Patrizia Laeri: «Die Digitalisierung ist eine Befreiung»

Publiziert am 5. März 2020 von Matthias Zehnder

LinkedIn und Twitter sind für sie die wichtigsten Medien, Daten der Schlüssel zu Fortschritt und Gleichstellung: Patrizia Laeri, Ökonomin und Moderatorin, sieht in der Digitalisierung der Medien vor allem grosse Chancen. Im Fragebogeninterview gibt sie Auskunft über ihren persönlichen Medienkonsum und den Zustand der Medien. Sie sagt: «Das Mediensystem war früher elitärer, hierarchischer, Top-Down vom Sender zum Empfänger. Diese Hierarchien wurden aufgeweicht.» Heute kommuniziere man «auf Augenhöhe». Twitter sei «zwar immer noch eine männlich dominierte Klugscheisser-Plattform, aber es sind auch immer mehr Frauen mit Haltung, Meinungsmacherinnen, Expertinnen und Forscherinnen aktiv.» Zum Beispiel sie selbst.

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Twitter. Ich habe mir Listen von Wissenschaftlerinnen, Organisationen, Journalisten, Oekonominnen und Politikern zusammengestellt, die für meine Dossiers und Themen relevant sind. Ich habe also dank der für mich wichtigen Themen-Influencer und Distributoren von Artikeln, News, Research Papers, Blogs und Artikeln ein personalisiertes Frühstücks-Menu. Diesen Feed lese ich. Im Zug geht es dann weiter, online lese ich «Bloomberg», «Financial Times» und «Economist». Gerne auch «Wired», «TechCrunch» und meinen geliebten Big Data Newsletter «CB Insights» von Anand Sanwal. Sanwal ist Kult und bringt Humor und Spass in die Welt der Daten. Er unterschreibt jeden Newsletter mit I love you. Tut gut.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Was ist Facebook? War da nicht mal diese Plattform für Wutbürgertum? Da war ich nie richtig dabei. Das Niveau der Debatte hat mich seit jeher abgestossen. LinkedIn, Twitter und Instagram nutze ich aber intensiv.

Ich bin relativ spät in die Social Media Welt eingestiegen, habe dann aber alles gegeben. Ich bin überzeugt, dass Followerpower zentral ist für Journalisten. Dank Social Media erreiche ich heute mit gewissen Posts auf LinkedIn bis zu 300’000 Views. Das sind doppelt so viele Menschen wie eine ECO-Sendung Zuschauer hat. Meine Beiträge werden über diese Distributionskanäle auch in Deutschland und Österreich gelesen. Ich bin nicht mehr nur auf die Schweiz beschränkt. Ich sehe in Echtzeit, welche Themen die Menschen beschäftigen, wo der Schuh drückt. Ich liebe den Austausch und die Qualität der Debatte. Die Kommentare bringen mich weiter, liefern wertvolle Ergänzungen, Links zu den Themen und vergrössern mein Netzwerk. Interviewanfragen werden über LinkedIn übrigens auch schneller beantwortet als über alle anderen Wege. Ich komme also besser an Expertinnen ran. LinkedIn hat sich zudem von einer Job- und Karriereplattform zu einer interessanten Content-Plattform entwickelt – neu kommen auch Story-Funktionen dazu. Für (Wirtschafts-)Journalisten ist das der place to be. Und die Plattform wächst ungebremst. Natürlich hat es mir sehr geholfen, dass ich wegen meines Contents zweimal in Folge zur TopVoice LinkedIn DACH ausgezeichnet wurde.

Aber auch Twitter ist für mich als Journalistin unentbehrlich. Es ist ein wertvolles Recherche-Tool. Unter den Hashtags finde ich zu jedem Thema sofort Relevantes und Expertinnen sowie Autoren. Es ist zwar immer noch eine männlich dominierte Klugscheisser-Plattform, aber es sind auch immer mehr Frauen mit Haltung, Meinungsmacherinnen, Expertinnen und Forscherinnen aktiv.

Instagram ist meine Wohlfühl-Plattform und für mich als Bildmensch eine wundervolle und positive Plattform. Ich liebe aesthetische Fotografie, Kunst und Design und kann mich hier verweilen und ich sehe mit Freude, dass auch trockenerer und ernsterer Content durchaus Platz hat und diskutiert wird. Die Sinnfluencer kommen tatsächlich.

Es passiert etwas ganz Schlimmes wie 9/11. Wie informierst Du Dich?

Ich setze ganz klar auf die klassischen Qualitätsmedien, unter anderem SRF, das sich an strengen und ethischen publizistischen Leitlinien orientiert.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Für mich als Konsumentin und Recherche-Journalistin ist alles besser. Ich habe Zugang zu einem viel grösseren, internationalen Medien-Universum, Quellen, Expertinnen, Organisationen via Social Media. Natürlich gibt es heute viele neue Probleme mit Fake News und Hate Speech, aber grundsätzlich sind unsere heutige Informationswelt und die medialen Stimmen viel vielfältiger. Das Mediensystem war früher elitärer, hierarchischer, Top-Down vom Sender zum Empfänger. Diese Hierarchien wurden aufgeweicht. Man kommuniziert auf Augenhöhe. Ausserdem lernen die User und Konsumentinnen dazu. Sie lernen Fake News zu hinterfragen und zweifelhafte Quellen zu durchschauen. Das machen heute bereits Kinder. Medienkompetenz ist für die neue Generation selbstverständlich. Qualitätsjournalismus ist zudem demokratierelevant und wird immer Zukunft haben.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Und wie. Texte sind Trumpf. Gerade kurze Texte. Ich werde auf der Strasse nicht mehr auf das Fernsehen angesprochen, sondern auf meine #aufbruch-Kolumne, die ich über die verschiedenen Social Media konsequent verteile und daraus auch Storys generiere. Ich habe als TV- und Video-Mensch das geschriebene Wort lange unterschätzt. Jetzt habe ich es wieder schätzen gelernt. Leute lesen. Leute lesen unglaublich viel.

Was muss man unbedingt gelesen haben?

Invisible Women: Exposing Data Bias in a World Designed for Men von Caroline Criado-Perez. Endlich konnte ein Buch meinen Datenhunger stillen. Frauen sind irgendwie verloren gegangen in der Welt der Daten. Die Autorin zeigt auf, dass Frauen bei Produktentwicklungen schlicht vergessen gehen, weil sie auch nicht in den Ingenieurs-Teams sitzen. Produkte für Männer von Männern. Im Extremfall kann dies für Frauen lebensgefährlich sein. Das geschieht nicht vorsätzlich. 51 Prozent der Bevölkerung gehen einfach gedankenlos vergessen. Frauen sind nach wie vor oft unsichtbar, in Nachrichten, Schulbüchern, Forschung, Wirtschaft. Gender Data Gap nennt die Autorin das Problem und liefert gleich haufenweise Daten dazu. Daten sind für mich der Schlüssel zu Fortschritt und Gleichstellung. Nur wenn wir etwas messen, können wir es verbessern.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ich kann sehr gut Bücher weglegen. Ich habe eine Toleranzspanne von 50 Seiten, wer mich bis dann nicht gepackt hat, packt mich nimmermehr.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Im Alltag mit meinen Jungs. Da lerne ich alles über Fussball, Waffen und die Game-Welt. Und glaub mir, ich habe sie gender-neutral erzogen und dabei lernen dürfen, dass Mann und Frau im Schnitt eben komplett anders ticken und dass genau dies bereichernd ist.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Gibt es die noch? Ich habe mich schon lange davon verabschiedet. Wochenzeitungen und -magazine lese ich noch gedruckt. Aber auch hier spüre ich bei mir den Greta-Effekt. Warum all dieses Papier, wenn es doch ohne Abfall ginge?

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Die Replay-Funktion hat das weitgehend gekillt. Ich finde es trotzdem immer noch prickelnd, die «Tagesschau» und «10vor10» live zu schauen.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Nein. Ich hasse Kopfhörer und bin ein Lesemensch.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Ich bezweifle, ob die Antworten der Umfrage den wirklichen Medien-Konsum spiegeln. Die Rechnung scheint mir nicht aufzugehen. Menschen verbringen heute rund zwei Stunden auf Social Media. Es kann nicht sein, dass sie in dieser Zeit nicht über News stolpern. Viel mehr spiegeln die «News-feindlichen»-Antworten wohl eine gewisse Übersättigung von schreierischen Nachrichten und die kritische Haltung gegenüber Fake News. Das hat bestimmt einen gewissen Abwehrreflex ausgelöst. Aber netto lesen die Menschen mehr News als vor der Zeit von Social Media.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Zahlen- und datenlastige Berichte in Sport oder Wirtschaft lassen sich problemlos automatisieren. Das läuft schon relativ flott und ist ehrlich gesagt ein Segen. Wer will sich mit diesen monotonen Aufgaben rumschlagen. Kreatives Schreiben, Reportagen, Essays und Einordnungen werden noch lange nicht automatisiert werden. Ich wundere mich immer über diese naive Tech-Gläubigkeit. Wir haben nicht mal die komplexe menschliche Intelligenz entschlüsselt, wie sollen wir dann KI bauen, die ihr nahe kommt?

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Ich habe die Digitalisierung als Befreiung wahrgenommen. Da sind so viele neue Kanäle, Formen und Gefässe, um journalistisch tätig zu sein. Die Medienwelt steht Kopf. Kürzlich zeigte eine Studie, dass Leser stärker den Menschen vertrauen, die Inhalte teilen, als der Quelle dahinter. Medienhäuser tun deshalb gut daran, wenn sie ihre Journalistinnen als vertrauenswürdige Multiplikatoren und Distributoren einspannen und stärken.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Natürlich. Die internationalen Qualitätsmedien wie Washington Post, Economist, die Financial Times etc. wachsen. Und jedes demokratische Land wird wohlweislich seriösen und unabhängigen Journalismus stärken.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ich transkribiere die Antworten auf meine Interviews stichwortartig von Hand. So kann ich mir die Inhalte viel besser merken.

Ist Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Rein ökonomisch betrachtet hat er den Medien viele Klicks und Geld gebracht. Welcher Staatschef hat schon je so viele Schlagzeilen generiert und für derart viel Gesprächsstoff gesorgt? Er hat Qualitätsmedien zu neuen Abonnementen verholfen, eine Gegenbewegung ausgelöst und neue Medien-Jobs geschaffen, die Fakten-Checker. Natürlich hat er auch das Image der Medien beschädigt und mit der Fake-News-Debatte viele Menschen verunsichert. Aber unter dem Strich hat er die seriösen Medien gestärkt. Ich bin optimistisch.

Wem glaubst Du?

Meiner Filterblase ;-).

Dein letztes Wort?

Den Mutigen gehört die Welt.


Patrizia Laeri
So viele Preise und Auszeichnungen wie Patrizia Laeri (*1977) hat 2019 wohl keine andere Schweizer Journalistin abgeräumt. Die Ökonomin und Moderatorin des Schweizer Fernsehens wurde zur Wirtschaftsjournalistin des Jahres gekürt, gewann in Deutschland den Digital Female Leader Award und wurde zum zweiten Mal in Folge als LinkedIn TopVoice DACH ausgezeichnet. Auch weil sie es schafft, komplexe Zusammenhänge in anschauliche Geschichten zu verpacken. Sie engagiert sich zudem für digitale Aufklärung, technologischen Fortschritt und für die Gleichstellung von Mann und Frau im Arbeitsleben, sei dies in ihrer #aufbruch-Kolumne für Ringier oder als Beirätin des Institute for Digital Business der HWZ. Sie initiierte 2017 den ersten Schweizer Edit-a-thon «Frauen für Wikipedia».
https://www.linkedin.com/in/patrizialaeri/


Basel, 5. März 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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3 Kommentare zu "Patrizia Laeri: «Die Digitalisierung ist eine Befreiung»"

  1. Wirtschaft, Börse, Finanz über alles. Maschinell, Zahlen, Fakten. Bei solchen Sendungen bekomme ich das Schaudern.
    Als sie 2018 den traditionellen, urigen Sechseleuten-Umzug in Zürich kommentieren sollte, verhaspelte sie sich und brachte Uhrzeiten, Zünfte und Darbieter durcheinander.
    Egal.
    Sie wird weit kommen, denn Tradition, Volksbrauch, Herz zählen nicht mehr.
    Viva Wirtschaft, Kälte und Zahlen über alles, so sieht es heute leider aus.

  2. Ich empfinde, dass ich das Kapitel, welches Sie beschreiben bereits (in einem kleinen Rahmen) im Jahre 2006 erlebt habe. Für Narzissten ist Social Media ein Magnet. Glücklich bin ich, dass ich dieses Kapitel hinter mir lassen konnte. Bewundert habe ich stets talentierte Persönlichkeiten, welche aus dem nichts kamen und durch Social Media aus der „neuen Aufmerksamkeit“ unglaubliche Profite erzielten. Einige davon gründeten Unternehmen. Das war der Anfang von Social Media und ich war dabei. Heute im Jahre 2020 bestätigt Social Media bestehende hierarchische Ordnungen und Machtstrukturen. Man kann Aufmerksamkeit kaufen. Ich habe ein paar Fragen an Sie: Würden Sie es als Befreiung empfinden, wenn Twitter die 280 Unicode-Zeichen auf 20 Unicode-Zeichen reduzieren würde ? Die nächste Frage: Können Sie darauf Einfluss nehmen und wie wäre der Weg einer Einflussnahme ? Die nächste Frage: Was ist Ihre Motivation hinter der Wertung „männlich dominierte Klugscheisser“, kann man sich darauf einigen, dass es im Internet sowohl männliche, wie auch weibliche „Klugscheisser“ gibt? Die nächste Frage: Ist Provokation das beste Mittel für die beste Reaktion? Die nächste Frage: Wenn die „absolute Gleichberechtigung“ in allen Aspekten des Lebens, ein neues Thema für Frauen ist (seit dem 12/13 Jahrhundert), glauben Sie, dass Frauen zeitversetzt identische Fehler begehen, wie Männer ? Ich bin für die „absolute Gleichberechtigung“ und würde mich sehr freuen, wenn Sie meine Fragen beantworten können. Als männliches Wesen, welche das „Spiegel-Patriarchat“ (dominierende und übermächtig starke Frauen – Rollen) in der Familie, seit der Kindheit erlebt hat kenne ich nichts anderes. Ich wünsche Ihnen nur das Beste

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