Matthias Meili: «Die Dossierkompetenz in den Redaktionen hat unter dem Kostendruck schwer gelitten»

Publiziert am 2. November 2022 von Matthias Zehnder

Das 201. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Matthias Meili, freier Wissenschaftsjournalist und Autor. Er sagt, Storytelling und Stil mögen sich verbessert haben, aber «die Breite und Vielfalt des Angebotes hat sich merklich ausgedünnt» und «der Abbau des weltweiten Korrespondentennetzes ist in der Schweiz schmerzlich spürbar». Meili kritisiert, dass die neuen Online-Plattformen manchmal «vor allem das unbeschränkte Platzangebot im Netz etwas zu sehr auskosten». Er hofft deshalb, dass «die Tageszeitung noch lange überleben wird». Zum einen könne man in einer gedruckten Zeitung besser über die eigenen Ränder hinaus lesen. Zudem sei in einer gedruckten Zeitung «der Platz begrenzt», was «tendenziell vor dem nervigen Aufpumpen zu überlangen Artikeln» schütze.

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

«Tages-Anzeiger», «NZZ», «SonntagsZeitung» und «NZZ am Sonntag» gehören für mich zum Frühstück wie der Kaffee nach dem Aufstehen – ich kann nicht ohne sein. Am liebsten mag ich die Print-Ausgaben, weil für mich die gedruckte Tageszeitung immer noch die unübertroffen beste, anregendste und angenehmste Form für das morgendliche Ritual ist.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Social Media nutze ich mehrheitlich passiv, manchmal aus geschäftlichen Gründen auch gezielt aktiv, zum Beispiel wenn ich auf LinkedIn einzelne Artikel teile.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Nur positiv. Zeitraubende Sitzungen können seither bequem per Zoom abgewickelt werden. Zudem hat die Pandemie viele spannende Themen generiert, die gerade im Wissenschaftsjournalismus sehr fruchtbar waren.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Storytelling und Stil mögen sich verbessert haben, aber die Breite und Vielfalt des Angebotes hat sich merklich ausgedünnt. Die Dossierkompetenz in den Redaktionen und damit die Kapazität zur Einordnung haben unter dem Kostendruck schwer gelitten, der Abbau des weltweiten Korrespondentennetzes ist in der Schweiz schmerzlich spürbar. Die neuen Online-Plattformen können diese Lücken leider noch nicht ausfüllen und mir scheint manchmal, dass sie vor allem das unbeschränkte Platzangebot im Netz etwas zu sehr auskosten.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Die Mediennutzung der nachwachsenden Generationen tendiert zu Videos und kurzen Häppchen. Darauf müssen die Medienunternehmen eine Antwort finden. Trotzdem wird das geschriebene Wort nicht so schnell aussterben, weil es bezüglich Informationsvermittlung unglaublich effizient ist. Aus einem Artikel kann man blitzschnell die wichtigste Info herausfiltern, während man für den gleichen Informationswert stundenlang Video schauen oder Podcast-Geplapper abhören muss. Zudem spricht die Sprache im menschlichen Gehirn Bereiche an, die sonst von keiner anderen Medienform so angesprochen werden. Geschriebene und gelesene Sprache wirken vielleicht nicht so direkt oder gar emotional wie Bild und Ton, vor allem Musik, aber sie gehen über den Verstand – und der will ja auch genutzt werden.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Neben den Tageszeitungen lese ich gerne den «Economist» und «Le Monde Diplomatique» (die deutsche Ausgabe). Der Economist bietet in seinen Ressorts die wesentlichen Informationen zu einem aktuellen Ereignis in einer prägnanten Sprache auf sehr kleinem Platz und schafft es dennoch, diese Ereignisse in ihren weiteren und auch historischen Zusammenhang zu setzen. «Le Monde Diplomatique» seinerseits bietet oft Hintergründe über die Akteure und Begebenheiten aus der ganzen Welt, die man in der Schweiz kaum sonstwo lesen kann.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Damit habe ich grundsätzlich keine Probleme. Meistens merkt man auf den ersten Seiten, ob sich ein Buch zu lesen lohnt. Bücher aber, in denen Geschichte und Schreibstil stimmen wie etwa im biografischen Roman «Das Land der Anderen» von Leïla Slimani, kann ich kaum mehr weglegen.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Gerade beim Durchblättern einer Zeitung ist die Chance, etwas aus einem Ressort zu lesen, das nicht dem ureigenen Interesse entspricht, viel grösser als in Online-Medien, weil ein Zeitungsartikel auf den ersten Blick viel mehr Einstiegspunkte bietet (Titel, Lead, Zwischentitel, Bildlegende, Quotes, etc., etc…) als ein Online-Medium, in dem auf den ersten Blick eigentlich nur der Titel gesehen wird. Deshalb ist die Online-Nutzung viel mehr Interessen-dominiert, dies vor allem auch inden Sozialen Medien, in denen diese Tendenz durch die Nutzungs-Algorithmen noch verstärkt wird. Dies ist eine etwas beängstigende Entwicklung, die auch die Fundamente der Demokratie betrifft.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Wenn ich beobachte, wie wenige Menschen in unserer Nachbarschaft morgens noch die Zeitung aus dem Briefkasten holen, bin ich skeptisch. Trotzdem hoffe ich, dass die Tageszeitung noch lange überleben wird, Begründung siehe oben. Aber auch, weil darin kürzere und längere Formen die vielfältigsten Möglichkeiten für das Storytelling bieten und vor allem auch weil der Platz begrenzt ist, was tendenziell vor dem nervigen Aufpumpen zu überlangen Artikeln schützt. In der Kürze liegt die Würze!

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Jede Wahrheit hat viele Seiten und deshalb hat jeder Bericht auch einen Anteil «Fake News». In der laufenden Diskussion ist es eher ein politischer Kampfbegriff. Doch prinzipiell sind «Fake News» einfach auch ein Rohstoff und deshalb eine Chance im Medienbusiness, die wir sie unter Anwendung der klassischen journalistischen Kriterien – mehrere unabhängige Quellen, Trennung von Meinung und Bericht etc… – richtig einordnen können.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Linear nutze ich Fernsehen nur noch für Live-Fussball auf Sky, ab und zu einen «Columbo» bei einem Privatsender und leider viel zu selten eine Doku bei Arte.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Ich höre oft zeitversetzt die SRF-Sendung «Zeitblende». Leider geht die Tendenz vieler Produktionen in einer mir unerklärlichen Anbiederung an irgendeine mir unbekannte Zielgruppe in Richtung Geplauder und Pseudowitzigkeit mit homöopathisch dosiertem Informationsgehalt – ein Gräuel, für den mir sogar die Zeit beim Kochen zu schade ist.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Ich bezweifle, dass sich die nachkommende Generation die für sie wichtigen Informationen nicht irgendwoher zu holen weiss. Der Mensch ist von Geburt aus neugierig und viele junge hervorragende Journalistinnen und Journalisten drängen in den Medienmarkt und werden den Informationsbedarf bedienen. Auch Videos können gut gemacht sein.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Wenn Computer dank KI im Spital oder im Krieg schon bald korrektere und ethischere Entscheidungen als ein individueller Mensch treffen können (die Forschung dafür ist weit fortgeschritten), werden sie möglicherweise auch bald gute Texte schreiben. Aber eigentlich sind die Autor/innen eines journalistischen Textes gar nicht so entscheidend, so sehr dies auch an unserem Selbstverständnis nagen mag. Viel zentraler ist, dass die Texte glaubwürdig sind, dass die Quellen transparent und die Herkunft ersichtlich sind, damit der Journalismus seine ursprüngliche Funktion der vierten Macht im Staat erfüllen kann.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Alles, was über die Folgen der Digitalisierung herumschwirrt, wird krass überschätzt. Die Digitalisierung ist für viele Dinge ein verdienstvolles Werkzeug, befreit uns aber nicht davor, die Inhalte nach den anerkannten journalistischen Kriterien zu schaffen.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Sinnvoll wäre eine breite Förderung derjenigen Medien, die sich gezielt an die junge Generation richten. Und die Unterstützung eines ausgedehnten Korrespondentennetzes in den Zeitungen, die ich lese.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

«Im Feld» mache ich zuweilen handschriftliche Notizen, obwohl ich sie später oft selbst nicht mehr lesen kann – und natürlich schreibe ich Postkarten aus den Ferien von Hand: Das ist eine Tradition, an der ich trotzig festhalte.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Joker.

Wem glaubst Du?

Es macht das Leben nicht einfacher, aber ich bin ein ewiger Zweifler – egal ob etwas von links oder rechts oder aus der Mitte kommt.

Dein letztes Wort?

Journalismus ist Leidenschaft, einer leidet immer daran – entweder der Journalist/die Journalistin, oder dann der Leser/die Leserin.


Matthias Meili
Geboren 1966 in Frauenfeld, Studium der Biochemie an der ETH Zürich. Nach einem Volontariat bei Teletext in Biel und zwei Jahren beim Büro Cortesi arbeitete Matthias Meili von 1998 bis 2001 als Wissen-Redaktor bei der «Weltwoche». Ab 2001 im Gründungsteam der «NZZ am Sonntag» als stellvertretender Leiter des Wissen-Ressort. Nach dreijähriger selbstständiger Tätigkeit von 2009 – 2018 Teamleiter Wissen beim «Tagesanzeiger» und später auch «SonntagsZeitung», seither wieder als freischaffender Autor im Bereich Journalismus und Kommunikation tätig.
https://matthiasmeili.ch/


Basel, 2. November 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Seit Ende 2018 sind über 200 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/

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