Nadine A. Brügger: «Ich habe mich Hals über Kopf in den Datenjournalismus verliebt»

Publiziert am 6. Januar 2021 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute: Nadine A. Brügger, Chefin vom Dienst bei der «NZZ». Sie sagt, wir hätten im Journalismus heute zwar «ganz neue Möglichkeiten – allerdings stehen diesen Möglichkeiten auch ganz neue Hürden gegenüber.» In Zeiten von gegenseitigem Abschreiben und Fake News sei seriöser Journalismus wichtiger denn je. «Je mehr Informationen im WWW vorhanden sind, umso wichtiger sind Journalistinnen und Journalisten, die dabei helfen, sie einzuordnen.» Insbesondere deshalb, weil Lügen keine kurzen Beine mehr haben: Trump habe «den Beweis dafür erbracht, dass Taten nicht immer Folgen haben, dass Lügen in Ordnung und Verantwortung übernehmen fakultativ ist.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Bei mir gibt es entweder nur Kaffee, dafür aber aus der Moka-Kanne und da habe ich dann beide Hände voll. Oder ich zmörgele ausgiebig und in Gesellschaft. Beide Szenarien lassen keinen Raum für (früh-)morgendlichen Medienkonsum. Und das ist auch gut so.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Oh, die Gretchenfrage. Ich konsumiere alles täglich und halte es dabei mit Paracelsus: die Menge macht das Gift.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Vor Corona habe ich Datenstücke nur peripher wahrgenommen. In diesem Jahr aber habe ich mich Hals über Kopf in den Datenjournalismus verliebt. Wohlgemerkt: Als Konsumentin – Datenjournalistin bin ich keine. Zudem wurde mir noch einmal klar, wie wichtig Qualitätsjournalismus ist. Leute, die nachdenken, recherchieren, sich Zeit nehmen und nicht einfach Abschreiben, was gerade bei Google am meisten gesucht oder von anderen Medien gepushed wird. Bei der NZZ zum Beispiel gilt das Zwei-Quellen-Prinzip – und dafür bin ich sehr dankbar.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Meinst du früher, als Frauen auf Redaktionen noch Randerscheinungen waren? Nein, Seich. Aber: Natürlich war früher nicht alles besser. Es ist leider immer komplizierter als das. Wir haben heute im Journalismus ganz neue Möglichkeiten – allerdings stehen diesen Möglichkeiten auch ganz neue Hürden gegenüber. Die schiere Flut von nackten Informationen, vagen Vermutungen und Inhalten, die Unterhaltung mit journalistischem Deckmäntelchen sind, ist erdrückend. Andererseits haben wir online ganz andere Möglichkeiten beim Storytelling und bei der Recherche und können unsere Artikel auf viel mehr Kanälen an die Frau bringen. Entsprechend können wir je nach Thema auch Leserinnen erreichen, bei denen wir früher keine Chance gehabt hätten. Nur das Salär, habe ich mir sagen lassen, das war früher tatsächlich unbestritten besser.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Selbstverständlich. Und zwar nicht nur als Untertitel in einem Social Media Video.

Was muss man unbedingt gelesen haben?

Meinen Artikel über drei Regenbogenfamilien in der Annabelle vom März 2020. Nicht, weil ich die Scheinwerfer gerne alle auf mich richte. Aber weil die Ungerechtigkeit, der die Familien jahrelang ausgesetzt waren, nie passiert wäre, hätten wir bereits eine Ehe für alle, die wirklich allen Menschen in diesem Land genau gleiche Rechte gibt. Stattdessen wurde das Referendum gegen den Parlamentsbeschluss ergriffen, Hauptargument: Gefährdung des Kindswohls. Das ist allerdings nicht gefährdet, wenn ein Kind zwei liebende Mütter hat. Es ist dann gefährdet, wenn der Staat beginnt, diese Mütter und die Kinder selber heftig zu bedrängen.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ich muss die Dinger zu Ende bringen, selbst wenn es weh tut.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Im Gespräch mit Freunden und Fremden.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Solange Menschen bereit sind, dafür etwas zu bezahlen.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Für die Medien sind sie meiner Meinung nach eine Chance. Für die Gesellschaft eine grosse Gefahr, weil man plötzlich Fakten einfach «anders sehen» oder «so nicht glauben» kann. Wie sehr das Miteinander dadurch belastet wird, sehen wir bei jeder einzelnen Corona-Demonstration.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Ich konsumiere beides praktisch nie. Ich mag das geschriebene Wort am allerliebsten.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Podcasts sind meistens eine tolle Idee, die spätestens ab Minute 21 aus dem Ruder läuft. Keine Einschränkungen bei der Länge zu haben, tut selten gut. Wenn, dann höre ich «NZZ Akzent», weil so schön kurz und bündig. Allerdings viel zu selten, weil: siehe Frage oben.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Für die Medien bedeutet das in erster Linie: (Noch) weniger Geld. Für die Gesellschaft bedeutet das zum Beispiel, dass Menschen denken, Klimawandel, Corona und die Wirksamkeit von Impfungen seien wahlweise a) erfunden oder b) Dinge, über deren Existenz man zumindest diskutieren kann. Richtig schlimm wird es für die direkte Demokratie, die wir meiner Meinung nach nur ausüben können, wenn wir uns umfassend über die zur Debatte stehenden Inhalte informieren. Uns also Pro und Contra zu Gemüte führen – und nicht nur das, was die analoge oder digitale Bubble findet.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Wenn es nur darum geht, nackte Informationen zu vermitteln, auf jeden Fall, das haben wir ja bei Wahlen und Abstimmungen bereits gesehen. Einordnen, Weiterdenken und Erzählen allerdings sehe ich weiterhin als Jobs für uns Menschen.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Ich setze alle Karten auf letzteres – sonst wäre ich eben doch besser Archäologin geworden.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Unbedingt. In Zeiten von gegenseitigem Abschreiben und Fake News ist seriöser Journalismus wichtiger denn je. Je mehr Informationen im WWW vorhanden sind, umso wichtiger sind Journalistinnen und Journalisten, die dabei helfen, sie einzuordnen.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ich schreibe bei jedem Interview von Hand mit. Auch Ideen fliessen durch den Stift. Daheim habe ich eine riesige Notizbuch-Kiste. Aber meine Artikel entstehen immer am Computer.

Ist Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Er hat uns zumindest auf Trab gehalten. Wirklichen Schaden hat er meiner Meinung nach aber nicht bei den Medien angerichtet. Wir können uns vielmehr mit qualitativ hochwertigen Real News der ganzen Trump-Scharade entgegenstellen. Geschadet hat er dem gesellschaftlichen Miteinander. Er hat Sexismus und Rassismus wieder salonfähig gemacht. Nicht nur in den USA, sondern weltweit. Und er hat den Beweis dafür erbracht, dass Taten nicht immer Folgen haben, dass Lügen in Ordnung und Verantwortung übernehmen fakultativ ist.

Wem glaubst Du?

Keinem sofort.

Dein letztes Wort?

«Champagner soll man kippen, nicht nippen.» Das habe ich kürzlich im Magazin der Süddeutschen Zeitung gelesen und mir als Weisheit für alle Lebenslagen gemerkt.


Nadine A. Brügger
Nadine Brügger hat Germanistik und Geschichte studiert, ist aber bereits während dem Studium in der Gegenwart gelandet: als Reporterin für eine kleines Berner Lokalblatt. Mit Lokaljournalismus ging es weiter, als Bernerin bei der «Basler Zeitung». Später eine Ausbildung zur TV-Redaktorin bei «gesundheitheute» gemacht und einen Abstecher in den puren, blutten Online-Journalismus gewagt. Nun Redaktorin und Chefin vom Dienst bei der «Neuen Zürcher Zeitung», wo Print und Online (meist) glücklich co-existieren.
Webseite: https://texttrafik.com/
Blog: www.produktives.ch

Foto: ©Nina Wüthrich Photography, https://nina-photo.ch/


Basel, 6. Januar 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

PS: Nicht vergessen – Wochenkommentar abonnieren. Kostet nichts, bringt jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen Kommentar, den aktuellen «Medienmenschen» einen Sachbuchtipp und einen Video-Buchtipp auf einen Roman:
www.matthiaszehnder.ch/abo/

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.