Mark Balsiger: «Native Advertising halte ich für eine Seuche, die den Journalismus zerfrisst»
Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Politikberater Mark Balsiger. Er sagt, es sei ein «Jammer, dass es die SRG nicht geschafft hat, SRF4 News einem breiten Publikum bekannt zu machen.» Die Instinkte der Verleger hätten versagt, als «das Internet die Welt zu erobern begann. Die Gratiskultur, die sie damals einführten, ist ihre Erbsünde.» Er sei aber Optimist und glaube daran, «dass in den nächsten Jahren neue Online-Medien entstehen, die nicht auf Klicks und Rendite aus sind, sondern unabhängigen Journalismus liefern.» Die hohe Zahl der news-deprivierten Jugendlichen überrasche ihn nicht, «weil es mit der politischen Bildung an den Schulen hapert».
Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?
Mein Zmorge-Tisch ist immer reich gedeckt: Gedruckt lese ich nur noch den «Bund», digital und selektiv die NZZ, Portale von CH-Media und den Regionalteil der «Berner Zeitung». «BBC News» darf nicht fehlen – hach, ich mag dieses BBC-English! Auf Twitter kriege ich dank vielen Listen mit, was wo passiert ist. Das wichtigste Medium am Morgen ist allerdings SRF4 News: In 30 Minuten kriege ich alles serviert, was relevant ist: News, Einordnung, Hintergrundgespräche, Talks. Ein Jammer, dass es die SRG seit dem Start 2007 nicht geschafft hat, diesen Radiosender einem breiten Publikum bekannt zu machen. Er liefert Service Public in hoher Qualität, und das vom frühen Morgen bis in den Abend hinein.
Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?
Zwei dieser drei Plattformen sind werbeverseucht, trotzdem nutze ich alle drei intensiv. Bei Facebook habe ich Pages von Parteien, Think Tanks, Komitees usw. abonniert. Instagram ist meine tägliche Belohnung. Dort folge ich Leuten, die gerne unterwegs sind und ihre Fotos nur leicht bearbeiten – so wie ich auch. Selber habe ich den Anspruch, jeden Tag einen schönen Moment einzufangen und zu teilen. Das schult mein Auge. Twitter ist zwar längst toxisch, bleibt aber die wichtigste Plattform. Tagsüber sammle ich wertvolle Links, die Texte und Audios dazu sind spätabends oder am Wochenende dran.
Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?
Seit einem Jahr bin ich Stammgast bei Arte und 3sat. Ich schaue pro Woche zwei oder drei Dok- und gute Studiofilme – meistens zeitversetzt.
Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?
Am besten waren die Neunzigerjahre, als die Werbeeinnahmen üppig sprudelten, die Verleger noch eine staatspolitische Verantwortung wahrnahmen, das Internet wenig Bedeutung hatte und Information kein Junkfood war. Der Optimist in mir – nicht zu töten! – glaubt daran, dass in den nächsten Jahren neue Online-Medien entstehen, die nicht auf Klicks und Rendite aus sind, sondern unabhängigen Journalismus liefern. Zusammen mit der Bewegung Courage Civil unterstütze ich die Bemühungen, damit im Grossraum Bern ein Online-Magazin entsteht. Zurzeit läuft die Befragung des potentiellen Publikums.
Haben geschriebene Worte noch Zukunft?
Ohne wäre die Welt trist! Schreiben ist Arbeit am Gedanken.
Was soll man heute unbedingt lesen?
Alles, was uns zum Nachdenken bringt. Vieles, was uns gut unterhält.
Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?
Hat mich ein Stoff nach zwei Kapiteln nicht gepackt, liegt das Buch am nächsten Wochenende in einem Karton vor meiner Haustüre – «Zum Mitnehmen». Das Leben ist zu kurz für schlechte Bücher!
Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?
Mein persönliches Umfeld ist divers und sehr heterogen – eine grosse Bereicherung. Nichts wäre langweiliger, als sich bloss in einer Bubble stetig gegenseitig zu bestätigen. Auf Twitter habe ich viele Perlentaucher auf dem Radar.
Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?
Hoffentlich noch lange: Das Blättern der Seiten ist sinnlich. In meinem letzten Buch stellte ich die Hypothese auf, dass es in der Schweiz ab 2025 nur noch in den beiden grösseren Sprachräumen je eine Qualitätszeitung geben wird. Beim Totalumbau legt die TX Group ein zügiges Tempo vor, um uns auf ihre digitalen Plattformen zu bringen. Journalismus ist das Schmiermittel, um uns zu den kommerziellen Angeboten zu locken. Native Advertising halte ich für eine Seuche, die den Journalismus zerfrisst.
Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?
Gegenfrage: Sind wir Menschen befähigt und willens, beim Medienkonsum nachzudenken? Ich spiele auf einen Stoff im «Magazin» von Ende 2016 an, der Big Data und die angeblich revolutionären Methoden von Cambridge Analytica thematisierte (Titel: «Ich habe nur gezeigt, dass es die Bombe gibt»). Abertausende von Menschen teilten diesen Artikel: «Schaut, jetzt weiss man, weshalb Brexit und Trump möglich wurden!» Der Spin des Textes war raffiniert, aber wer eins und eins zusammenzählen kann, hätte merken müssen: Das ist Chabis! Die Entscheidungswege der Menschen, gerade bei Wahlen und Abstimmungen, sind viel komplexer.
Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?
Radio bleibt linear auch in Zukunft zentral. Gelegentlich schaue ich zusammen mit meinem Göttibueb ein Fussballspiel.
Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?
Ehret einheimisches Schaffen: «Zeitblende», «Einfach Politik» und «International» von SRF sind ausgezeichnet.
Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?
Zunächst: Der Begriff ist ein Missgeschick, aber die fög-Forschenden halten daran fest. Für ein Land wie die Schweiz mit ihren vielfältigen Möglichkeiten zu partizipieren, ist dieser Wert alarmierend. Aber es überrascht mich nicht, weil es beispielsweise mit der politischen Bildung an den Schulen hapert. Vielen Lehrkräften fehlt selber der Zugang und das Interesse. Entsprechend sind ihre Lektionen keine Feuerwerke.
Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?
Herr Suppino hat eine grosse Begabung, viel Geld zu verdienen. Journalismus interessiert ihn nur am Rande, er betrachtet ihn als Kostenfaktor. So verstehe ich seine Aussage.
Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?
Diese Frage überfordert mich. Woran ich erinnern will: In den 1930er-Jahren, als das Radio aufkam, fürchteten die Verleger das Ende ihrer Zeitungen. Dasselbe wiederholte sich in den 1950er-Jahren, als das Fernsehen sich durchzusetzen begann, und in den 1990er-Jahren mit dem Internet. Keine Mediengattung ist verschwunden, wir konsumieren heute viel mehr als früher (wobei wir über unseren Konsum nachdenken sollten). Die Instinkte der Verleger haben versagt, als das Internet die Welt zu erobern begann. Die Gratiskultur, die sie damals einführten, ist ihre Erbsünde.
Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?
Natürlich, aber er agiert in Nischen. In der Schweiz könnte man diese schleichende Marginalisierung verlangsamen, wenn man die Nachrichtenagentur Keystone-SDA zu einer Stiftung umfunktionieren würde. So könnte man ein solides Basisangebot für alle Abnehmer sicherstellen.
Schreibst Du manchmal noch von Hand?
Täglich, und das bewusst. Es hilft mir, meine Gedanken zu ordnen.
Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?
Trump ist die «Frucht» der gesellschaftlichen Spaltung, die in den USA während der Reagan-Administration (1980 – 1988) massiv grösser wurde. Doch zurück zur Frage: Trump war eine Katastrophe, weil er mit seiner Rhetorik die Grenzen verschob. Zig Bonsai-Trumps machen es ihm längstens nach, weil sie gemerkt haben, dass so die «Aufmerksamkeitsprämien», wie sie Peter Sloterdijk nennt, zahlreicher sind. Viereinhalb Jahre lang arbeiteten sich zahllose Medien an Trump Tweets ab, was viele Ressourcen band, die anderweitig hätten eingesetzt werden können. Trump hat Twitter vergiftet.
Wem glaubst Du?
Allen, die mehrmals bewiesen haben, dass sie sich um Wahrheit und Wahrhaftigkeit bemühen.
Dein letztes Wort?
Stay humble.
Mark Balsiger
Mark Balsiger war früher Journalist und Mediensprecher und fünf Jahre lang im Ausland – studierend, werkend, reisend. Nach dem Bürgerkrieg in Bosnien baute er in Bosnien eine Radiostation auf, die von einer multiethischen Crew betrieben wurde. Seit 2002 führt er eine Firma, die Schwerpunkte setzt in Medienarbeit, Krisenkommunikation, Auftrittskompetenz und strategischer Kommunikation. Er schrieb drei Bücher über politische Kommunikation, ist Dozent und Initiant der Bewegung Courage Civil.
https://www.border-crossing.ch/
Basel, 24. Februar 2021, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
PS: Nicht vergessen – Wochenkommentar abonnieren. Kostet nichts, bringt jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen Kommentar, den aktuellen «Medienmenschen» einen Sachbuchtipp und einen Video-Buchtipp auf einen Roman:
www.matthiaszehnder.ch/abo/
Ein Kommentar zu "Mark Balsiger: «Native Advertising halte ich für eine Seuche, die den Journalismus zerfrisst»"
Spannendes Inti! Ich habe eine Menge gelernt …