Milena Moser: «Grossmütter schätzen die Weltlage manchmal realistischer ein als Journalisten…»

Publiziert am 8. Juli 2020 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – im Sommer mit Schweizer SchriftstellerInnen. Heute: Milena Moser. Sie beginnt den Tag nicht mit Zeitungen, sondern mit einer Zenmeditation per Zoom. Anfangs fand sie das absurd. «Doch es stellte sich überraschend tröstlich und inspirierend heraus, diese halbe Stunde frühmorgens mit anderen zu teilen.» Auf die Frage, wie lange es noch gedruckte Tageszeitungen gebe, antwortet sie: «Keine Ahnung. Ich weiss nur, dass es immer Bücher geben wird.» Milena Moser lebt in San Francisco und glaubt, Donald Trump habe «in nicht wenigen Journalisten eine vorher vielleicht etwas eingeschlafene Berufsehre wieder geweckt, ein Gefühl für die ursprünglichen Werte des Berufes.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Seit der Quarantäne, die bei uns ja immer noch anhält, beginnt der Tag für mich mit Zoom, genauer Zazoom oder Zazen auf Zoom mit meinem «Mutterhaus», dem Sweetwater Zen Center in San Diego. Anfangs fand ich das eher absurd, da die Zenmeditation ja im Stillen und mit gesenktem Blick durchgeführt wird. Doch es stellte sich überraschend tröstlich und inspirierend heraus, diese halbe Stunde frühmorgens mit anderen zu teilen. Zu wissen, dass sie da sind.

Als nächstes beantworte ich E-Mails, möglichst vor acht Uhr, wenn in der Schweiz Büroschluss ist.

Frühstück folgt dann erst später.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Es ist eine Art Hassliebe, seit ich vor zehn Jahren oder so auf Verlangen meines damaligen Verlags einen «social media workhop für Autoren» besuchte. Da wurde uns unmissverständlich klar gemacht, dass wir diese Schienen bedienen müssen. Und dass unser «Marktweg» an Likes und Shares und Followern gemessen wird. «Und wann sollen wir unsere Bücher schreiben?», fragte ein Teilnehmer damals. Die Frage hallt immer noch in mir nach, an die Antwort erinnere ich mich bezeichnenderweise nicht.

Andererseits hat mich eine Facebook-«Freundin», die ich im wahren Leben nie getroffen habe, durch den Albtraum der diversen Herzoperationen begleitet, die mein Mann Victor in den letzten zwei Jahren durchmachen musste. Sie ist Spezialistin auf genau diesem Gebiet und ist mir virtuell nicht von der Seite gewichen, hat mir die oft kurzangebunden Kommentare der Ärzte übersetzt, mir die Eingriffe erklärt, mich bei Bedarf getröstet. Und ist mir so nähergekommen als viele meiner «real life»-Freunde.

Es passiert etwas ganz Schlimmes wie 9/11. Wie informierst Du Dich?

Gutes Beispiel! Obwohl ich damals ja in Amerika lebte, habe ich es erst erfahren, als meine Mutter aus der Schweiz anrief. Der Morgen war wie in allen Familien eine hektische Zeit, Frühstück, Schuluniformen, Lunchboxes, Chaos – keine Zeit für Nachrichten. Ich weiss noch wie ich die Augen verdrehte und mit meinem älteren Sohn einen Blick wechselte: Ach, die Oma übertreibt wieder mal…

Später an diesem Tag stand dann eine Schweizer Journalistin vor der Tür, die mich zu meinem neuen Buch interviewen wollte. Als ich vorschlug, das Gespräch angesichts der Ereignisse abzublasen, sagte sie die unvergessenen Worte: «Ach was, da redet doch nächste Woche niemand mehr drüber!» Womit sie, wie wir wissen, nicht recht behalten hat. Tja, Grossmütter schätzen die Weltlage manchmal realistischer ein als Journalisten…

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Das kann ich schlecht beurteilen. Ich weiss nur, dass die Stimmung unter Journalisten schon 1996, als ich als «writer im residence» im Tages-Anzeiger arbeitete, sehr pessimistisch war. Budgetkürzungen und daraus resultierende, von «oben» schulterzuckend akzeptierte Qualitätseinbussen waren ein grosses Thema. Seither sind die Zeitungen in jeder Hinsicht nur dünner geworden, nicht?

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Natürlich. Werden Sie immer haben.

Was muss man unbedingt gelesen haben?

Man muss gar nichts. Lesen ist etwas Intimes, es entsteht eine Beziehung zwischen Leser und Buch (ich gehe automatisch davon aus, dass du von Büchern redest…). Das lässt sich nicht so einfach übertragen. Als gelernte Buchhändlerin weiss ich auch, dass ich erst einiges über dich erfahren muss, bevor ich dir das perfekte Buch empfehlen kann.

Wenn du aber nach meinen Lieblingsbüchern fragst, dann sind das:

…okay, okay, ich hör schon auf!

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ich lese immer noch genau so, wie ich als Kind gelesen habe. Ein Buch, das mich nicht an der Hand nimmt und auf eine Reise mitnimmt, lege ich weg. Nach drei Seiten, nach dreissig, manchmal auch nach dreihundert. Es kommt aber vor, dass ich es dann Jahre später wieder hervornehme und es ganz anders lese. Umgekehrt bin ich manchmal von Lieblingsbüchern enttäuscht, die ich nach langer Zeit wiederlese. Wie gesagt, ob man ein Buch liebt oder nicht, hat ebenso viel mit einem selber zu tun, wo man gerade steht, was einen beschäftigt, wie mit dem Buch selber.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Von Menschen. Ich hatte immer schon einen sehr heterogenen Freundeskreis, Menschen mit den unterschiedlichsten Ansichten, Vorlieben, Lebensformen und Prioritäten. In Amerika habe ich auch gelernt, mit Fremden zu reden, in einer Warteschlange, einem öffentlichen Verkehrsmittel, im Park. Entgegen des europäischen Vorurteils sind diese Gespräche alles andere als oberflächlich, man kann in wenigen Minuten sehr viel über die Lebensumstände und die Haltung dieser scheinbar Fremden erfahren. So erweitere ich meinen Horizont jeden Tag ein bisschen.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Bis zum 12. August 2023. Just kidding. Keine Ahnung. Ich weiss nur, dass es immer Bücher geben wird.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Ich finde sie sehr gefährlich, vor allem wenn ich sehe, was sie auch mit Menschen machen, die ich an sich mag. Santa Fe zum Beispiel, wo ich ein paar Jahre lang lebte, ist von Künstlern, Hippies, Sinnsuchenden, spirituell Experimentierenden etc. geprägt. Sensible, neugierige, offene Menschen, die zur speziellen Atmosphäre der Stadt beitragen. Sie sind aber auch, das musste ich in den letzten Jahren mit zunehmender Bestürzung feststellen, extrem anfällig auf Verschwörungstheorien und fallen gern auf das «us versus them»-Konstrukt herein. «Die wollen uns doch nur kontrollieren» als Reaktion auf die Sicherheitsmassnahmen während der Pandemie. Da sind diese Freigeister plötzlich mit Trumpanhängern einig. Das erschüttert mich schon.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Das Autoradio ist auf NPR programmiert, was mir einen willkürlichen und unvollständigen, aber immer spannenden täglichen Zusammenschnitt von Nachrichten und Kommentaren sichert. Aber da ich seit drei Monaten nicht mehr mit dem Auto unterwegs war…

Sonntags hören wir immer den Newsquiz «Wait wait don’t tell me!» Allerdings habe ich irgendwann gemerkt, dass der bereits am Samstag aufgezeichnet wird. Gilt das trotzdem noch als live?

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Nein, ich mag es nicht, wenn mir vorgelesen wird, ich mochte das schon als Kind nicht. Ausserdem nimmt meine Arbeit den grössten Teil meines Tages ein, und wenn ich schreibe, kann ich nicht einmal Musik hören. Manchmal beneide ich bildende Künstler, Handwerker, Köche, Gärtner, kurz alle die während der Arbeit fernsehen, Musik – oder eben Podcasts hören, telefonieren oder gar Besuch empfangen können. Manchmal denke ich, es gibt keine einsamere (asozialere?) Tätigkeit als das Schreiben.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Hm. Gibt es nicht zu jeder Statistik eine Gegenstatistik? Mir scheint, ich habe eine Umfrage darüber gelesen… Mir scheint diese Generation, zu der auch mein jüngerer Sohn gehört, extrem gut informiert. Vielleicht nicht immer über traditionelle Kanäle.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Wenn ich jetzt schlecht gelaunt wäre, würde ich sagen: «Ach, werden sie das nicht schon lange?» Nein, sorry. Das war jetzt nicht fair. Aber man kann sich schon fragen, ob Roboter es so viel schlechter machen würden. Wenn man davon ausgeht, dass Roboter kein Ego haben und nicht bestechlich sind. Wobei, wer programmiert die Roboter und wie bestechlich oder egozentrisch sind diese Leute?

Seufz.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Ich masse mir nicht an, die Zukunft vorauszusehen. Nichts von dem, was mich jetzt gerade beschäftigt, hätte ich voraussehen können. Generell bemühe ich mich, nicht ständig zu spekulieren, was wohl als nächstes passieren könnte. Oder ständig zu vergleichen. Das ist nicht nur eine vollkommen müssige Denkübung, sondern auch eine der klassischen Ursachen des Leidens.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ja, oft. Ich mache alle meine Notizen von Hand, kann sie aber oft später nicht mehr lesen, oder interpretieren. Das macht aber nichts. Der physische Akt des Schreibens hilft mir, meine Gedanken zu bündeln. Wenn ich aber ganz in einer Geschichte drin bin, dann kommen die Bilder zu schnell, als dass ich von Hand noch mithalten könnte.

Ist Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Ich glaube, Trump hat in nicht wenigen Journalisten eine vorher vielleicht etwas eingeschlafene Berufsehre wieder geweckt, ein Gefühl für die ursprünglichen Werte des Berufes. Das ist eine positive Nebenwirkung. Aber ich würde gerne eine zynische Mediengesellschaft in Kauf nehmen, wenn dafür die humanitären, ökologischen, ökonomischen, politischen, you name it! Katastrophen der letzten vier Jahre rückgängig gemacht würden.

Wem glaubst Du?

Dem leisen Gedanken im Hinterkopf.

Dein letztes Wort?

Ja.


Milena Moser:
1963 in Zürich geboren, gelernte Buchhändlerin, Autorin von 22 Büchern, zuletzt «Land der Söhne» und «Das schöne Leben der Toten» mit Victor-Mario Zaballa. Milena Moser ist 2015 zum zweiten Mal in die USA ausgewandert. Nach ein paar Jahren in Santa Fe, New Mexico lebt sie heute wieder in San Francisco.
https://milenamoser.com/

«Das schöne Leben der Toten»

Anders als bei uns in Europa ist der Tod in der mexikanischen Kultur kein Tabu, sondern immer präsent. Mexikanerinnen und Mexikaner freuen sich auf den Tag der Toten, wenn die Verstorbenen zu Gast sind, um ein rauschendes Familienfest zu feiern.

Milena Moser hat über diesen Día de los Muertos eine sehr persönliche Geschichte geschrieben. Victor-Mario Zaballa, ihr Partner, Co-Autor und Illustrator, ist selbst schwer krank. Er hat keine Lust zu sterben. Aber er fürchtet den Tod nicht. Er weiss: Den Toten geht es gut. Milena Moser beschreibt, wie ihr Victor den Umgang seiner Kultur mit dem Tod erschliesst. Mit viel Witz und Trost vermitteln uns die beiden das Bild von einem Tod, der zum Leben gehört – ungezwungen und selbstverständlich.

Milena Moser, Victor-Mario Zaballa (Illustrationen): Das schöne Leben der Toten. Vom unbeschwerten Umgang mit dem Ende. Kein&Aber, 176 Seiten, 25.90 Franken; ISBN 978-3-0369-5818-7

Hier erhältlich: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783036958187


Basel, 8. Juli 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

PS: Nicht vergessen – Wochenkommentar abonnieren. Kostet nichts, bringt jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen Kommentar, den aktuellen «Medienmenschen» und einen Sachbuchtipp. Einfach hier klicken. Videos dazu gibt es auf meinem Youtube-Kanal.

 

Ein Kommentar zu "Milena Moser: «Grossmütter schätzen die Weltlage manchmal realistischer ein als Journalisten…»"

  1. Dieser Titel ist aber echt subversiv!

    Denn hätte man meine Mutter – immerhin 15-fache Grossmutter und Urgrossmutter – gefragt, dann hätte es keinen Lockdown und keine geschlossenen Pflegeheime gegeben! Dann hätten die Spitäler zwar zu kämpfen gehabt, die Lage aber gelegentlich in den Griff bekommen und gelernt, wie man mit dieser Krankheit so gut es geht eben umgehen kann. Die Menschen hätten selbstverständlich auch nicht einfach nur sinnlos vor sich hin gefeiert, denn sie hätten ja gewusst was Sache ist – und dass sie selber Verantwortung übernehmen müssen.

    Sie hätten sich von selber so verhalten wie es einer zwar mässigen, aber doch nicht zu ignorierenden Pandemie angemessen ist, die zumindest einige ja doch ziemlich hart trifft. Selbstverständlich hätte auch niemand auch nur im Traum daran gedacht, für gewisse „Hotspots“ etwa den Staat wegen fehlenden Massnahmen verantwortlich zu machen!

    Und ihr Mann, mein Vater, hätte seine letzten Wochen und Monate in engem Kontakt mit Familie und Freunden verbracht, während er dank Lockdown jetzt ziemlich einsam und eingesperrt gestorben ist – ganz ohne Corona, aber immerhin mit seiner Frau.

    Aber das sind natürlich jetzt alles nur Grossmütter-Phantasien und -Träume! Und weil das so weit weg ist von der heutigen „neuen Normalität“ hat man sie darum auch lieber nie gefragt: die Leute könnten ja sonst auf dumme Gedanken kommen und meinen dass es auch Alternativen gäbe – sachlicher und mehr mit der Vernunft und Eigenverantwortung der Menschen rechnende…

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