Michael Gerber: «Fakten und Werte scheinen verhandelbar. Das macht mir Sorgen.»

Publiziert am 10. August 2022 von Matthias Zehnder

Das 189. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Michael Gerber, SRF-Korrespondent im Vereinigten Königreich und Irland. Er sagt, er liebe es, «unterwegs im Zug Zeitung zu lesen». Früher seien die Medien in der Schweiz weder besser noch schlechter gewesen: «Es war anders, behäbiger.» Heute sei die Auswahl an den Zeitungskiosken zwar kleiner geworden, aber: «Es gab noch nie so viele News- und Meinungs-Artikel wie heute. Von den unzähligen Posts auf den digitalen Plattformen ganz zu schweigen.» Das sei für Medienschaffende eine Herausforderung: «Wir müssen uns täglich fragen, was kann ich mehr bieten – als die vielen Menschen, die auf digitalen Netzwerken unablässig Fotos und Kurztexte über bestimmte Ereignisse publizieren?» Das grosse Problem dabei: «Medienschaffenden wird nicht mehr vertraut – sondern primär misstraut.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Ich höre mir die Radio-Morgenshow auf BBC-Radio 4 an. Parallel dazu lese ich das London-Playbook von Politico sowie die Polit-Berichte und -Kommentare der «Times», des «Guardians» und des «Daily Telegraphs». Auf meinem Tablet schaue ich auch den «Press Reader» an – eine enorm praktische Sammlung vieler britischen Zeitungen. Da interessieren mich vor allem die grossen Boulevard-Geschichten in der «Sun» oder im «Mirror».

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram? 

Die sozialen Medien werden für mich immer wichtiger – als Informationsbeschaffungs- und Austausch-Plattformen. Und: Sie können nützlich sein bei der Suche nach Interview-Partner:innen: Für eine Reportage über Frauenfussball-EM suchte ich Fussballerinnen, die ich beim Training filmen und mit denen ich ein Halbfinalspiel in einem Pub anschauen konnte. Via Instagram wurde ich fündig. 

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Fast gar nicht. Ich war während des Lockdowns im SRF-Newsroom in Zürich tätig, als Ausland-Redaktor und Aktualitäts-Koordinator der Auslandredaktion von SRF Video. Diese Arbeit liess sich nicht aus dem Homeoffice erledigen. 

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter? 

Weder noch. Es war anders, behäbiger. Die Zeitungen waren vielfältiger. Und ihre lokale Verankerung war enorm wichtig – mit vielen Regional-Blättern. Das habe ich als Jungjournalist bei der «Berner Zeitung BZ» erlebt: Die Leserschaft verfolgte genau, wie ich über ihre Gemeindeversammlung schrieb und ob ich mich in meinem Berichtsgebiet auskannte. Es gab böse Briefe, wenn ich einen Strassennamen verwechselte.  

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Bestimmt. Obwohl die Auswahl in den Zeitungskiosken kleiner geworden ist: Es gab noch nie so viele News- und Meinungs-Artikel wie heute. Von den unzähligen Posts auf den digitalen Plattformen ganz zu schweigen. 

Was soll man heute unbedingt lesen?

Eine gesunde Dosis Tagesnews, um auf dem Laufenden zu sein – abgerundet durch gescheite Vertiefungen und Einordnungen. Und wichtig scheint mir auch: Literatur, die über den Tag hinaus weist.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Weglegen gelingt mir nur selten, da ich die Pointe nicht verpassen möchte. Langatmige Passagen überblättere ich aber immer flinker.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Im Gespräch mit Menschen, denen ich auf Reportage-Reisen begegne; beim Zappen durch verschiedene TV-Sender, beim Durchblättern von Zeitungen oder beim Scrollen auf den Newsportalen oder den digitalen Netzwerken.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Hoffentlich noch ganz lange. Ich liebe es, unterwegs im Zug Zeitung zu lesen. Auch am Wochenende kann ich mich stundenlang mit Zeitungslektüre aufhalten.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Eine grosse Gefahr. Fake-News untergraben das wichtigste Gut der Medien: die Glaubwürdigkeit. Und die wachsende Skepsis in gewissen Kreisen der Bevölkerung stellt sorgfältig recherchierte Fakten und rationale Argumente immer öfter in Frage. Medienschaffenden wird nicht mehr vertraut – sondern primär misstraut. Fakten und Werte scheinen verhandelbar. Das macht mir Sorgen.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen? 

An normalen Tagen nutze ich Radio und Fernsehen meist zeitversetzt. Nur noch spezielle Ereignisse – zum Beispiel die Bekanntgabe von Wahlergebnissen oder grosse Sportanlässe -, schaue ich dann, wenn’s passiert.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Podcasts nutze ich nur unregelmässig. Und wenn, gefällt es mir, in fremde Welten oder Themen einzutauchen: «Affaires sensibles» auf Radio France ist mein Geheimtipp. 

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Das muss uns anspornen, Formate zu entwickeln, die die jungen Menschen ansprechen. Als Mitarbeiter des öffentlich-rechtlichen Mediums SRF haben wir den Auftrag, News und Hintergründe für Menschen unterschiedlichen Alters und sozio-ökonomischer Situationen zugänglich zu machen. 

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Für Sportranglisten oder Wahlresultate bestimmt. Und fürs Wiedergeben von Communiqués wohl auch. Für Interpretationen oder Bewertungen von Ereignissen kommen Roboter kaum in Frage.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Die Digitalisierung fordert uns Medienschaffenden heraus: Wir müssen uns täglich fragen, was kann ich mehr bieten – als die vielen Menschen, die auf digitalen Netzwerken unablässig Fotos und Kurztexte über bestimmte Ereignisse publizieren? Welchen Mehrwert kann ich als Journalist bieten? Und wie erreiche ich damit mein Publikum?

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Ja, für lokale und regionale Berichterstattung. Es ist wichtig, dass weiter in guter Qualität und ausgewogen über lokale Politik berichtet werden kann. Auf Gemeindeebene fallen zentrale Entscheide für unser Zusammenleben und das Funktionieren unserer Gesellschaft. Dazu braucht es ein Forum, in dem die Argumente ausgebreitet und gegeneinander abgewogen werden können. Ausschliesslich werbebasierte lokale Medien können diese Aufgabe nicht mehr in der nötigen Tiefe wahrnehmen.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Notizen beim Recherchieren und Postkarten. Ja.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Beides. Er hat viele Schlagzeilen geliefert und damit die politische Debatte am Laufen gehalten. Das brachte grosse Klickzahlen und stolze Werbe-Umsätze. Doch Trump hat den Medien mehr geschadet als genützt – mit seiner Pauschal-Kritik an Medienschaffenden: Mit seinen Fake-News- und Alle-Journalisten-sind-Lügner-Vorwürfen hat er grosses Misstrauen gegenüber den Medien gesät, weit über die USA hinaus.  

Wem glaubst Du?

Personen, die nachvollziehbar, rational und faktenbasiert argumentieren. 

Dein letztes Wort?

Ich liebe meine Arbeit als Journalist. In unbekannte Themen und Welten eintauchen, mir ein Bild machen, Bilder in Worte fassen zu dürfen – für ein interessiertes Publikum: Was gibt es Schöneres?

Michael Gerber
Michael Gerber ist seit April 2022 SRF-Korrespondent im Vereinigten Königreich und Irland. Zuvor arbeitete er als Redaktor und Koordinator der Auslandredaktion von SRF Video, deren stellvertretender Leiter er zwischen Herbst 2020 und Frühling 2022 war. Michael Gerber hat einen Masterabschluss in Geschichte, Politikwissenschaften und Kommunikation der Universitäten Bern und Fribourg. Er stammt aus dem Emmental und begann seine journalistische Laufbahn als Lokalreporter bei der Berner Zeitung BZ.
https://www.srf.ch/news 

Basel, 10. August 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
Bild: SRF/Oscar Alessio 

Seit Ende 2018 sind über 180 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/ 

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3 Kommentare zu "Michael Gerber: «Fakten und Werte scheinen verhandelbar. Das macht mir Sorgen.»"

  1. Sehr gute Antworten, sehr gute Fragen. Doch fällt es auf, das vorwiegend Mitarbeiter des Medien-Supermarkt-Mega-Store „SRG“ befragt werden. Klar, es ist der grösste Medienarbeitgeber hier – doch werden wahrlich da alle 6860 „SRG“ (nochmals: 6860!) – Angestellten runtergenudelt?
    Es gibt so viele Winkel, Gässchen, Lauben im Medienzirkus. Anstelle des Grossen mal einen (im Vergleich) „Tante-Emma-Laden“ belauschen? Und der liegt ja bekanntlich oft im Viertel. Siehe das Gute liegt so nah‘ da – z.B. der „IL-Verlag“ im Basler Bruderholzquartier, welcher interessante Bücher und Schriften rausgibt.
    Verleger sind Bücher sind Schriften sind Autoren sind Menschen sind Medienmenschen.
    Götzenverehrung von Säulenheiligen („SRG“) war gestern, im Heute gibt es mehr. Mehr Kleines, mehr Unbekanntes, mehr Stöbern, mehr Schattierungen, mehr Rosa, mehr Grau; hoffentlich mehr Vielerlei anstelle Einerlei.

    1. Hallo Herr Zweidler, lassen Sie sich bitte von Ihrer SRF-Allergie nicht zu sehr blenden. Von 190 Fragebogeninterviews waren 45 mit Journalist:innen von SRF. Das sind 23%. Ich habe über den Sommer, also in den letzten sechs Wochen, Auslandkorrespondent:innen befragt. Vier von sechs dieser Korrespondenten arbeiten bei SRF, eine bei der «NZZ», einer bei CH-Media. Und wissen Sie, warum der SRF-Anteil bei den Auslandkorrespondenten so hoch? Weil nur noch SRF (und teilweise die «NZZ») ein grosses Korrespondentennetz hat. By the way: Es hängt nicht nur von mir ab, ob ein Journalist zu Wort kommt. Manche Angefragte wollen schlicht nicht mitmachen.

  2. Danke für Ihre Antwort. Konnte mir nicht vorstellen, das manche nicht mitmachen wollen.
    Und sie sind kein „SRG-Götzenverehrer“ und ich kein „SRF-Allergiker“. Selbstverständlich.
    Ihre wertvolle Arbeit, Ihre hochwertige Webseite sind wöchentliche Bereicherungen für Ihre geschätzten Nutzenden, für uns alle. Danke.

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