Martin Amrein: «Corona hat die Bedeutung von Twitter in meinem Alltag massiv verstärkt»

Publiziert am 14. Dezember 2022 von Matthias Zehnder

Das 207. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Martin Amrein, Redaktor im Ressort Wissen der «NZZ am Sonntag». Er sagt, Facebook und Instagram seien für ihn passé, Twitter sei für Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten aber unverzichtbar: «Die besten Fachleute der Welt teilen hier ihre neusten Resultate und diskutieren darüber.» Es bleibe abzuwarten, «wie viele wegen Elon Musk auf Mastodon wechseln.» Es sei beängstigend, «zu welch starker Polarisierung die Pandemie in den sozialen Medien geführt hat». Gedruckten Tageszeitungen gibt Amrein nur noch wenige Jahre, Sonntagszeitungen dürften länger überleben. Kritisch werde es, «wenn die eine oder andere Schweizer Sonntagszeitung wegfällt. Dann wird das Verteilen der Zeitungen am Sonntagmorgen für die verbleibenden Medienhäuser teurer.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Sind die Kinder aus dem Haus, höre ich SRF 4. Wenn ich im Home Office bin auch tagsüber immer mal wieder. Allerdings bin ich schon vor dem Frühstück auf Twitter.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Schon vor dem Erscheinen des Coronavirus war Twitter ein nützliches Recherche-Tool für Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten. Seit der Pandemie ist es unverzichtbar. Die besten Fachleute der Welt teilen hier ihre neusten Resultate und diskutieren darüber. Bleibt abzuwarten, wie viele wegen Elon Musk auf Mastodon wechseln. Auf Facebook danke ich mittlerweile lediglich noch mit zweiwöchiger Verspätung für Geburtstagsgrüsse. Bei Instagram habe ich mich mal versuchsweise mit einem idiotischen Namen angemeldet – und wurde trotzdem von Bekannten gefunden. Es wäre Zeit, mich bei von diesen beiden Plattformen zu verabschieden.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Wie schon erwähnt, hat das Virus die Bedeutung von Twitter in meinem Alltag massiv verstärkt. Es war entscheidend, Posts und Diskussionen auf der Plattform zu verfolgen, um über die neusten Entwicklungen informiert zu sein. Selber teilte ich auf Twitter unter anderem meine Rechercheergebnisse, die in der Zeitung keinen Platz hatten oder zu spezifisch für den Artikel waren. Nie zuvor habe ich von Leserinnen und Lesern so starken Zuspruch aber auch so heftige Ablehnung erlebt wie in der Corona-Zeit auf Twitter. Es ist beängstigend zu sehen, zu welch starker Polarisierung die Pandemie in den sozialen Medien geführt hat.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Die Blütezeit des Wissenschaftsjournalismus in den 1990er Jahren, von der manche pensionierte Kollegen noch immer schwärmen, habe ich leider nicht erlebt. Damals war aber sicher nicht alles besser. Natürlich hatte man ein grösseres Budget für Reisen und mehr Zeit für Recherchen. Die Texte waren aber weit weniger verständlich und lebhaft. Ich glaube auch nicht, dass man kritischer gegenüber der Wissenschaft war.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Ja, da habe ich keine Zweifel.

Was soll man heute unbedingt lesen?

«Good Night Stories for Rebel Girls» und «Stories for Boys who Dare to be Different». Eigentlich für Kinder verfasste Gute-Nacht-Geschichten, die von besonderen Menschen erzählen, aber auch für Erwachsene inspirierend.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Früher nahm ich mir vor, jedes angefangene Buch zu Ende zu lesen. Später wurde mir meine Zeit dafür zu wertvoll. Heute komme ich wegen langen Arbeitstagen und Familienalltag kaum mehr dazu, überhaupt Romane oder Sachbücher in der Freizeit aufzuschlagen.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

In den Büchern, in die ich zu Hause doch noch regelmässig reinschaue – jene meiner Kinder. Habt ihr zum Beispiel gewusst, dass wenn man die Arterien und Venen unseres Körpers herausnehmen und aneinanderlegen würde, man damit dreimal die Erde umwickeln könnte? Oder dass der längste jemals dokumentierte Furz drei Minuten dauerte? (Lesetipp: «Mein verrückter Körper» von Adam Kay)

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Tageszeitungen möglicherweise nur noch einige Jahre. Länger dafür die Sonntagszeitungen. Kritisch wird es, wenn die eine oder andere Schweizer Sonntagszeitung wegfällt. Dann wird das Verteilen der Zeitungen am Sonntagmorgen für die verbleibenden Medienhäuser teurer, allenfalls wird es sich nicht mehr lohnen.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Sofern sie nicht im eigenen Medium auftauchen, sind sie eine Chance.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Radio und Fernsehen nutze ich linear sowie im Replay-Modus. Hin und wieder zappe ich abends ganz altmodisch durchs Fernsehprogramm. Das finde ich ziemlich entspannend. So bin auch schon auf Themen gestossen, zu denen ich später eigene Artikel geschrieben habe.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Würde ich mit dem Zug und nicht mit dem Velo zur Arbeit fahren, würde ich bestimmt mehr Podcasts hören. So aber bleibt die Liste, die ich mir einst vorgenommen habe, fast unbearbeitet. Einen Podcast habe ich kürzlich trotzdem gehört, nicht aus Pflichtgefühl meinen Kolleginnen und Kollegen gegenüber, sondern weil er wirklich gut ist: «Skalpell und Wahn» von This Wachter, Theres Lüthi, Patrick Imhasly und Simon Meyer. Und natürlich habe ich das «Coronavirus-Update» von NDR verfolgt.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Dass wir uns Mühe geben sollten, die Jungen zu erreichen. Wobei ich bei Aussagen, die beinhalten, dass es früher besser gewesen sei, immer skeptisch bin. Vielleicht steht es um die heutige Jugend ja doch nicht ganz so schlimm, wie diese Zahlen suggerieren.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Bestimmt, aber nur zum Teil.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Weder noch. Die Digitalisierung bedeutet, dass wir als Journalistinnen und Journalisten agil bleiben müssen. Und das ist keine schlechte Sache.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Ich glaube, es wird früher oder später darauf hinauslaufen.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ja, zum Beispiel wenn ich Leute interviewe. Mit etwas Glück kann ich danach sogar noch lesen, was ich hingekritzelt habe.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Schlecht, weil er das Lügen enttabuisiert hat.

Wem glaubst Du?

Meiner Frau.

Dein letztes Wort?

Ich muss mich kurz fassen, es ist spät: Good night, and good luck.


Martin Amrein
Martin Amrein wurde 1981 in Bern geboren und wuchs in Sursee auf. Er studierte Wissenschaftsgeschichte an den Universitäten Bern und Cambridge sowie Biologie an der Universität Zürich. Dabei befasste er sich mit der Evolution der Primaten und der Geschichte der Evolutionstheorie. Erste journalistische Erfahrungen sammelte er beim «Bund» und beim «Tages-Anzeiger». Nach Anstellungen bei der «Aargauer Zeitung» und der «NZZ» ist er seit 2014 Redaktor im Ressort Wissen der «NZZ am Sonntag». Seit 2019 ist er Präsident des Schweizer Klubs für Wissenschaftsjournalismus (SKWJ). Er ist verheiratet und Vater von zwei Söhnen.
twitter.com/martin_amrein


Basel, 14. Dezember 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Seit Ende 2018 sind über 200 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/

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Ein Kommentar zu "Martin Amrein: «Corona hat die Bedeutung von Twitter in meinem Alltag massiv verstärkt»"

  1. Ob mit oder ohne Twitter und Wissenschaft: Auch die Mehrheit der Journalistinnen und Journalisten scheinen im Rahmen von Verhältnissen gefangen, wo Menschenrechte permanent und systemimmanent verletzt werden. Und dies nicht nur dort, wo brutal Krieg herrscht, sondern auch dort, wo Menschen einer Herrschaft durch Machenschaften und Zwänge ausgesetzt sind, die sie autoritär oder gar totalitär ihrer Freiheit und Würde berauben. Es kann immer besser werden: wenn wir es nur wollen und es auch tun!

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