Min Li Marti: «Die klassischen Medien werden zum Minderheitenprogramm»

Publiziert am 24. April 2019 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview mit der Zürcher Nationalrätin und Chefredaktorin der Wochenzeitung «P.S.» Min Li Marti über ihren persönlichen Mediengebrauch, ihren Umgang mit sozialen und anderen Medien sowie Zustand und Zukunft des Journalismus in der Schweiz. Sie sagt, dass die Qualität vor allem der Lokalberichterstattung abgenommen habe: «Das Problem ist hier vor allem das verloren gegangene Wissen.» JournalistInnen schrieben lieber darüber, «ob der Schwenker von Petra Gössi in der Klimapolitik taktisch klug war oder nicht und nicht darüber, was überhaupt Inhalt des CO2-Gesetzes war.» Min Li Marti ist dennoch überzeugt, dass guter Journalismus «aufrütteln, sensibilisieren, motivieren oder mobilisieren» kann – und so auch durchaus in der Lage ist, die Welt zu verändern.

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Ich lese am Morgen, bevor ich ins Büro gehe, «Tagi» und NZZ in einem Café. In dieser Reihenfolge und auf Papier, ganz klassisch. Ich finde es immer noch ein Privileg, dass das quasi zu meiner Arbeit gehört.

Einfach, damit man nicht das Gefühl hat, ich konsumiere die Zeitungen nur gratis: In unserem Haushalt haben wir mehr als zehn Zeitungsabos, digital oder Print.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Ich mag am liebsten Twitter, auch wenn das eine relativ kleine Welt ist. Trotzdem entdecke ich da immer wieder interessante Artikel und Links, die mir von anderen vorgeschlagen werden. Facebook hat bei mir massiv an Reiz verloren. Eigentlich ist es für Diskussionen geeigneter als Twitter, aber der Feed ist bei mir mittlerweile wesentlich uninteressanter geworden. Ich verstehe ihn auch nicht mehr. Bei Instagram bin ich noch ein wenig am Ausprobieren, es ist mir aber eher zu lifestylig. Vielleicht bin ich auch zu alt.

Es passiert etwas ganz Schlimmes wie 9/11. Wie informierst Du Dich?

Twitter. Und dann wohl CNN.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Die Qualität vor allem der Lokalberichterstattung hat meines Erachtens abgenommen. Das Problem ist hier vor allem das verloren gegangene Wissen. JournalistInnen haben heute weniger Zeit, sich Hintergrundwissen anzueignen und Beziehungen aufzubauen. Sie haben heute nicht einmal Zeit, die anderen Zeitungen zu lesen. Das halte ich für ein Grundproblem: Es macht es PolitikerInnen und Interessenverbänden massiv einfacher, eine Geschichte mit dem gewollten Spin verkaufen zu können.

In den 1990er Jahren wurde über die städtische Politik (in Zürich) medial sehr intensiv berichtet. Heute findet sie kaum mehr statt, es dreht sich mehr um nationale Themen und Personen. Darum wird auch von den Medien immer bemängelt, Kandidierende in den Stadt- und Regierungsratswahlen seien zu wenig bekannt, wenn sie keine NationalrätInnen sind. Sie sind aber nicht bekannt, weil nur wenig über lokale und kantonale Politik berichtet wird. Hier beisst sich die Katze selber in den Schwanz. Die Abnahme der Medienvielfalt merke ich als Vielmedienkonsumentin auch, ich habe früher gerne beispielsweise auch mal den Bund gelesen, heute lohnt sich das nicht mehr.

Bei der Aufmachung und Gestaltung der Geschichten, bei Analysen und Hintergrundbeiträgen und auch bei der Schreibe sind die Medien eher besser geworden. Es gab früher mehr langweilige und lieblose Pflichtbeiträge. Heute muss man mehr um den Leser oder die Leserin kämpfen. Das ist nicht nur schlecht.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Unbedingt: Lesen ist immer noch die effizienteste Art, sich in nützlicher Frist viele Informationen anzueignen. Ob die jetzt bestehenden Massenmedien in der heutigen Form noch Zukunft haben ist eine ganz andere Frage.

Was muss man unbedingt gelesen haben?

Ganz vieles. Aber ich verweise hier auf einen alten Text, der dennoch immer noch viel Aktualität besitzt. Der amerikanische Journalist James Fallows schrieb 1996 das Buch: Breaking the News: How the Media Undermine American Democracy (eine Kurzfassung davon ist im Online-Archiv der Zeitschrift The Atlantic zu finden: https://www.theatlantic.com/magazine/archive/1996/02/why-americans-hate-the-media/305060/). Fallows postuliert darin die These, dass die Fokussierung des Journalismus auf die taktischen Fragen der Politik, also auch der sogenannte Horse-Race-Journalismus, den Politverdruss fördert und die Glaubwürdigkeit der Medien beschädigt. Also auf die Schweiz übersetzt: JournalistInnen schreiben lieber darüber, ob der Schwenker von Petra Gössi in der Klimapolitik taktisch klug war oder nicht und nicht darüber, was überhaupt Inhalt des CO2-Gesetzes war.  Als Politikerin interessieren mich solche polittaktischen Fragen natürlich brennend. Als Bürgerin möchte ich allerdings wissen, für welche Inhalte sich Politikerinnen und Politiker einsetzen. Man macht es damit auch Politikerinnen und Politiker sehr leicht, sich hinter Floskeln wie «generationengerecht», «ordnungspolitisch» oder «nachhaltig» zu verstecken.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Früher musste ich alle Bücher zu Ende lesen. Heute ist mir meine Zeit zu schade. Es gibt Ausnahmen im Sachbuchbereich, die inhaltlich interessant aber nicht sonderlich gut geschrieben sind, durch die ich mich dann «quäle».

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Teilweise auf Twitter. Auf Websites wie vox.com finde ich auch immer wieder Artikel oder Explainers zu Themen, die ich nicht aktiv gesucht hätte. Dann aber durchaus in klassischen Medien, zum Beispiel auch im Radio.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

So lange es sich noch lohnt, sie zu produzieren. Oder es sich jemand als Hobby leisten möchte. Vermutlich also nicht mehr lange.

Kann man mit Journalismus die Welt verändern?

Tamara Funiciello zitiert gerne Rosa Luxemburg mit: «Zu sagen, was ist, bleibt die revolutionärste Tat.» In diesem Sinne kann Journalismus aufrütteln, sensibilisieren, motivieren oder mobilisieren. Und so auch durchaus die Welt verändern. Es ist aber ehrlicherweise nicht der Regelfall, aber das gilt für die Politik auch.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Der Begriff Fake News ist ja mittlerweile von den Rechten als Kampfbegriff usurpiert worden, ich verwende ihn daher nicht gerne. Es gab schon immer Fälschungen, Falschmeldungen und Manipulationen. Man erinnere sich nur an die gefälschten Hitlertagebücher, die Rede des Häuptlings Seattle oder die konstantinische Schenkung. Lügen und Verschwörungstheorien wie die «Protokolle der Weisen von Zion» haben in der Geschichte viel Schlimmeres angerichtet und tun es heute noch, als die Fake-News im letzten amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf. Aber Fake-News sind nicht harmlos, gerade wenn sie mit dem Bedeutungsverlust der traditionellen Informationsträger einhergehen. Die Nonchalance im Umgang mit objektiven Fakten und der Wahrheit, die die Trump-Administration und einige ihrer europäischen Fans einnehmen, hat schon auch eine neue Qualität. Das gleiche gilt auch für die gezielten Desinformationskampagnen der russischen Regierung.

Interessanterweise haben Studien ergeben, dass ältere Menschen diesen «Fake-News» öfters Glauben schenken als jüngere. Man spricht immer über Online-Radikalisierung von Jungen (zum Beispiel bei den sogenannten Incels und Männerrechtlern oder beim IS), aber ich stelle häufig fest, dass es bei älteren Menschen schlimmer ist. Ich kenne etliche total rationale, gebildete Menschen, die solche Internet-Schauermärchen weiterverbreiten wie beispielsweise, dass es in Schweden Quartiere gibt, die man als Nicht-Muslim nicht betreten könne. Medienkompetenz ist also nicht nur ein Thema für Jugendliche.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Lineares Fernsehen gibt es in meiner Welt fast nur noch bei spezifischen Anlässen wie der Fussball-WM oder Abstimmungs- oder Wahlsonntagen. Ansonsten schaue ich – wie alle – Serien auf Netflix. Und manchmal BBC-Kochsendungen. Zum Kochen oder Abwaschen höre ich SRF4.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Das ist eine Bildungslücke. Da ich mein eigenes Podcastprojekt habe: Ein feministischer Podcast mit Natascha Wey (www.femmefact.ch), muss ich hier unbedingt diese Lücke schliessen und mal intensiver in die grossen Vorbilder reinhören wie Pod save America aus der Ecke von ehemaligen Obama-Mitarbeitern oder Chapo Trap House von weiter aussen links. Oder die feministischen Podcasts Lila Podcast oder Call your Girlfriend. Es gibt auch in der Schweiz eine Reihe ähnlicher Projekte, da freu ich mich darauf. Zum Beispiel der Podcast Spin am Sonntag mit dem politischen Philosophen Andreas Cassee und seinem Bruder, dem Kampagnenspezialisten Tom Cassee.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 53 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Ich stelle immer wieder fest, dass Leute ausserhalb der Medien und Politik-Bubble viele dieser Geschichten, die uns massiv beschäftigen, gar nicht oder nur am Rand mitbekommen. Das ist nicht eine Altersfrage, die klassischen Medien werden grundsätzlich eher zum Minderheitenprogramm, vielleicht waren sie es ja auch schon immer (mit Ausnahme vielleicht der «Tagesschau»). In der Politik ist es hier sehr ähnlich: Es gibt eine Hierarchie der Themen. Finanz- und Wirtschaftspolitik hat ein hohes Prestige, Bildungs- oder Familienpolitik ein kleines. Im realen Leben interessieren sich aber viel mehr Menschen für letzteres. Das gilt auch für die Medien: Frauenthemen, sogenannte Soft News, werden oft stiefmütterlich behandelt. Das gleiche gilt für Themen, die junge Menschen interessieren könnten. Die Medienschaffenden selber sind ja auch ein relativ einseitig zusammen gesetzter Teil der Gesellschaft. Mehr Diversität in Alter, Geschlecht und Hintergrund könnte hier guttun.

Das Medienverhalten vor allem der Jungen hat sich sicher verändert, aber das heisst nicht, dass sie nur an den Kardashians und Katzenvideos interessiert sind. Gerade erleben wir mit der Klimabewegung eine massive Politisierung von jungen Menschen, es gab eine Mobilisierung junger Frauen nach den Trump-Wahlen, da habe ich keine Angst, dass diese Jungen sich nicht für das Weltgeschehen oder für Politik interessieren.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Das scheint mir nicht eine sonderlich wertschätzende Haltung gegenüber den eigenen JournalistInnen zu sein. Ich kann mir schon vorstellen, dass gewisse Arbeiten automatisiert werden könnten, beispielsweise Übersetzungen, allenfalls Kurzmeldungen, aber das ist ein eher kleiner Teil. Analyse, Einordnung, Kommentar, Glosse, Recherche – all diese Kernstücke der journalistischen Arbeit können nicht automatisiert werden. Roboter werden wohl auch nicht den Tages-Anzeiger abonnieren, sondern weiterhin Menschen.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Ich antworte mal wie Radio Eriwan: Im Prinzip Ja. Ich denke, es braucht auch in Zukunft noch den professionellen Journalismus und darum muss man Mittel und Wege suchen, diesen zu ermöglichen.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Selten. Ich kann meine Handschrift auch nicht gut lesen.

Ist Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Er ist schlecht für die Medien, auch wenn die «New York Times» oder die «Washington Post» mehr Abos verkaufen können. Der Effekt, den James Fallows für 1996 beschrieben hat, ist aber mit Trump exponentiell gestiegen. Über jeden Tweet und jeden Furz von Trump wird exzessiv berichtet, aber es wird letztlich nur die Stilfrage diskutiert: Darf ein Präsident sich so verhalten? Hat sich je ein Präsident so verhalten? Wir haben das auch bei der SVP gesehen: Diese Stildiskussion nutzt sich massiv ab.

Wem glaubst Du?

Ich bin eine Zweiflerin und stelle auch eigene Überzeugungen immer wieder in Frage. Ich glaube also nicht, ich möchte (mehr) wissen.

Dein letztes Wort?

Das Interview ist eh schon zu lange geraten.


Min Li Marti
Min Li Marti, 1974, ist Verlegerin und Chefredaktorin der Wochenzeitung «P.S.». Sie hat in Zürich Soziologie, Publizistikwissenschaft und Sozial- und Wirtschaftsgeschichte studiert und danach beim SPRI ein CAS in Unternehmenskommunikation gemacht. Seit 2015 vertritt sie die SP des Kantons Zürich im Nationalrat.
www.minli-marti.ch


Basel, 24. April 2019, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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2 Kommentare zu "Min Li Marti: «Die klassischen Medien werden zum Minderheitenprogramm»"

  1. Man lernt immer mal wieder was bei Ihnen, Herr Zehnder.
    Mir ist Min Li Marti auch schon mal aufgefallen, und zwar bei der Sichtung des „Sonn-Talks“ auf TeleZüri mit Markus Gilli. Sie blieb mir in Erinnerung mit ziemlich extremen Ansichten, sozialistischen Ideen und im Unterbrechen anderer Talkgäste war sie spitze.
    Nun erfuhr ich mehr über die Zürcherin. Interessant dass sie Chefredaktorin ist, und dies (interessant) bei einer linken „Wochenzeitung“ namens P.S., welche ich so nicht kannte. Interessant, dass Sie über Donald Trump zu beginn ihrer Antwort sagte: „Er ist schlecht“….
    Interessant, dass ich jetzt überlege – soll ich nun bloss die „Weltwoche“ oder „PS“ abonnieren?
    Oder gar beide?
    Interessant – immer wieder – die Seite Matthias Zehnders.

  2. Das Interview mit Min Li Marti gehört für mich zu den interessantesten in dieser Serie. Marti geht sehr differenziert und gehaltvoll auf die Fragen wirklich ein. Zum Lokaljournalismus z.B. sagt sie sehr Bedenkenswertes. Gleichzeitig gibt sie wertvolle Hinweise auf nützliche Informationsquellen.
    Andere Interviewte in dieser Reihe versuchen oft mehr originell als informativ zu sein. Oder sie haben, wie im Extremfall von Tamara Wernli, zum Thema Journalismus nicht wirklich Substanzielles beizutragen.
    Insgesamt gefällt mir diese Interviewreihe aber sehr gut. Danke!

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