Mirjam Mathis: «Ich sehe in Frankreich eine extrem polarisierte Medienlandschaft»
Das 288. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Mirjam Mathis, TV-Korrespondentin von SRF für Frankreich. Sie sagt, sie finde es spannend, wie «eloquent, hart, aber auch mit Witz» in Frankreich Radio und Fernsehen gemacht werden. Das Land sei aber polarisiert, «immer mehr Medien werden politisch instrumentalisiert». Als Beispiel nennt sie den konservativen Geschäftsmann Vincent Bolloré, der «seit Jahren auf einer Medien-Einkaufstour» sei. Sie selbst hört so oft wie möglich Radio. Den Fernseher könne sie «bei uns in der Familie am schlechtesten bedienen – ist mittlerweile etwas komplizierter als nur ein Knöpfchen drücken.» Sie findet es wichtig, dass man sich nicht nur über soziale Medien informiert und nur in der eigenen Bubble unterwegs ist. «Wenn man die ‹Tagesschau‹ guckt oder den ›Tages-Anzeiger› liest, bekommt man ein ganzheitlicheres Bild.» Neue Technologien findet sie spannend, sie könnten die Arbeit von Journalisten erleichtern. Aber «das Denken sollten wir auf keinen Fall den Maschinen überlassen.»
Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?
Das Radio. Früher La Première von RTS, heute FranceInfo. Beim Familienzmorge am Wochenende sind Medien aber tabu.
Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram, LinkedIn, YouTube, TikTok und BeReal?
Ich bin hauptsächlich auf Instagram unterwegs – aktiv und passiv. Folge vor allem Politikern und französischen Medienhäusern und merke, wie rasch und gut ich mich bei Instagram informieren kann. Für mich löst Instagram Twitter immer mehr ab. Und Facebook ist quasi die Zweitverwertung von Instagram, wo ich in erster Linie private Kontakte pflege.
YouTube benutze ich eher wie einen Fernseher. Da schaue ich zum Beispiel Dokumentarfilme von öffentlich-rechtlichen Sendern, zuletzt einen über den D-Day von France Télévisions.
TikTok habe ich mal auf Anfrage meiner Stieftochter heruntergeladen, als die Videos mit den «Dancemoves» im Trend waren. Dann habe ich die App aber wieder gelöscht. Vielleicht installiere ich sie nun wieder; der Präsident des Rassemblement National in Frankreich hat dank TikTok in den letzten Monaten grosse Bekanntheit bei den Jugendlichen erlangt.
LinkedIn finde ich spannend. Ich schaue regelmässig rein, bin aber bisher nicht wirklich aktiv. BeReal kenne ich nicht.
Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?
Ich lese weniger gedruckte Zeitungen – und konsumiere quasi rund um die Uhr Medien. Diese Entwicklung der ständigen Berieselung sehe ich aber nicht nur als positiv an.
Wenn Du an die Medien in Deinem Berichtsgebiet denkst – welche Unterschiede fallen Dir im Vergleich zu den Medien in der Schweiz auf?
Formal finde ich es sehr spannend, wie eloquent, hart, aber auch mit Witz Radio und Fernsehen gemacht werden und Debatten geführt werden.
Inhaltlich sehe ich in Frankreich eine extrem polarisierte Medienlandschaft. Immer mehr Medien werden politisch instrumentalisiert. So ist der konservative Geschäftsmann Vincent Bolloré seit Jahren auf einer Medien-Einkaufstour. Sein gigantisches Medienimperium beinhaltet unter anderem Canal+ mit CNews, Europe1, das «Journal du Dimanche» und «Paris Match». Vor allem CNews und das «Journal du Dimanche» gleichen immer mehr einer Propagandamaschine für rechtsnationalistische Politik. Bolloré hatte 2022 bei den Präsidentschaftswahlen Eric Zemmour unterstützt, der weiter rechts politisiert als Marine Le Pen, und wird jetzt als Strippenzieher gesehen bei der Allianz zwischen dem Präsidenten der Républicains mit dem Rassemblement National.
Haben geschriebene Worte noch Zukunft?
Natürlich.
Was soll man heute unbedingt lesen?
Das, was man möchte – aber bitte keine Verschwörungstheorien oder Fake News. 😉
Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?
Was für eine Frage. Ich würde mich auf keinen Fall zwingen, ein schlechtes Buch zu lesen, falls ich es nicht aus beruflichen Gründen lesen muss. Es geht mir im Gegenteil aktuell eher so, dass sich Bücher auf meinem Nachttisch stapeln, die ich interessant finde und unbedingt fertig lesen möchte, wie zum Beispiel «Femmes puissantes» von der französischen Journalistin Léa Salamé oder «Encuentra tu persona vitamina» einer spanischen Psychiaterin. Die Frage ist nur, wann ich dazu komme. 😊
Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?
In meinem Job immer wieder. In all meinen Jahren bei SRF habe ich kaum einen Beitrag oder eine Recherche gemacht, die ich nicht interessant fand, nachdem ich angefangen habe, mich damit auseinanderzusetzen. So habe ich gemerkt, dass ich sehr vielseitig interessiert bin und bin deswegen nicht mehr überrascht, wenn mich ein Thema packt, von dem ich vorher keine Ahnung hatte, oder wofür ich mich bis anhin nicht interessiert habe.
Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?
Wenn ich das wüsste… Wohl solange sie finanziert und gelesen werden. Ich persönlich habe vor ein paar Wochen mein letztes physisches Zeitungsabo in ein Online-Abo umgewandelt.
Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?
Fake News zeigen, wie notwendig Qualitätsjournalismus und unabhängige Medien sind. Aber in erster Linie sehe ich sie als grosse Gefahr für die Gesellschaft. Denn es ist nun mal leider so: Nicht alle Menschen konsumieren Qualitätsmedien und nicht alle haben den Reflex, sich zu fragen ob eine News echt ist oder fake. Und die künstliche Intelligenz ist ein Quantensprung für das Herstellen von Fake News.
Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?
Linear Radio auf jeden Fall und so oft wie möglich. Den Fernseher kann ich allerdings bei uns in der Familie am schlechtesten bedienen – ist mittlerweile etwas komplizierter als nur ein Knöpfchen drücken. Sprich: Fernsehsendungen schaue ich selten live und wenn, dann auf dem Smartphone.
Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?
Oh ja, ich liebe Podcasts. Privat interessiere ich mich besonders für Psychologie- und Familienthemen. Mein grosser Favorit ist der «Beziehungskosmos». Aber auch «mal ehrlich» oder «It’s a Mom’s World» höre ich gerne. Interessant finde ich auch Podcasts, in denen Gesellschaftsthemen aus subjektiver Form beleuchtet werden. Zu empfehlen hätte ich hier die RTS-Produktion «Gouinistan & CO» oder «Ma vie face au cancer» von FranceInfo. Und auch beruflich finde ich Podcasts eine tolle Form der Informationsvermittlung. Vom Podcast «L’Heure du Monde» verpasse ich deshalb selten eine Folge.
Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?
Für die Medien bedeutet es, dass sie den Weg noch nicht gefunden haben zu diesem Publikum. Und für die Gesellschaft hoffe ich, dass sie dies noch tun werden. Denn Medien sind für das Verständnis und auch für den Zusammenhalt der Gesellschaft zentral. Eine Gefahr der sozialen Netzwerke sehe ich darin, dass man nur in seiner Bubble unterwegs ist und dies die Fragmentierung der Gesellschaft fördert. Wenn man hingegen die «Tagesschau» guckt oder den «Tages-Anzeiger» liest, bekommt man ein ganzheitlicheres Bild.
Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?
Eine hochinteressante Frage, die bei uns auch schon am Familientisch zu grossen Diskussionen geführt hat. Ich glaube, Roboter können uns Journalisten die Arbeit erleichtern, respektive einen Teil der Arbeit erledigen. Aber das Denken sollten wir auf keinen Fall den Maschinen überlassen.
Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?
Weder noch.
Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?
Eindeutig ja. Unabhängiger Qualitätsjournalismus ist in einer direkten Demokratie essenziell und sollte gefördert werden.
Schreibst Du manchmal noch von Hand?
Ja, klar. Mein Notizbuch ist immer dabei und wird intensiv gebraucht, wenn ich auf Reportage bin oder auch für meine Vorbereitung auf Liveschalten oder während Recherchegesprächen.
Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?
Mir fällt kein positiver Aspekt ein, den Donald Trump den Medien bringt. Ausser vielleicht höhere Einschaltquoten?
Wem glaubst Du?
Denen, die nicht dogmatisch sind oder die Welt zu stark vereinfachen wollen, sondern Argumente vorsichtig abwägen und eingestehen, dass die Welt komplex ist.
Dein letztes Wort?
Danke für die interessanten Fragen, bin gespannt auf die Antworten meiner Kolleg:innen.
Mirjam Mathis
Mirjam Mathis ist seit September 2022 Frankreich-Korrespondentin von SRF. Davor war sie TV-Korrespondentin für SRF in der Westschweiz. Mirjam Mathis hat Internationale Beziehungen in Genf studiert und einen Masterabschluss in Journalismus. Die 39-jährige Nidwaldnerin hat zuerst als freie Mitarbeiterin bei der «Neuen Nidwaldner Zeitung» gearbeitet, bevor sie zum «Regionaljournal Zentralschweiz» kam, wo sie einen grossen Teil der trimedialen Stage von SRF absolviert hat.
https://www.srf.ch/news
Basel, 3. Juli 2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
Seit Ende 2018 sind über 280 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/
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2 Kommentare zu "Mirjam Mathis: «Ich sehe in Frankreich eine extrem polarisierte Medienlandschaft»"
Auf die Frage „Was soll man heute unbedingt lesen?“ antwortet M. Mathis mit „Das, was man möchte – aber bitte keine Verschwörungstheorien oder Fake News. 😉“
Jetzt muss man nur noch differenzieren, was was ist. Darüber zweifle ich zunehmend immer mehr….
Es gibt mehr als genug Medien, die zu dumm oder zu faul sind, um Fakten zu wissen. Und mehr als genug Medien, die Fakten zwar kennen, sie aber nicht sagen oder schreiben: weil sie ihren Geldgebern nicht passen (könnten). Und mehr als genug Medien, die dafür möglichst intelligent und versteckt lügen. So wie dies beispieksweise von mir als Wissenschaftler erwartet wurde, als es um eine Bildungsorganisation ging, die es nicht bringen kann, aber nicht fundamental in Frage gestellt werden sollte. Und immer weniger Medien scheinen zu merken, was sie in Tat und Wahrheit machen uńd es wie selbstverständlich tun: so wie Raubtiere, die töten, weil sie es für ihr Überleben brauchen. – Ich bin mir bewusst, dass dies alles nicht sehr optimistisch daherkommt. Aber wenn ich wahrnehme, wie viele frisch und fröhlich so tun, wie wenn alles bestens wäre, denke ich, dass die Lage hoffnungslos sein könnte, dies aber von einer massgebenden Mehrheit nicht wirklich und wirkungsreich ernst genommen wird.