Nicole Meier: «Mir gefällt die Unmittelbarkeit von Live-Sendungen»

Publiziert am 10. Juni 2020 von Matthias Zehnder

Die Chefredaktorin von Keystone-sda sagt im Fragebogeninterview, dass sie Automatisierung nur als Ergänzung zum bestehenden journalistischen Angebot sieht: «Es braucht das menschliche Hirn, um Informationen zu bewerten und einzuordnen.» Sie sagt, Journalismus habe Zukunft, weil es die Auswahl, Recherche, Einordnung und Watchdog-Funktion immer brauchen werde. Sie sieht aber die Bildungsinstitutionen in der Pflicht, in Zusammenarbeit mit Journalistinnen und Verlagen die Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen zu fördern.

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Fehlen darf bei mir nur eins: das Frühstück. Ansonsten gibt es schon auf nüchternen Magen viel Information: Von News-Apps, Twitter und natürlich vom Keystone-SDA-Newsticker, meist schon vor dem Aufstehen, aus dem Radio im Bad und aus der gedruckten Zeitung («Tages-Anzeiger» und Winterthurer «Landbote») im Zug oder zum Espresso im Homeoffice.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Ich habe auf allen Plattformen Accounts. Twitter ist wichtig für die Überwachung der Newslage und für das Netzwerk unter Medienschaffenden. Facebook nutze ich privat – vor allem, um mit den Menschen in Kontakt zu bleiben, die ich während Auslandeinsätzen kennen gelernt habe und die auf dem ganzen Globus verstreut leben. Instagram deckt jene Kolleginnen und Kollegen ab, die auf den anderen Kanälen nicht anzutreffen sind.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Ich habe wieder mehr ausländische Medien wie «La Repubblica» aus Rom gelesen. Zudem habe ich – um die Bewegung zu verstehen, die gegen die Massnahmen der Regierungen in der Schweiz und in Deutschland demonstriert hat – teilweise Quellen konsultiert, die sonst in meinem Alltag keinen Platz haben.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Wann war früher? Was heisst besser? Was schlechter? Das wären Fragestellungen für eine Dissertation. Ich belasse es hier bei ein paar spontanen Assoziationen ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit.

Früher: Fest zugeteilte Themendossiers
Heute: Video, Datenjournalismus, Faktencheck, Podcast

Früher: Parteipolitisch geprägte Medien und Artikel
Heute: Kommentar in der fünften Spalte

Früher: Morgens um 10 Uhr an der Medienkonferenz: Kaffee, Gipfeli, Orangensaft, Weisswein.
Heute: Kaffee?

Früher: Rauchen im Einzelbüro
Heute: Benimmregeln im Newsroom

Früher: «Ich schreibe den Text dann morgen für die Ausgabe von übermorgen.»
Heute: BREAKING NEWS!!!

Früher: Recherche in eigenen Handarchiven
Heute: SMD, Google, Social Media

Früher: «Verbinden Sie mich bitte mit dem Stadtplaner.»
Heute: «Schicken Sie Ihre Fragen an die Pressestelle.»

Früher: Freie Mitarbeit, Praktikum, Festanstellung auf Lebzeit
Heute: Journalistenschule, Fachhochschule, Uni, Praktikum, Praktikum …

Früher: Mein Primeur!
Heute: Mein Primeur! Aber auch Recherchedesks und internationale Recherchenetzwerke.

Früher: Budgets für Reportagen und Auslandreisen
Heute:  Budget?

Früher: Kaum Diversität in den Redaktionen
Heute: Siehe unter «früher»

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Natürlich!

Was muss man unbedingt gelesen haben?

Man muss überhaupt nichts. Hier liegt aber genau ein Problem: die Segregation der Gesellschaft. Es gibt kaum mehr Werke oder generell Wissen, das man als vorausgesetzt betrachten kann. Persönlich mag ich es, wenn ich – beispielsweise durch den Auftrag als Moderatorin einer Lesung – mit Autorinnen oder Autoren in Berührung komme, die ich sonst nicht lesen würde. Das aktiviert den Geist, erweitert den Horizont, verändert die subjektive Betrachtungsweise.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ich kann sie gut weglegen. Leider tue ich das auch mit guten Büchern – manchmal aus purer Furcht davor, was geschieht, wenn die letzte Seite zu Ende gelesen ist. So schaffe ich manches Buch erst im dritten oder vierten Anlauf. Sibylle Bergs «GRM. Brainfuck» habe ich vergangenen Sommer immerhin im zweiten Anlauf gelesen.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Indem ich die Augen und Ohren offenhalte und mit Menschen rede. Indem ich reise. Aber auch, indem ich mich im Netz möglichst unvorhersehbar bewege und den Algorithmus nicht dazu verleite, mir nur noch Werbung für Katzenfutter anzuzeigen.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Erstklassige Titel, die inhaltlich mehr bieten als Online- und Mobile-Content, und die erst noch ein haptisches Erlebnis bieten, gibt es hoffentlich noch sehr lange.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Sie sind ein brandgefährliches Übel. Es handelt sich ja nicht um kleine Ungenauigkeiten, sondern um gezielte Manipulation und Propaganda. Faktenchecker werden deshalb immer wichtiger. Bei der Nachrichtenagentur kennen wir die sogenannte Bestätigungsregel: Informationen aus Medien und anderen Quellen werden nicht unbesehen übernommen, sondern an der Ursprungsquelle bestätigt.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Immer gerne! Das zeitversetzte Hören und Sehen ist praktisch, aber mir gefällt die Unmittelbarkeit von Live-Sendungen. Dazu gehört auch die altmodische Vorstellung, dass in diesem Moment im ganzen Land oder gar weltweit die Menschen in ihren Stuben dasselbe sehen wie ich.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Ich bin weniger der Ohrenmensch. Während der Corona-Phase habe ich aber mit Podcast-Hören angefangen. Die Serie der «NZZ am Sonntag» über das Verschwinden der ehemaligen SP-Präsidentin Ursula Koch hat mich begeistert. Als nächstes werde ich wohl «Himmelblau» hören über zwei Bombenattentate und einen indischen Guru im Winterthur der 70er-Jahre.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Das ist eine immense Herausforderung. Für die Medien bedeutet es unter anderem, ihre Angebote noch konsequenter auf die Bedürfnisse dieser Gruppe auszurichten. Ich sehe aber auch die Bildungsinstitutionen in der Pflicht: An ihnen ist es, in Zusammenarbeit mit Journalistinnen und Verlagen die Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen zu fördern.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Ich sehe Automatisierung nur als Ergänzung zum bestehenden journalistischen Angebot und nie als Ersatz. Es braucht das menschliche Hirn, um Informationen zu bewerten und einzuordnen. Automatisieren kann man aber dort, wo Daten in strukturierter Form vorliegen. Ewa bei Abstimmungsresultaten oder bei Sportresultaten.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Did video kill the radio star? Die Digitalisierung führt weder zum Tod noch zur Befreiung, sondern zur Veränderung – in Bezug auf Angebot, Verbreitung und Nutzung.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Mais bien sûr! Selektion, Einordnung, Recherche und Watchdog-Funktion wird es immer brauchen. Diese Aufgaben können weder Laien noch Roboter übernehmen – dazu braucht es ausgebildete Berufsleute.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ja, vor allem für Notizen und persönliche Karten. Ich schreibe gern von Hand, das Entziffern ist dann wieder ein anderes Thema.

Ist Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Das kann man abschliessend wohl erst nach seiner Präsidentschaft sagen. Vielleicht schlägt das Pendel zurück, vielleicht auch nicht. Im Moment stehen für mich die gezielte Zerstörung der Glaubwürdigkeit etablierter Medien und die Angriffe auf die Medienfreiheit im Zentrum. Und das erachte ich als verheerend.

Wem glaubst Du?

Da bin ich ganz Agenturjournalistin: Im Zweifel nachfragen und sich eine Information bestätigen lassen.

Dein letztes Wort?

Danke.


Nicole Meier
Nicole Meier (1971) ist in Winterthur aufgewachsen. Sie ist seit Anfang 2020 Chefredaktorin der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Nach der Kantonsschule hat sie sich zunächst zur diplomierten Landwirtin ausbilden lassen. Später folgte die Diplomausbildung am MAZ. Anstellungen unter anderem beim Winterthurer «Stadtblatt» und bei der «SonntagsZeitung», Stage in Bangladesch, Einsatz als Menschenrechtsbeobachterin in Papua. Seit 2009 arbeitet sie in verschiedenen Funktionen bei der Schweizerischen Depeschenagentur sda respektive der heutigen Keystone-SDA.
https://www.keystone-sda.ch/


Basel, 10. Juni 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Ein Kommentar zu "Nicole Meier: «Mir gefällt die Unmittelbarkeit von Live-Sendungen»"

  1. Trump ist US-Präsi für die ganzen USA. Deshalb muss er für alles herhalten. Wo hat es die meisten Corona-Fälle: In sämtlichen Demokratisch regierten Bundesstaaten. In den Repuplikanischen Staaten sind die Zahlen niedriger. Bundesstaaten haben viel zu sagen und für sich zu entscheiden. Doch wer muss den Kopf hinhalten?
    In den Demokratisch regierten Bundesstaaten gibt es die meisten Abfacklungen, Plünderungen und Rassenunruhen. Das Polizeidepartement, welchem der Kniemörder angehörte, wird seit jeher von einem Demokraten geführt. Und der Mord-Polizist hatte schon viele Klagen am Hals. Doch die Gewerkschaft/Demokraten kämpften für seine Stelle. Er durfte bleiben….
    Doch wer muss den Kopf hinhalten. Ob so viel Fake-News und Ärgernisse in den Berichterstattungen, sovielen Sticheleien gegen die Präsidentsarbeit – kann man die angeblichen „Angriffe“, wie Frau Meier sie nennt, nicht goutieren doch wenigstens (ein bisschen) verstehen. Dieses ständige verdrehen, verschwurbeln und vermixen der Fakten zugunsten von Joe Biden lässt die Lava der Proteste im Namen der Rassen nie erglühen. Dass die USA kein Rassistisches Land sind, beweist das jahrelang ein schwarzer US-Präsident war – und – nicht zu vergessen – dass die USA und ihre Verbündeten UNS alle vor dem grössten Rassisten retteten und so den 2. Weltkrieg beendeten. Eine Kerze für die USA und all ihre gefallenen Söhne zu unseren Gunsten. Ist dies alles schon vergessen? Schaut man sich die Historic dieses faszinierenden Landes und all ihre Präsidenten an, haucht dem Begriff „Fake News“ manchem tief im Herzen neue Bedeutung zu.
    Gilt all dies der journalistischen Arbeit heute keine Bedeutung mehr zu, Frau Meier? Nur noch undifferenzierte „Haue“ über das ganze Land mit all seinen (politischen) Facetten? Journalistenarbeit heisst Verantwortung, und nicht trendige, blosse (Trump-) Ideologie.

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