Martina Süess: «Die Idee vom Faktencheck ist naiv»

Publiziert am 3. Februar 2021 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute: Martina Süess, Literaturwissenschaftlerin, Schauspielerin und Storytelling-Coach. Sie sagt, die goldenen Zeiten von früher gebe es nicht. Die meisten Medien seien, gemessen an heutigen Massstäben, früher schlecht gewesen: «Joviale Welterklärung. Nur hat man das nicht gemerkt.» Martina Süess ärgert sich über die naive Vorstellung vom Faktencheck. Man könne «die Welt nicht einfach beschreiben ‹wie sie ist›». Wir können die Welt nicht einmal wahrnehmen «wie sie ist», geschweige denn abbilden. «Dabei wäre es für die Zukunft des Journalismus – ach was, für die Zukunft der Demokratie! – wichtig, dass möglichst viele Leute möglichst differenziert über diese Unverfügbarkeit der Wirklichkeit nachdächten.» Davon abgesehen hört sie gern lineares Radio: «Es ist wie eine Wundertüte.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Frühstück findet bei mir ohne Medien statt. Ausser wenn ich alleine bin, dann höre ich Radio.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

So rein theoretisch und aus medienhistorischer Sicht finde ich Social Media total faszinierend. Aber eben nur theoretisch. Im echten Leben nutze ich es wenig, privat überhaupt nicht.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Ich lese jetzt weniger Tageszeitungen, weil ich das am liebsten im Café mache. Das ist noch eine Gewohnheit aus Wien, wo ich länger gelebt habe. Die Kaffeehäuser sind ja dort eine Art Zeitungslesesäle. Jetzt geht das natürlich gerade nicht, weil alles zu ist…

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

«Früher» ist so ein freundliches Wort, da denkt man gleich ans goldene Zeitalter. Aber was heisst denn früher? Im Kalten Krieg? Während der geistigen Landesverteidigung? Oder in den 30-er Jahren? Das meiste war früher recht schlecht, gemessen an heutigen Massstäben. Joviale Welterklärung. Nur hat man das nicht gemerkt, weil die meisten Stimmen keine Öffentlichkeit hatten.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Ja. Das Zeitalter der Schrift hat mit dem Computer doch erst so richtig begonnen!

Was soll man heute unbedingt lesen?

Gute Literatur. Wenn man wirklich etwas über die Menschen und die Welt erfahren möchte, ist Literatur die beste Quelle. Zum Beispiel: Mary Shelley, Tolstoi, Streeruwitz.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ich lege schlechte Bücher sofort weg. Manchmal mache ich den Seite 99 Test: Ich öffne das Buch auf Seite 99 und prüfe, ob es da besser wird. Aber leider ist das selten der Fall. Wenn jemand nicht gut schreibt oder nicht wirklich etwas zu erzählen hat, merkt man das auf jeder Seite.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Im Kulturradio, zum Beispiel in Sendungen über Tiere. Zu Tieren habe ich überhaupt keinen Draht. Aber wenn ich eine Sendung über die Echo-Ortung der Fledermäuse höre, kann es passieren, dass ich mir dazu Bücher aus der Bibliothek ausleihe.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Keine Ahnung.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Sie sind eine riesige Gefahr. Weil sie eine andere, wichtige Diskussion fast unmöglich machen: Die Diskussion darum, in welcher Beziehung der (redliche) journalistische Text zur «Wirklichkeit» steht. Man kann die Welt ja nicht einfach beschreiben «wie sie ist». Wir können die Welt nicht einmal wahrnehmen «wie sie ist». Unsere Beziehung zur Realität ist von Grund auf von Übersetzungsprozessen bestimmt. Deshalb ist auch die Idee vom «Faktencheck» naiv.

Die Angst vor Fake News erstickt diese Diskussion. Stattdessen möchte man um so mehr an einen Journalismus glauben, der die Wahrheit abbildet. Dabei wäre es für die Zukunft des Journalismus – ach was, für die Zukunft der Demokratie! – wichtig, dass möglichst viele Leute möglichst differenziert über diese Unverfügbarkeit der Wirklichkeit nachdächten.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Ich höre gern lineares Radio. Es ist wie eine Wundertüte.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Sehr gern, aber nicht besonders häufig. Spannend finde ich zum Beispiel «Die Neue Norm», ein Podcast von Bayern 2, in dem drei versierte Journalist*innen über Gesellschaft und Behinderung sprechen. Das ist witzig, erhellend und sehr schlau.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Ich hatte als Teenager auch andere Prioritäten und war nicht besonders medienaffin. Ich weiss deshalb gar nicht so recht, was ich von dieser Zahl halten soll. Ist das viel? Oder wenig?

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Die Zahlen sind vielleicht etwas hochgegriffen, aber ich kann mir schon vorstellen, dass vieles, was als News erscheint, automatisiert werden kann. Es muss furchtbar langweilig sein, immer nach demselben Muster ähnliche Nachrichten zu verfassen. Wenn es gute Roboter gibt, die das erledigen können, warum nicht? Die wichtige Frage ist: Was machen wir aus den 25%-33,3% die uns bleiben?

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Die Digitalisierung führt nirgendwohin, ausser zu noch mehr Digitalität. Sie gibt uns kein Ziel vor. Wir werden damit rumwursteln, bis wieder was Neues kommt. Schauen wir, dass wir nicht zu viel Schaden anrichten!

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Ja. Der Beruf ist so begehrt, da werden wir bestimmt neue Modelle entwickeln. Aber wie? Für wen? Da bin ich selber nicht besonders visionär.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Oft. Einkaufszettel, Notizen, Skizzen. Bei grösseren Projekten arbeite ich mit Zettelsystemen, da ist alles von Hand gekritzelt. Auch Gruss- und Kondolenzkarten schreibe ich von Hand.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Trump war für gar nichts gut. Es hat nicht immer alles zwei Seiten, auch wenn uns das in Kinderbüchern oft so eingetrichtert wird.

Wem glaubst Du?

Am ehesten glaube ich Leuten, die ich als sehr selbstkritisch einschätze.

Dein letztes Wort?

Ich bin gespannt, wer hier als nächstes Rede und Antwort stehen wird!


Martina Süess
Martina Süess ist Literaturwissenschaftlerin, Schauspielerin und Storytelling-Coach. Zum Journalismus kam sie durch die «WOZ», wo sie seit fünfzehn Jahren über Literatur und Theater schreibt. Sie war Literaturredaktorin bei Radio SRF, wissenschaftliche Assistentin an der Universität Wien und forschte an der Humboldt Universität Berlin, der Harvard University und der Universität Konstanz. Sie lebt in Zürich.
martina-sueess.ch


Basel, 3. Februar 2021, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

PS: Nicht vergessen – Wochenkommentar abonnieren. Kostet nichts, bringt jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen Kommentar, den aktuellen «Medienmenschen» einen Sachbuchtipp und einen Video-Buchtipp auf einen Roman:
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5 Kommentare zu "Martina Süess: «Die Idee vom Faktencheck ist naiv»"

  1. Sie höre oft lienares Radio – und – auf die differenzierte Frage, ob Trump für das Medienwesen gut oder schlecht war – die undifferenzierte Antwort: „Trump ist für alles schlecht“.
    Zwischen diesen zwei Aussagen besteht ein Zusammenhang: Denn wer in der CH-Radiolandschaft lineares Radio hört, k a n n sich gar nicht mehr differenziert über den 45. US-Präsidenten äussern.
    Denn: Für mich das grösste und erschreckendste Phänomen in der Amtszeit Trump, die totale, durch nichts zu erschütternde Einseitigkeit der Medien. Da wurde ein Bild hergestellt, das gar nicht möglich ist. Denn kein Mensch kann nur aus negativen Eigenschaften bestehen. Das ist unmöglich; der Mensch ist zu dieser Eindeutigkeit nicht fähig, weder im Guten noch im Bösen. Deshalb konnte diese Berichterstattung gar nicht stimmen.
    Das (ebenso falsche Gegenteil) bei Biden:
    Francesco Benini von „CH-Media“ bezeichnet die Übertragung des Nachrichtensenders als «Schleimspur so breit wie der Potomac». Die Berichterstattung zur Amtseinführung von Joe Biden auf CNN fand nicht ungeteilte Begeisterung. So empfand „CH-Media“-Journalist Francesco Benini, (…) die Übertragung des meistgesehensten und bekanntesten Nachrichtensenders der Welt, als «Schleimspur so breit wie der Potomac». Benini bemängelt in den Zeitungen von „CH Media“, dass CNN aus den ganzen Inaugurations-Feierlichkeiten einen «langen Werbespot für die Demokratische Partei» gemacht habe. (…)
    CNN stelle den neuen US-Präsidenten als «Heiligen dar, der ins Weisse Haus einzieht, nachdem der Teufel nach Florida entschwunden ist.» Die Lobhudelei, so Benini, habe keine Grenzen gekannt. Das sei kein Journalismus mehr, sondern die schamlose Parteinahme für einen Poltiker. Beninis Text gipfelte in der Aussage: «CNN berichtete wie Fox. Nur von der anderen Seite.» (…)
    Bedauernswerte Medienkonsumenten: Einseitigkeit SO oder SO – Was ist bloss mit den Medien los…..
    Doch in diesen trübseligen Tagen – es gibt auch noch Lichtblicke. Der bekennende Linke – Publizist Frank A. Meyer – Berater und Meinungsmacher für alle Ringer-Blättli, machte bei Trump-Bashing und Biden-Lobhudelei eine Ausnahme, machte einfach nicht mit! Er stellte seinen kritischen Geist über die Ideologie und beobachtete in seinem letzten „Frank und Frei“-Talk KRITISCH die Biden-Feier und der beginn der Biden-Aera. Hörenswerte Worte aus einem Mund, dem man so was gar nicht zutraute….
    Also: Hoffnungsvollere Tage werden wohl wieder folgen. Mutmacher. Gut so:
    Link zu den hörenswerten 6 Minuten:
    https://www.blick.ch/meinung/frank-a-meyer/frank-a-meyer-ueber-bidens-amtseinfuehrung-eine-show-der-elite-id16316743.html

  2. Ich fordere, dass wieder präziser unterschieden wird, was Fakten und was Meinungen sind. Wenn jemand den Klimawandel als bedrohliche Tatsache darstellt, muss das so akzeptiert werden; es gibt, wie wissenschaftlich geschulte Menschen wissen, genügend Messresultate und Analysen dazu. Ich bin auch dafür, dass soziale Medien die Pflicht erhalten, „Informationen“ mit dem Vermerk ‚mit den aktuellen wissenschafltichen Erkenntnissen nicht übereinstimmend‘ zu versehen, wenn sie diesen wissenschaftlichen Fakten nicht genügen. Es ist nicht alles relativ. Z.B.: CO2 ist ein Treibhausgas, deshalb sind Benzin- und Dieselfahrzeuge künftig unerwünscht. Man kann dazu keine andere vernünftige „Meinung“ verteten. Man kann auch nicht sagen, es stehe in der Verantwortung des Einzelnen, was für ein Fahrzeug er wählt, denn wie man sieht, vollziehen nur rund 10% der Fahrzeugkäufer die persönliche Klimawende, die Schäden tragen aber wir ALLE, wenn dürren und Überschwemmungen kommen.
    Die Journalisten sollen ruhig etwas mehr mit Nachdruck auf gesellschaftliches Fehlverhalten hinweisen, das für VIELE oder ALLE einen Schaden bringt. – Zu den US-Präsidenten: Trump hat so extrem egoistisch und mit Lügen gehandelt, Biden erklärt so stark seine Ziele zugunsten der ganzen Gesellschaft und der Umwelt, dass dieser Kontrast zwangsläufig sehr schwarz-weiss erscheint. Deswegen muss die Wahrnehmung, dass Biden (höchstwahrscheinlich) der viel bessere Präsident sei, nicht falsch sein.

  3. Ob früher alles besser war, und später alles schlechter sein wird? Mich interessieren die Medien von heute. Und da muss ich in der Regel lange suchen, bis ich brauchbar Gutes finde. – Es findet ein Wandel statt. Auch in der Wahrnehmung der Welt. Wahr ist, was geglaubt wird. Vieles, was geglaubt wird, stimmt nicht. Es ist eine Illusion. Manipulation ist die Kunst, andere glauben zu machen, was sie glauben sollen. Damit sie nicht wissen wollen, was sie wissen können. Warum und wozu auch immer. Schwierig wird es für Menschen, denen nicht einmal bewusst ist, dass sie nicht wissen, was sie verstehen müssen, um das Richtige zu tun. Orientierungshilfen dafür bietet mir beispielsweise das Interview mit Catherine Austin Fitts (Link:
    http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27249).

  4. Faktenschecks, Umfragen und Studienaufträge gehören nicht in die Hände von Medienhäusern, denn mit Chef-Journalisten oder Vorgaben an mediennah beauftragten Umfrageunternehmen und bzw. Experten werden nur das Informationsmonopol und entsprechende Manipulationen (u.a. Halbwahrheiten) ad absurdum geführt. Nur ein unabhängiges und ausgewogenes Gremium bringt die Glaubwürdigkeit zurück.

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