Michèle Widmer: «Die Medien haben die Veränderung der Mediennutzung verschlafen»
Das 234. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Michèle Widmer, Redaktionsleiterin des Onlinemagazins «persoenlich.com». Sie sagt, in der Schweiz sei «die Medienvielfalt früher sicher grösser» gewesen. «Dafür ist es deutlich einfacher geworden, Medien aus der ganzen Welt zu konsumieren. Das sehe ich als eine Bereicherung.» Die Frage ist, wer diese Medien nutzt: «Bei den jungen Erwachsenen sind Social Media bereits wichtiger als Newssites», sagt Widmer. Die Medien hätten die Veränderung der Mediennutzung «in den letzten Jahren teils verschlafen». Das solle jetzt «ein Ansporn sein, hier wieder aufzuholen.» Eine Rolle könnte dabei die Automatisierung spielen: Sie hofft, dass die KI «Medienschaffende im Job unterstützen wird». Der Mensch als letzte Instanz werde aber bleiben, «auch im Sinne eines Qualitätslabels.»
Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?
Als Fachjournalistin ist mein mediales Frühstück reichhaltig. Aber zuerst lese ich immer den «Tagi». Danach erst folgt der richtige Zmorge.
Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?
Twitter und Instagram sind für mich Unterhaltung und Informationsquelle zu gleich. Facebook nutze ich seit ein paar Monaten nicht mehr. Dafür gewinnt LinkedIn auch für mich an Relevanz.
Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?
Ich wurde während der Coronapandemie zum zweiten Mal Mutter. Zeit wurde oder ist seither ein rares Gut. Das hat meinen Medienkonsum weitaus mehr beeinflusst.
Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?
Mit Blick auf die Schweiz oder die Regionen war die Medienvielfalt früher sicher grösser – auch in Bezug auf Medienkritik. Dafür ist es deutlich einfacher geworden, Medien aus der ganzen Welt zu konsumieren. Das sehe ich als eine Bereicherung.
Haben geschriebene Worte noch Zukunft?
Was für eine Frage. Auf jeden Fall.
Was soll man heute unbedingt lesen?
Jemand Schlaues hat mir mal gesagt: Lesen erweitert immer den Horizont, – dabei ist es ziemlich egal, was du liest.
Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?
Die kann ich guten Gewissens weglegen.
Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?
Meistens im Gespräch mit anderen Menschen, die nicht in der Medienbranche tätig sind.
Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?
Für die ältere Generation sind gedruckte Tageszeitungen wichtig. Die Reichweite der Tagespresse nimmt laut Wemf-Studie zwar stetig ab, ist aber teils noch auf hohem Niveau. Klar ist aber: Ich persönlich hatte schon lange keine gedruckte Tageszeitung mehr in der Hand. Und die jüngere Generation schon gar nicht.
Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?
Für die Medien wäre es eine Chance, in einer Welt voller Fake News ihre journalistische Qualität zu vermitteln und darzulegen, warum diese Arbeit wichtig und wertvoll ist. Bisher gelingt das aber nicht bis in die breiten Massen.
Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?
Ich schaue und höre regelmässig SRF, aber nie linear. Ein Fernsehgerät findet man bei uns nicht.
Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?
Ja, meistens unterwegs oder beim Sport. Tagesaktuell höre ich «Apropos». Gerade beeindruckt hat mich «Boys Club Macht und Missbrauch bei Axel Springer». Ab und zu höre ich eine Folge «Beziehungskosmos» oder «Zivadiliring».
Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?
Der aktuelle Digital News Report zeigt: Bei den jungen Erwachsenen zwischen 18 bis 24 Jahren sind Social Media (41 Prozent) bereits wichtiger als Newssites (37 Prozent). Die Medien haben die Veränderung der Mediennutzung in den letzten Jahren teils verschlafen. Nun sollte es ein Ansporn sein, hier wieder aufzuholen.
Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?
Tools wie ChatGPT und generell die Entwicklung der künstlichen Intelligenz zeigt uns gerade, was hier möglich ist. Grundsätzlich glaube ich, dass die Automatisierung uns Medienschaffende im Job unterstützen wird. Der Mensch als letzte Instanz wird aber bleiben, auch im Sinne eines Qualitätslabels.
Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?
Ich würde Letzteres sagen.
Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?
Das kommt auf die genaue Ausarbeitung dieser Medienförderung an. Wichtig scheint mir, dass dabei nicht alte Strukturen zementiert werden.
Schreibst Du manchmal noch von Hand?
Ein Notizbuch liegt eigentlich immer neben meinem Laptop. Dort steht meistens eine To-do-Liste für den aktuellen Tag und auch Notizen von Telefongesprächen landen dort.
Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?
Anfänglich war er sicherlich gut, weil er Onlinemedien viele Klicks brachte. Mit dieser medialen Präsenz hievte man einen Mann mit in die Höhe, der am Schluss zum Sinnbild von Fake News wurde und viel Schaden angerichtet hat.
Wem glaubst Du?
Grundsätzlich nicht einfach den lautesten Stimmen. Ich glaube den Menschen, die ich als reflektiert wahrnehme.
Dein letztes Wort?
Bleibt optimistisch.
Michèle Widmer
Michèle Widmer ist Redaktionsleiterin von «persoenlich.com», dem Schweizer Online-Magazin für Medien, Kommunikation und Werbung. Davor arbeitete sie beim «Tages-Anzeiger» in Zürich. Sie hat an der ZHAW in Winterthur Journalismus und Kommunikation studiert. Sie ist Vorstandsmitglied des Schweizer Reporter:innen-Forum. Michèle Widmer lebt mit ihrer Familie in Zürich.
https://www.persoenlich.com/
Basel, 21. Juni 2023, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
Bild: Marc Wetli
Seit Ende 2018 sind über 230 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/
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2 Kommentare zu "Michèle Widmer: «Die Medien haben die Veränderung der Mediennutzung verschlafen»"
Die Mehrheit der Medien scheinen nicht nur ihre Nichtnutzung, sondern auch die Veränderung der Welt verschlafen zu haben.
Die schlauste Antwort von den 777 Gästefragebogen M. Zehnders auf die Frage „Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?“ kam hier von Michele Widmer: „Das kommt auf die genaue Ausarbeitung dieser Medienförderung an. Wichtig scheint mir, dass dabei nicht alte Strukturen zementiert werden.“
Auf den Punkt gebracht. Genau (wenn überhaupt) müsste sie ausgearbeitet werden (kein Giesskannenprinzip) und „weg von den alten zementierten Strukturen“ – dazu gehören die grossen Medienhäuser, welche gerne und oft bei Staatsknete zulangen und natürlich auch der SRG-Koloss mit Riesenanteil von unseren Zwangs-Medien-Gebühren-Abgaben (welche bald nicht mehr ganz abgeschafft werden, jedoch auf 200 Fr runtergeschraubt werden sollen, was, wenn ich bei den „Normalos“ rumhöre, intakte Chancen hat; besonders jetzt, wo wirklich der Hinterste und Letzte bemerkt, das alles, aber wirklich alles im Leben teurer wird).
Frau Widmer ist Teil eines tollen Teams, welches das unverzichtbare und zentrale Medienmagazin „Persönlich“ (online und gedruckt) herausgibt, welches sachlich, seriös, informativ und politisch sehr korrekt und neutral informiert.