Martin R. Dean: «Es wird gedruckte Tageszeitungen noch so lange geben, wie wir uns diesen Luxus leisten wollen.»

Publiziert am 12. August 2020 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – im Sommer mit Schweizer SchriftstellerInnen. Heute: Martin R. Dean. Über die Entwicklung der Schweizer Zeitungen sagt er: «Früher glaubte man noch zu wissen, was woher kommt und wohin es gehört.» Die «NZZ» sei die alte Tante gewesen, «der FDP und doch einer Art höherer Objektivität verpflichtet», der «Blick» skandalumwittert. «Heute tritt bei allen Medien der industrielle und kommerzielle Aspekt deutlicher hervor.» Zu lesen empfiehlt er, «was einem den Kopf öffnet, was einen fürs Aushalten des Lebens ertüchtigt und empathischer für das Andere, auch andere Menschen macht.» Martin R. Dean hat sich, etwa im Essayband «Verbeugung vor Spiegeln», immer wieder gegen Rassismus eingesetzt. Er fordert: «Ein Buch sollte nicht nur ein Schulterklopfer, sondern auch ein Fensteröffner sein.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Da ich schon länger mit dem Frühstücken aufgehört habe, gehört allein die Zeitung zu meinem unverzichtbaren «Nahrungsmitteln». Ich habe die «bzBasel» auf dem Tisch, die «NZZ», schaue immer bei «Bajour» rein und am Donnerstag kommt die «WoZ» hinzu. Zuweilen «Der Spiegel» online.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Mit gezielter Zurückhaltung. Menschen süchtig zu machen, auch süchtig nach mir, liegt mir eigentlich nicht. Und das Mitteilungsbedürfnis ist in meinen Büchern und Essays besser aufgehoben.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Es hat mir mehr Zeit gegeben, Bücher zu lesen. Und es hat die Natur realer gemacht; ich sah sie wie mit frisch gewaschenen Augen. Auch wurden mir die Medien eine Zeitlang wieder zu dem, was sie immer waren: etwas Sekundäres, wenn auch Wichtiges.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Früher glaubte man noch zu wissen, was woher kommt und wohin es gehört. Die «NZZ» war die alte Tante, der FDP und doch einer Art höherer Objektivität verpflichtet, der «Blick» war skandalumwittert. Früher gab es eine «Basler Zeitung» mit einem respektablen Feuilleton von hoher Qualität; und es gab eine lesenswerte «Weltwoche».

Heute tritt bei allen Medien der industrielle und kommerzielle Aspekt, auch des Nachrichtenbusiness, deutlicher hervor. Aber es gibt, neben den grossen «Gammelfleischverwertern» unter den Medien, auch die kleinen wie «Bajour», die ab und zu Delikatessen anbieten. Das macht Freude.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Davon bin ich überzeugt. Es sei denn, der Mensch will seine besten Errungenschaften preisgeben.

Was muss man unbedingt gelesen haben?

Was einem den Kopf öffnet, was einen fürs Aushalten des Lebens ertüchtigt und empathischer für das Andere, auch andere Menschen macht. Ein Buch sollte nicht nur ein Schulterklopfer, sondern auch ein Fensteröffner sein.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Lesezeit ist Lebenszeit. Sie zu verschwenden erlaubt man sich ab einem gewissen Alter nicht mehr.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Im Gespräch, auf Facebook, in der Zeitung. Aber immer nur im Mix verschiedener Medien.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Wie lange gibt es noch gute Bücher? Wie lange gibt es noch Spitzenweine? Wie lange gibt es noch Spitzenköche? Wie lange noch grossartige Kunst und Musik? Wie lange werden noch grossartige Brücken gebaut? Wie lange wird es noch Hochhäuser geben?

Es wird gedruckte Tageszeitungen noch so lange geben, wie wir uns diesen Luxus leisten wollen. Am liebsten würde ich sagen: immer. Aber das ist wohl allzu optimistisch.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Fake News sind eine eminente Gefahr, weil sie den Verlust des Wahrheitsmonopols einer Gesellschaft voraussetzen. Eine Gesellschaft, die nicht mehr an die eine Wahrheit glaubt (auch wenn es die letztlich nicht gibt), wird auch die Idee der Gerechtigkeit (die nie vollkommen sein kann) preisgeben. Das Resultat ist Willkür an allen Ecken und Enden.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Ich bin ein Fernsehkind. Früher knüpften die Menschen persönliche Gefühle an die Nachrichtensprecher*innen. Meine Grossmutter hat von Paul Spahn geschwärmt. Heute wird zu viel Infotainment betrieben, sodass beides verliert: die Information und das Entertainment. Wenn eine Sendung Qualitätsstandards vertritt, wie beispielsweise die «Tagesschau» mit den klugen und witzigen Verknüpfungen eines Florian Inhauser, macht sie das, was guter Journalismus kann: ein Stück unserer komplexen Wirklichkeit sichtbar. Ich verstehe dann die Zusammenhänge besser, auch wenn ich die hervorragenden Informations- und Sachsendungen im Radio höre.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Ich bin ein Leser, kein aufmerksamer Zuhörer.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Möglicherweise haben wir bald ein Bildungsproblem, vor allem auf der männlichen Seite. Wie sich in den Schulen zeigt, gehören junge Männer zu den Bildungsverlierern. Das sollten die Schulen stärker reflektieren. Der Pessimist in mir sagt: eine grosse Katastrophe wird das Bedürfnis nach Nachrichten bei allen wecken. Dass Menschen gern mit Verschwörungstheorien leben, macht mir Sorgen.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Wenn Pietro Supino Ian Mc Ewans Roman «Maschinen wie ich» gelesen hätte, wüsste er, dass Liebesgeschichten zwischen Menschen und Robotern nie glücklich ausgehen.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Weder noch. Sie werden sich, im besten Fall, gegenseitig ergänzen.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Je korrupter gewählte Präsidenten wie Trump, Bolsonaro oder Orban sich aufführen, desto deutlicher tritt die kritische Rolle des Journalismus wieder in ihr Recht. Eine demokratische Gesellschaft braucht den Spiegel professioneller Journalist*innen ebenso wie der von Autor*innen. Ich kann mir einfach keine Welt ohne Zeitungen, Berichte und Journalist*innen vorstellen.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ich schrieb acht meiner zwölf Bücher von Hand, wegen der Musikalität. Inzwischen fülle ich nur noch meine Notizbücher und Memozettel mit Handschriftlichem. (Und die Einkaufszettel!)

Ist Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Wahrscheinlich im Endeffekt eher gut: gerade an Trump lässt sich zeigen, wie Demokratien in Verruf gebracht werden.

Wem glaubst Du?

Menschen, die ich liebe, mag oder respektiere. Vielleicht hat Glauben ja immer mit jenem Urvertrauen zu tun, das man nicht überprüfen muss.

Dein letztes Wort?

Das letzte Wort? Eigentlich bin ich gegen «letzte Worte» in apodiktischem Sinn, weil ich den Widerspruch liebe und das Denken in Gang halten möchte.

Das letzte Wort in zeitlichem Sinn: Ich hoffe, ich werde es dereinst finden, in einem Roman, einem Essay. Während ich Romananfänge wie im Schlaf finde, knorze ich immer am Schluss herum. Anfangen ist wohl leichter als aufhören.


Martin R. Dean
Martin R. Dean ist 1955 in Menziken (AG) geboren. Er hat in Basel Germanistik, Philosophie und Ethnologie studiert. Martin R. Dean hat acht Romane und vier erzählerische oder essayistische Bücher publiziert. Schreibt gelegentlich für die Aargauer Zeitung, die Neue Zürcher Zeitung, die Wochenzeitung und das MAGAZIN. Arbeitete als Gymnasiallehrer mit Teilzeitpensum. Engagiert sich seit Jahren gegen Rassismus (unter anderem im Essayband «Verbeugung vor Spiegeln», 2015)
Martin R. Dean lebt in Basel.
www.mrdean.ch

Warum wir zusammen sind

«Liebe ist kein Angestelltenverhältnis, sondern Schicksal.» Das schreibt Martin R. Dean in seinem jüngsten Roman. Die Geschichte dreht sich um Irma und Marc, die ihren zwanzigsten Hochzeitstag feiern, als sie erfahren, dass ihr gemeinsamer Sohn mit Irmas bester Freundin ein Verhältnis hat. Das bringt ihre Beziehung aus dem Gleichgewicht. Als Marc beruflich in Schieflage gerät und Irma sich weigert, ihm finanziell zu helfen, kommt es zum Bruch. Marc flüchtet. Auch ihre Freunde haben Mühe mit ihren Paarbeziehungen. Alle sind sie Akademiker, alle im mittleren Alter – und alle nicht erfüllt. Was hält sie zusammen? Liebe, Gewohnheit, Konkurrenz, Feindschaft? Martin R. Dean entfaltet das ganze Spektrum von Möglichkeiten, mit dieser Situation umzugehen: von der Trennung bis zum Neuanfang. SRF Zwei Kultur sagt über den Roman: «Deans Werk überzeugt, weil er sich auf ganz unterschiedliche Weise lesen lässt: als philosophischer Roman, als Gesellschaftsanalyse und – nicht zuletzt – als Liebes- und Generationenroman.»

Martin R. Dean: Warum wir zusammen sind. Roman. Jung und Jung, 360 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-9902722-8-2

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783990272282


Basel, 12. August 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

PS: Nicht vergessen – Wochenkommentar abonnieren. Kostet nichts, bringt jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen Kommentar, den aktuellen «Medienmenschen» einen Sachbuchtipp und einen Video-Buchtipp auf einen Roman. Einfach hier klicken. Videos dazu gibt es auf meinem Youtube-Kanal.

 

4 Kommentare zu "Martin R. Dean: «Es wird gedruckte Tageszeitungen noch so lange geben, wie wir uns diesen Luxus leisten wollen.»"

  1. Bei «Bajour» schaue ich täglich nach dem Frühstück rein: versucht aus Gammelfleisch Delikatessen zu machen. Und wie lange es noch Zeitungen gibt: „Der externe Standpunkt“ des offensichtlich hervorragend qualifizierten und hoch kotierten Medien-Profis und «20 Minuten»-Chefs Gaudenz Looser meint in der NZZamSonntag vom 9. August zur Medienkrise: „Journalisten sollten sich «20 Minuten» zum Vorbild nehmen und sich mehr an der Nachfrage orientieren.“

    1. Ja, der Looser erinnert an den Heroin-Dealer, der vor Gericht mit treuherzigem Augenaufschlag sagt, dass die Kinder das Heroin halt hätten haben wollen und er ja nur ein Bedürfnis befriedigt habe. Im internet gibt es auch eine grosse Nachfrage nach Pornos, Raubkopien und Bauanleitungen für Bomben. Redaktionell arbeiten heisst aber gerade, zwischen bloss Nachgefragtem und Wichtigem unterscheiden zu können.

  2. Bei „Bajour“ schaue ich ab und zu rein und frage mich, ab wann darf ein Medium, ein Online-Magazin, ein Info-Portal sich eigentlich „Medium, Online-Magazin oder Info-Portal nennen?
    Diese paar in loser Folge aufgetischten Schulaufsätzli einiger „Journalisten“ (ab wann darf sich ein Journalist eigentlich so nennen?) machen doch noch kein Online-Medien-Produkt aus.
    Mit viel Vorschuss (im übertragenden und wörtlichen Sinne – sprich Geld – ) gestartet, sehe ich für Bajour allerhöchstens ein Nischendasein im Kreise einiger Medienfreaks. Schade drum.
    Doch fairerweise muss man sich fragen: Gibt es denn heute noch „Die Zeitung“ in Basel, „Das Fernsehen“ der Schweiz, „Die Quizshow“ Europas oder „Der Entertainer“ Deutschlands.
    Nein – alles ist viel differenzierter geworden. So wie er keine Star-Musik-Gruppen mehr gibt, keinen Kulenkampf oder Carell, gibt es dafür umsomehr „You-Tube-Sing-Sang-Strohfeuer“. „Pop-ups“ bei Sendungen, Blättli oder flatterhafte Online-Hypes.
    So gesehen ist Bajour in guter Gesellschaft weil eines davon.
    Und lieber Herr Dean, sie machen es falsch: Essen Sie kräftig Frühstück mit Müsli, Brot, Porridge usw für einen guten Start in den Tag. Und konsumieren Sie dabei keine Medien – sondern sammeln sich innerlich für den Tag. Denn „Wenn ich esse, esse ich; wenn ich lese, lese ich….“ Sie werden sehen, wie sie so Ihren Tagesablauf mit mehr Lebensfreude und besser bewältigen.

    1. Online ist eben nicht gleich Website. Die wichtigste Leistung von Bajour ist ein täglicher Newsletter, das Basel Briefung. Da werden jeden Morgen auf sieben Uhr die wichtigsten regionalen Nachrichten zusammenfasst. Das ist so etwas wie eine digitale, regionale Tageszeitung. Hier können Sie sich das Archiv ansehen: https://us3.campaign-archive.com/home/?u=c30add995be4a0a845d9e933a&id=bed6b33c61
      Dazu kommen Facebook, Instagram, Live-Übertragungen auf Youtube, Veranstaltungen und ja, auch noch die Website.
      Das «Nischendasein», das Sie Bajour prognostizieren, das besteht im Moment aus rund 4500 Briefing-LeserInnen, über 15’000 Mitgliedern auf Facebook und über 1500 zahlenden Membern und Gönnern. Das ist für das erste Betriebsjahr nicht ganz so schlecht…
      Was das Frühstück angeht: Der Mythos vom wichtigen Frühstück ist längst passé. Heute wissen wir: Es ist viel gesünder, längere Essenspausen einzulegen. Das nennt sich dann Intervallfasten. Mach ich übrigens auch: Mindestens 16 Stunden nichts essen. Ist gut für die Insulinwerte und beschert mir am morgen einen klaren Kopf statt Verdauungsarbeit im Bauch…

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