Lino Schaeren: «Früher war der Druck in fast jeder Hinsicht kleiner»

Publiziert am 28. Juni 2023 von Matthias Zehnder

Das 235. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Lino Schaeren, bis vor kurzem Chefredaktor des «Bieler Tagblatt». Er sagt, Journalismus sei heute so anspruchsvoll, weil «Digitalisierung jeden und jede zum potenziellen Sender» mache. Er selbst nutzt die sozialen Netzwerke nur noch zum Zeitvertrieb und meint: «Auf Twitter gibt es trotz allem ab und an noch interessante Debatten.» Was bei Kolleginnen und Kollegen laufe, erfahre er «inzwischen eher bei LinkedIn». Und was ist mit Facebook? Da «werde ich an viele Geburtstage erinnert – immerhin!» Von der Digitalisierung und Automatisierung erhofft Schaeren sich, dass sich «die Journalistinnen und Journalisten auf das Wesentliche konzentrieren können: die Recherche». Zudem «lassen sich dank der automatisierten Textgenerierung überall dort Services erbringen, die sonst kaum abzudecken wären. Etwa im Regionalsport oder in der Wirtschaft.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Frühstück gibts bei mir selten. Ich starte meist beim Kaffee in den News-Tag, scanne den «Bund», «Blick», «Watson» und schaue bei der «NZZ» vorbei, alles digital. Und bei «ajour.ch» hole ich die lokalen News ab. Als einziges Bezahl-Print-Produkt landet «Die Zeit» in meinem Briefkasten. Da komme ich aber meist erst am Wochenende zum Lesen (so zumindest die Wunschvorstellung, zu oft schaffe ich auch das nicht).

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Dient vor allem als Quelle der Inspiration und zur Recherche. Auf Twitter gibt es trotz allem ab und an noch interessante Debatten. Ansonsten nutze ich die Netzwerke zum Zeitvertrieb – an der Bushaltestelle oder in der Warteschlange. Was bei Kolleginnen und Kollegen so läuft, erfahre ich inzwischen eher bei LinkedIn. Und bei Facebook werde ich an viele Geburtstage erinnert, – immerhin!

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Im Homeoffice habe ich entdeckt, wie gerne ich beim Telefonieren herumspaziere. Sehr zum Leidwesen der Kolleginnen und Kollegen im Büro. Ansonsten: Weniger handschriftliche Notizen, mehr Flexibilität, was den Arbeitsplatz und die Arbeitsmittel betrifft. Mein Alltag ist viel digitaler geworden.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Weder noch, denke ich. Grundsätzlich finde ich es schwierig, Entwicklungen in «besser» oder «schlechter» einzuteilen. Früher war der Druck wohl in fast jeder Hinsicht kleiner, dafür sind die Möglichkeiten heute viel grösser. Die Digitalisierung macht jeden und jede zum potenziellen Sender. Für den Journalismus ist das anspruchsvoll, vor allem aber spannend. Der Journalismus ist heute bestimmt vielfältiger, die Journalistinnen und Journalisten sind gut ausgebildet und es wird trotz des immensen Drucks grundsätzlich sehr professionell gearbeitet.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Unbedingt!

Was soll man heute unbedingt lesen?

Ich habe in letzter Zeit abseits der News-Welt kaum mehr gelesen, bin stattdessen eher bei Hörbüchern gelandet. Fantasy ist nicht immer meins, doch zuletzt hat mich dabei die Königsmörder-Chronik von Patrick Rothfuss gefesselt – dass der letzte Teil noch in Entstehung ist, macht mich rasend. Ansonsten konnte ich die Neuausgabe von Robert B. Cialdinis «Influence» kaum mehr weglegen. Süffig und mit Witz erzählt der Psychologe, wie, wo und durch wen wir in unserem Alltag ständig beeinflusst werden. Alle kennen es, und doch können wir uns der Beeinflussung nicht entziehen. Cialdini erklärt aus psychologischer Sicht, wieso das so ist. Faszinierend!

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Früher musste ich zu Ende lesen, heute gehe ich das entspannter an.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Beim Zuhören. In Bus und Zug, in Gesprächen mit Freunden. Und vor allem: auf Reisen.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Keine Ahnung. Solange Leute bereit sind, dafür zu zahlen? Die Tagespresse wird sich weiter wandeln, viele Titel werden künftig kaum mehr täglich gedruckt erscheinen. Doch das Aus für gedruckte Tageszeitungen wurde schon oft verkündet …

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

In erster Linie eine Gefahr, gerade da Fakes immer schwieriger als solche zu identifizieren sind. Zudem untergraben sie die Glaubwürdigkeit der Medien, sie spalten. Gleichzeitig sind Fake News für den Journalismus auch eine Chance, da sie nach Recherche und Einordnung verlangen.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Gibts bei mir so gut wie nicht mehr – die Ausnahme ist hier natürlich die Live-Sportberichterstattung und Breaking News. Sendungen wie das «Regionaljournal» oder die «Tagesschau» konsumiere ich zeitversetzt im Stream.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Beim Reisen höre ich gerne «Alles gesagt». Total langweilig, ich weiss, aber die Podcasts der «Zeit» sind halt insgesamt gut.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?

Puh, das weiss ich nicht. Ich wage zu bezweifeln, dass meine Freunde und ich in jungen Jahren besser als die heutigen Jugendlichen informiert waren. Ich habe die Zeitung damals nur der Sportresultate wegen zur Hand genommen. Aber klar: Die Jungen müssen abgeholt und vor allem ernst genommen werden. Dafür braucht es diverse Redaktionen und eine diverse Berichterstattung, die mutig neue Wege geht.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Teilweise bestimmt. Die Digitalisierung kann die Branche unterstützen, damit sich die Journalistinnen und Journalisten auf das Wesentliche konzentrieren können: die Recherche. Repetitive Arbeiten fallen weg. Klingt gut, ist aber vor allem ein Wunschszenario. In der Realität sieht es leider oft anders aus. Automatisierung bedeutet Effizienzsteigerung, die freigespielten Ressourcen werden nicht in die Recherche investiert, sondern weggespart.

Zudem lassen sich dank der automatisierten Textgenerierung überall dort Services erbringen, die sonst kaum abzudecken wären. Etwa im Regionalsport oder in der Wirtschaft. Mehrere Verlagshäuser machen das seit mehreren Jahren vor. Aber ob das unter Journalismus fällt? Für die wertvolle journalistische Arbeit wird es immer die menschliche Ressource brauchen.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Eine Befreiung? Das dünkt mich sehr hoch gegriffen. Die Digitalisierung bietet unzählige neue Möglichkeiten und ist damit eine riesige Chance. Der Journalismus wird in jeder Hinsicht immer vielfältiger und wir erfahren unmittelbar, wer unser Publikum ist und was es von unserer Arbeit hält.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Ich denke schon. Aber welche? Insbesondere in den Regionen muss die Vielfalt, wo sie nicht schon verschwunden ist, erhalten bleiben.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Eigentlich nur noch, wenn ich draussen auf Recherche bin oder Grussbotschaften verfasse.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Für einige grosse Medienhäuser kurzweilig gut. Für die Demokratie und damit für die unabhängigen Medien insgesamt schlecht.

Wem glaubst Du?

Familie und Freunden – und auch sonst vielen Menschen. Damit bin ich bislang ganz gut gefahren.

Dein letztes Wort?

Tüdelü.

Lino Schaeren

«Meine Faszination für den Sport hat mich zum Journalismus gebracht. Eigentlich wollte ich ja Sportlehrer werden, ein Journalismus-Praktikum hat mir da einen Strich durch die Rechnung gemacht. Nach der Diplomausbildung am MAZ in Luzern habe ich beim ‹Bieler Tagblatt› erste Erfahrungen als Sportredaktor gesammelt, ehe ich ins Regionalressort gewechselt habe. Dieses habe ich später drei Jahre geleitet, ehe ich zuletzt bis Mai 2023 als Chefredaktor auf der Bieler Redaktion tätig war. Derzeit nehme ich mir eine kleine berufliche Auszeit und blicke gespannt auf die nächsten Aufgaben.»

Basel, 28. Juni 2023, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Seit Ende 2018 sind über 230 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/

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