Lea Haller: «Fernsehen? Allenfalls wenn ich krank bin»

Publiziert am 1. April 2020 von Matthias Zehnder

Sie ist buchstabensüchtig. Mit Radio und Fernsehen kann Lea Haller, Redaktionsleiterin von «NZZ Geschichte» deshalb auch in Corona-Zeiten wenig anfangen. «Ich will Informationen aus verlässlicher Quelle», sagt sie. Medien seien unter Druck. «Und wo der Druck steigt, steigen nicht unbedingt Vielfalt und Qualität.» Im Fragebogeninterview gibt Lea Haller Auskunft über ihren persönlichen Mediengebrauch, ihren Umgang mit sozialen und anderen Medien sowie Zustand und Zukunft des Journalismus in der Schweiz.

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Die News lese ich vorab auf dem Mobiltelefon. Beim Frühstück nehme ich zur Hand, was gerade daliegt: «New Yorker», «NZZ», «NZZ am Sonntag», «Feuille d’Avis du District de Courtelary», «WOZ». Hauptsache Buchstaben – ich bin buchstabensüchtig.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Ich bin auf Facebook und Twitter, und ich bin eine eher defensive Nutzerin. Irgendwann steige ich vermutlich sang- und klanglos aus, ich würde nichts vermissen. Dennoch ist es da auch interessant, es gibt ja diesen voyeuristischen Aspekt. Man sieht ein bisschen, wie die Leute sich verhalten, wer seine Posts gern im Befehlston verfasst («Lesen!»), wer sich in welchem Licht darstellt, wer Witz hat und wer eine Mission. Auch wenn jemand kaum etwas von sich preisgibt, erkennt man an Wörtern und Gesten doch immer eine Haltung. Dass Zuneigung und Anerkennung da nur virtuell daherkommen, sehe ich nicht so pessimistisch; mit Likes und Herzchen machen wir uns gegenseitig ein wenig Mut, vertreiben wir den Tod, der uns irgendwann alle holen wird. Aber natürlich gibt es gleich um die Ecke auch eine unglaubliche Brutalität. Schnell wird man zur Angriffsfläche von selbstgerechten Besserwissern, die mit Pistolenschusskommentaren auf ein imaginäres Feindbild zielen, um damit bei ihren eigenen Peers zu punkten. Die Sache ist also, gelinde gesagt, ambivalent.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Ich lese sonst gern Hintergrundbeiträge: Reportagen, Berichte, Feuilleton-Artikel, Literaturkritiken etc. Zur Zeit konsumiere ich hingegen in erster Linie «hard facts». Ich will Informationen aus verlässlicher Quelle. Mein Medienkonsum hat sich also verändert; und er ist deutlich gestiegen.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Was heisst früher? Presseerzeugnisse gibt es seit der Erfindung des Buchdrucks in der Mitte des 15. Jahrhunderts. Aber weder die Flugblätter und Flugschriften des 16. Jahrhunderts noch die Zeitschriften und Gazetten des 17. und 18. Jahrhunderts lassen sich sinnvoll mit unserer Medienlandschaft vergleichen. Eine Massenpresse entwickelte sich erst im 19. Jahrhundert, im Zuge von Industrialisierung, Verstädterung und Pressefreiheit. Im 20. Jahrhundert folgte die mediale Diversifizierung durch Radio, Fernsehen und später Internet. Klar ist: Aus Sicht der Medien waren die erste und weitgehend auch noch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ein goldenes Zeitalter. Die Einnahmen aus Inseraten sprudelten, die Redaktionen waren gut besetzt. Das hat sich in den vergangenen Jahren radikal verändert, viele traditionelle Medien stehen unter Druck. Und wo der Druck steigt, steigen nicht unbedingt Vielfalt und Qualität.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Die ältesten chinesischen Zeichen, die wir kennen, wurden auf etwa 6600 v. Chr. datiert; aus Mesopotamien gibt es ab dem 4. Jahrtausend v. Chr. schriftliche Zeugnisse. Schriftsysteme ermöglichten es den Menschen, Gesetze zu erlassen, sich auf Zählweisen zu einigen, Verträge abzuschliessen. Wo politische Strukturen entstanden, die wir gemeinhin «Hochkulturen» nennen – der Politologe James C. Scott würde sagen: Strukturen, die es erlaubten, Menschen zu unterwerfen, zu kontrollieren und zu besteuern – wurde die Schrift zu einem unverzichtbaren Instrument der Herrschenden. Solange es Verwaltungen und Staaten gibt, wird auch geschrieben werden. Und wenn wir Glück haben, wird neben der Schriftproduktion der Behörden, dem Jargon der Unternehmens- und Lebensberater und den Verträgen, Lieferscheinen und Rechnungen der Firmen auch weiterhin ein Schriftgut existieren, das es uns ermöglicht, als Menschen über uns hinauszudenken. Die Schrift – ob analog oder digital – ermöglicht es uns, Ideen über zeitliche und räumliche Grenzen hinwegzutragen. Schreibend können wir fragen, woher wir kommen, was unser Möglichkeitsraum ist, wohin wir als Gesellschaft gehen wollen. Wir können Geschichten erfinden, Wissen festhalten, die Welt deuten und uns eine Zukunft phantasieren. Wie arm wären wir, würden wir darauf verzichten!

Was muss man unbedingt gelesen haben?

Ich misstraue jedem, der sagt «Das musst du unbedingt gelesen haben». Lesen ist eine sehr intime Angelegenheit: Man entdeckt Sachen für sich. Bücher korrespondieren mit anderen Büchern, es entsteht ein fein gewobenes Netz im eigenen Kopf. Montaigne, Spinoza, Bayle, Diderot, Mary Wollstonecraft, Paul Léautaud, Isaiah Berlin, Hannah Arendt, Paul Veyne – woher soll ich wissen, wie das bei anderen ankommt, wie sie das lesen würden? Entweder es gibt zwischen Autor und Leserin eine Resonanz, weil einem eine Haltung nah ist, weil jemand formuliert, was man selbst bloss vage ahnte, weil eine Perspektive eröffnet wird, weil einen ein Denken irritiert oder weil man sich schlicht für eine intellektuelle Bewegung in einem historischen Kontext interessiert, weil also etwas Anregendes passiert im eigenen Kopf – oder dann eben nicht.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Es gibt zu viele gute Bücher als dass man die schlechten zu Ende lesen müsste. Nach ein paar Seiten weiss man, was man bekommt. Wenn’s nervt oder langweilt: weglegen!

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Ich habe ein paar kluge, belesene, weltinteressierte Freunde, da fliegt mir ab und zu eine Entdeckung zu. Wenn es um Literatur geht: Es gibt auch noch ein paar Buchhandlungen, die mit ausgewähltem Sortiment dem Aussterben der Zunft trotzen, und die meisten Bücher entdeckt man ja ohnehin, weil man Bücher liest – man kommt vom einen zum anderen. Schliesslich lohnt es sich, die wenigen noch verbliebenen Literaturkritiker und Essayisten zu lesen, die sich vom Meinungsjournalismus fernhalten und aus Lebensbeobachtung wahre Kunst machen, zum Beispiel Paul Jandl, der regelmässig für die NZZ schreibt.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

So lange, bis die Entscheidungsträger in den Chefetagen entscheiden, dass sie nun definitiv einzustellen seien, weil unrentabel.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Sobald den Menschen die Fähigkeit abhanden kommt, zu entscheiden, was eine verlässliche und was keine verlässliche Quelle ist, werden Fake News gefährlich. Eine Moderation auf Internetplattformen wäre wohl angezeigt, auch wenn das eine heikle Gratwanderung ist. Die Meinungs- und Pressefreiheit muss gewahrt werden. Oder wie schon John Stuart Mill sagte: «Wir können nie sicher sein, dass die Ansicht, die wir zu unterdrücken suchen, falsch ist: auch wenn wir sicher sein könnten, wäre die Unterdrückung immer noch ein Übel.»

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Radio ist ein tolles Medium, leider komme ich selten dazu. Fernsehen? Allenfalls wenn ich krank bin.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Im Moment das «Coronavirus-Update mit Christian Drosten» vom Norddeutschen Rundfunk NDR. Sonst gelegentlich auch «Andruck» von Deutschlandfunk, «Eine Stunde History» (ebenfalls Deutschlandfunk) oder das «Echo der Zeit» von SRF.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Vermutlich haben sie gerade besseres zu tun – Ausbildung, Freundin, Sport, Weltreise.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Das wäre dann eine andere Form von Journalismus.

Wäre die Medienwelt eine andere, wenn Frauen in den Medien mehr zu sagen hätten?

Probieren wir es aus!

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Siehe oben, Thema Schrift.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Notizen, Geburtstagskarten, Einkaufszettel.

Ist Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Er nimmt für meinen Geschmack etwas zu viel Platz ein – der fehlt dann da, wo es interessant würde.

Wem glaubst Du?

Niemandem alles. Aber allen das, was mir argumentativ einleuchtet, was vernünftig und plausibel erscheint.

Dein letztes Wort?

Caute! (Ok, das ist jetzt für Insider.)


Lea Haller
Lea Haller leitet die Redaktion des Magazins «NZZ Geschichte». Sie hat in Zürich und Hamburg Geschichte, Volkskunde und Deutsche Sprachwissenschaft studiert. 2007–2012 war sie Assistentin und Doktorandin an der Professur für Technikgeschichte der ETH Zürich. 2012 erhielt sie eine Branco Weiss Fellowship für ein Forschungsprojekt zur Geschichte des Rohstoffhandels in der Schweiz. Sie war Gastwissenschaftlerin an der SciencesPo in Paris, Fellow am Minda de Gunzburg Center for European Studies an der Harvard University und arbeitete am Paul Bairoch Institute of Economic History an der Universität Genf. Seit 2018 arbeitet sie auf der Redaktion von «NZZ Geschichte».
https://www.nzz.ch/geschichte


Basel, 1. April 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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