zürcher war Captain der konföderierten Armee während des Amerikanischen Bürgerkriegs. 1865 wurde er von Unionstruppen verhaftet, wegen Kriegsverbrechen angeklagt und zum Tode verurteilt. Eine spannende Geschichte.

https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783293208834


Basel, 5. August 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Bild: Chris Marogg

3 Kommentare zu "Petra Ivanov: «Vieles, was heute als News verkauft wird, ist Unterhaltung»"

  1. Auf unserer Sonntagswanderung ist meiner Frau und mir auf dem Rückweg durch den Allschwiler Wald ein etwa 40jähriger Mann mit drei frei laufenden Hunden entgegen gekommen, die uns angekläfft haben. Wir haben versucht auszuweichen, und meine Frau hat ihn gebeten, die Hunde an die Leine zu nehmen. Der Mann hat meine Frau hoch aggressiv beschimpft, sich als Kickboxer bezeichnet und mich, der ich meiner Frau zugestimmt habe, total überraschend mit einem Schlag in den Rücken zu Boden gehauen und gedroht, dass er mich tot schlägt. Meine Frau hat sich für mich gewehrt. Er hat ihr eine auf den Kopf gegeben und mich, der ich ihn schreiend aufgefordert habe aufzuhören, mit einem Faustschlag in den Magen noch einmal zu Boden geschickt. Ich habe mich nicht aktiv zur Wehr gesetzt, weil der Mann – wie ich es aus seinem fürchterlich irren Blick gelesen habe – für sich einen Anlass gesucht hat, um mich zu verprügeln. Mit allem Geschick ist es uns anschliessend gelungen, uns aus der akuten Notlage zu bringen. Der Mann hat noch mehrmals laut gedroht, dass er mich bei nächster Gelegenheit tot schlagen wird.
    Fortsetzung am Montag: Im Zusammenhang mit dem Mann, der uns auf unserer Sonntagswanderung blindwütig attacktiert, mich zwei Mal zu Boden geschlagen und meine Frau auf den Kopf gehauen hat (wir beide zitterten auch am Montag immer noch, wenn wir daran dachten), erlebten wir anlässlich der Zeugeneinvernahme auf dem Polizeiposten konkret und live den endlosen Wahnsinn der Immer-noch-mehr-Gesellschaft. Neben dem Täter, der inzwischen bekannt ist, weil er uns beide als gewalttätig angezeigt hat, um sich selber zum Opfer zu machen (was laut Polizei immer wieder bei Tätern vorkommen kann), muss jetzt auch meine Frau mit einer Strafanzeige rechnen, weil sie ihm mit einem dünnen, dürren Ast auf den Rücken geschlagen hat, um ihn von mir abzulenken, als er gedroht hat, mich am Boden liegend tot zu schlagen. Bös überrascht hat uns im Übrigen auch, dass Passanten – wir haben am Sonntag im Mooshag-Wald laut um Hilfe geschrien, weil wir wirklich grosse Angst hatten – einfach weitergelaufen bzw. mit dem Bike weitergefahren sind. Insgesamt scheinen wir beide uns aber sehr geschickt verhalten zu haben, indem wir dem Täter, der dazu wild entschlossen schien, keinen Anlass gegeben haben, total auszurasten.
    Wir sind erschüttert, weil es uns leibhaftig und persönlich nahe geht. Nach meiner grundsätzlichen Einschätzung ist aber dieser Vorfall, wenn auch nicht alltäglich, so doch typisch für eine Gesellschaft, die sich von einer kollektiv organisierten Verantwortungslosigkeit und Wertefreiheit beherrschen lässt, wo gierig und rücksichtslos vor allem nur noch zählt, was Profit bringt und was Spass macht: Und läuft es schief, ist jede*r sich selbst der*die Nächste.
    Diese persönliche Gewalterfahrung zu verarbeiten wird noch viel Geduld und Zeit brauchen. Wir sind zuversichtlich, dass wir das schaffen.

    1. Erschüttert so etwas zu lesen, wünsche ich Ihnen Beiden, dass die Narben, die physischen und psychischen, bald wieder heilen dürfen. So etwas hinterlässt Spuren und noch lange ein ungutes Gefühl. Viel Kraft und Gesundheit und Zuversicht und auf dass Ihre Lebensfreunde (auch wenn es schwerfällt bei so etwas) wiederkehrt.
      Auch ich denke, wie Sie, darüber nach, wieso diese Welt so ist wie sie ist – eben mit all dem.
      Für mich ganz klar:
      1): Überkonsum, Überfluss, daraus Langeweile, Ödheit, Realitätsverlust und aus „Zu-gut-gehen“ werden solche Tätlichkeiten, Vandalismus und Grobheit Allem und Allen gegenüber.
      2): Das Gegenteil: Armut, Einsamkeit, Hass auf die „Normalen“, keine Wohnung, evtl. kein Job, keine Aussicht, keine Perspektiven, kein gar nichts in unserem Land. Und daraus einfach mal Aggression abbauen, weil man ja eh nichts mehr zu verlieren hat.
      und 3.) ich schiebe viel von diesen Krawallen, Tätlichkeiten, Schlägen, Brutalitäten, Überfällen usw… unserer Dichte, der Überbevölkerung zu. Nirgens mal allein sein, nirgens mal für sich sein, überall Enge, Menschen, Biker, Hündeler (die sich wiederum von den Wanderern bedrängt fühlen), überall Robidogs, Wegweiser, Wege, Vorschriften. Gerade unsere Region ist zu dicht. Dass kann Aggressiv machen. Ausrasterisch. Wütend. Ich will jetzt mal Natur, Hund ich will Ruhe, Wasser, ich will mal singen (wenn ich es schon im Wohnblock nicht kann), ich will mal schreien, summen….. Doch überall: Menschen…..
      Batterielegehaltung. Gerade in unserer Region. Im Büro. Im Job. Im Zug. Und eben auch in der Natur. Die Leute beginne zu spinnen. Der Ausgleich weg. Die „Zuviel-Mentalität“ ist auf Wald und Wiese angekommen.
      Soweit meine Gedanken.
      Die 3 Ansichten entschuldigen natürlich keineswegs dieses schreckliche Tun.
      Doch tragen sie eventuell dazu bei?

      1. Viele Menschen haben uns wie Sie ihre Anteilnahme gezeigt: Sie tut uns gut. – Geistig fühle ich mich nach wie vor optimal auf Draht. Körperlich tut nichts mehr weh und die blauen, gelben und grünen Flecken sind am Abklingen. Psychisch braucht es noch länger … dass ich traumatisiert bin, habe ich unter anderem am Donnerstag Abend realisiert, als ich von einer Besprechung unten im Dorf nach Hause gegangen bin: Ich hatte Angst, überfallen zu werden, was bei mir in Allschwil noch ganz und gar nie eine Befürchtung war. – Hoffentlich wird es mit dem Gericht nicht allzu aufwendig und keine Enttäuschung, womit bei Institutionen, die scheinbar immer noch mehr falsch ticken (Feedback eines befreundeten Baselbieter Staatsanwalts), leider gerechnet werden muss.
        Politisch rechne ich damit, dass der Gemeinderat – wie beispielsweise in den letzten acht Jahren in Sachen Erwachsenenbildung, Frühförderung, Gemeinschaftsbildung, Partizipation, Schulbauplanung, Tagesbetreuung oder Verkehrssicherheit – auch keinen Handlungsbedarf sehen wird, wenn ich ihn um Massnahmen zur Gewaltprävention bitten werde. Auch wenn ich eine Politik mühsam finde, die Teil eines nicht nachhaltig zukunftsfähigen Systems ist, werde ich auch hier immer wieder aufstehen, um meinen Weg mit möglichst vielen andern zusammen mit Kopf, Herz, Hand und Fuss weiter zu gehen.

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