Marina Bräm: «Gedruckte Tageszeitungen gibt es noch mindestens so lange wie Vinyl-Schallplatten»

Publiziert am 16. August 2023 von Matthias Zehnder

Das 242. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Marina Bräm, Expertin für faktenbasierte Informations- und Designkonzepte. Sie sagt, die «Zentralredaktionen und die brutalen Sparmassnahmen haben ihre negative Wirkung gezeitigt.» Weniger Sorgen mach sie sich um den Nachrichtenkonsum von jungen Menschen. Viele ihrer Studierenden seien «an Hintergrundwissen sehr interessiert sind». Aber: «Reisserische Headlines, schnelle Storys, Themen-Wiederholungen, Polarisierungen, Aufreger und Clickbaiting wirken für viele abstossend.» Junge Medienkonsumenten wünschten sich nebst guten Beiträgen «intelligente Abo-Modelle, Dossiers mit hohem Nutzwert und funktionierende Archive». Apropos gute Berichte: Bräm hat den Eindruck, dass schon heute «einige Artikel von nicht allzu begabten Schreibrobotern unter Pseudonym verfasst werden.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Ich höre unter der Dusche das Info-Radio SRF 4, beim Frühstück begleiten mich «The Guardian» und die «NZZ».

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Manchmal ärgere ich mich darüber, aber in der Reihenfolge der Nutzung: Instagram, LinkedIn, Twitter und immer weniger Facebook.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Ich habe mich von News-Quellen verabschiedet, wo Journalisten zu selbstherrlich andere Meinungen niedermachten und ihre eigene verabsolutierten.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Nicht alles, aber eindeutig besser. Die Zentralredaktionen und die brutalen Sparmassnahmen haben ihre negative Wirkung gezeitigt.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Auf jeden Fall. Sie sind nicht immer wertiger als gesprochene Worte, aber nachhaltiger.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Schwierige Frage. Wie wäre es mit «Die Elenden» von Victor Hugo? So viel Anteilnahme aus fernen Zeiten, die heute noch berührt.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Sofort weglegen.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Immer wieder, muss ich gestehen, beim unstrukturierten Surfen durch die Weiten des Internets. Oder durch Hinweise von Freunden.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Mindestens so lange, wie es noch Vinyl-Schallplatten gibt.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Eine grosse Gefahr für ihr wichtigstes Asset: die Glaubwürdigkeit. Denn der Leser muss doch dem Bericht über Themen oder Gegenden, die er nicht kennt, vertrauen können.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Radio unter der Dusche, und einen TV besitze ich nicht.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Podcasts sowie Artikel beziehe ich (wenn es die Zeit zulässt) aus den Sortimenten von: «The Atlantic», «The Economist», «The Guardian», «brand eins», SRF, NZZ, «Wired» und «National Geographic».

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?

Glaube ich nicht wirklich. Als Dozentin erlebe ich, dass viele meiner Studierenden an Hintergrundwissen sehr interessiert sind, einige sogar sehr viel Zeit in Eigenrecherchen investieren und kritische, aber aufmerksame News-Konsumenten sind. Reisserische Headlines, schnelle Storys, Themen-Wiederholungen, Polarisierungen, Aufreger und Clickbaiting wirken für viele abstossend. Ebenso Sparmassnahmen von wohlhabenden Aktionären. Sie wünschen sich – nebst guten Beiträgen – intelligente Abo-Modelle, Dossiers mit hohem Nutzwert und funktionierende Archive.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Natürlich. Bei Sport-Meldungen ist das schon längst der Fall, auch bei der Anpassung von Tickermeldungen der News-Agenturen. Ehrlich gesagt habe ich heute schon den Eindruck, dass einige Artikel von nicht allzu begabten Schreibrobotern unter Pseudonym verfasst werden.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Wie jede Innovation kann sie richtig angewendet segensreich sein. Sie führt zur Fragmentierung und Gesinnungsblasenbildung, erlaubt aber einen horizonterweiternden Zugriff auf unglaubliche Informationsschätze.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Fakt ist: es gibt sie. Nach welchen Kriterien aber welche Medien gefördert werden sollten, ist eine für mich unübersichtliche Debatte.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Aber ja. Ich schreibe, skizziere, zeichne, entwickle und ordne meine Gedanken immer von Hand, erst dann wechsle ich an den Computer.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Er hat polarisiert und erschreckende Defizite der Medien aufgezeigt. Das war gut. Durch seine Lügen und Abqualifizierung aller Kritik an ihm als Fake News hat er geschadet.

Wem glaubst Du?

Informationen, die sachlich, kompetent, ausgewogen vorgetragen werden und ihre Quellen ausweisen.

Dein letztes Wort?

Medien können so bereichernd sein, uns Einblicke in unbekannte Welten, Denkweisen geben, uns beim Begreifen der Welt helfen. Wenn sie sich doch nur vermehrt auf diesen Daseinszweck besinnen würden.


Marina Bräm
Marina Bräm (43) ist Inhaberin von viz.bybraem und Expertin für faktenbasierte Informations- und Designkonzepte. Ich arbeite mit Kundinnen und Experten aus der ganzen Schweiz zusammen. Vor der Gründung im Sommer 2020 war ich Digital Design Director und Head of Infographics für die Bezahlmedien der Tamedia und arbeitete davor bei der NZZ am Sonntag und dem Beobachter Magazin. Neben der Auftrags- und Projektarbeit doziere ich heute unter anderem am MAZ – Die Schweizer Journalistenschule, der ETH und der HSLU, gebe Firmenschulungen und Workshops. Meine Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet.
https://www.viz-bybraem.com/

Basel, 16. August 2023, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Bild: Rolf Edelmann

Seit Ende 2018 sind über 240 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/

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