Katja Reichenstein: «Ich bin allergisch auf automatisierten Journalismus»

Publiziert am 23. November 2022 von Matthias Zehnder

Das 204. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit der Moderatorin und Journalistin Katja Reichenstein. Sie fürchtet, dass die «Ökonomisierung der Medienhäuser» der Qualität der Schweizer Medien zusetze, sagt aber auch, es hätten sich «aus diesen Umständen heraus sehr viel spannende und journalistisch starke Alternativen entwickelt». Um die Information junger Menschen macht sie sich deshalb keine Sorgen. Sie selbst ist gerne weiterhin linear unterwegs und nutzt oft das klassische Radio und Fernsehen. «Bisschen retro in einer Welt, in der eh alles ‹on demand› verfügbar ist, finde ich schön und zelebriere es auch immer wieder.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Da sich meine Frühstückszeiten sehr unterschiedlich gestalten, nutze ich meine bevorzugten Medienkanäle auch beinahe täglich in anderer Reihenfolge und Varietät. Wenn ich sehr früh in den Tag starte, dann gestaltet sich meine Infostunde entsprechend kurz und queer: am liebsten dann mit dem «Bajour»-Newsletter, den «SRF 4»-News und der «bzBasel»-Online-Seite. Wenn ich morgens etwas mehr Zeit habe, dann höre ich zu den vorhin erwähnten Newsportalen  «Heute Morgen» von SRF nach, höre linear SRF 2 und mache mich auch auf den Social-Media-Kanälen, ein Bild davon, was bewegt und in der nahen und fernen Welt geschieht.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Instagram und Facebook konsultiere ich auf jeden Fall täglich. Da ich meine Kontakte auch etwas als News-Selectors sehe (Cave Bubble-Awareness muss sein!), bin ich oft sehr schnell auch im Bilde, wo ich mich selbst noch schlauer machen möchte. Mit Twitter habe ich mich nie so richtig anfreunden können und beobachte deshalb auch die aktuellsten Veränderungen bei Twitter nur aus Distanz.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Erstaunlicherweise überhaupt nicht – ich habe durchgehend gearbeitet, also auch keine «Füller» gebraucht. Ausserdem habe ich mich bereits vor der Pandemie stark mit Medienkompetenz, Fake News und Angst treibenden Medien kritisch auseinander gesetzt – ich hatte deshalb auch einen, glaube ich, gesunden Umgang mit den Medien in diesen höchst verstörenden, spaltenden und verunsichernden Zeiten.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Das kann ich so schwarz-weiss nicht beantworten. Die Ökonomisierung der Medienhäuser setzt der Qualität der Schweizer Medien bestimmt zu. Andererseits haben sich aus diesen Umständen heraus sehr viel spannende und journalistisch starke Alternativen entwickelt. «Republik», «Bajour», «Watson», «Tsüri» um nur ein paar wenige zu nennen. In der Transformationsphase der Medienlandschaft in der Schweiz haben es aber aus meiner Sicht einige Medien ganz klar verpasst, on track mit der Digitalisierung und dem veränderten Medienverhalten der neueren Generationen zu bleiben. Das ist aus meiner Sicht eine riesige Chance, die eindeutig verpasst wurde. Aber wie gesagt: Diese Umstände bieten Raum für neue, innovativere Player.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Auf jeden Fall! Die Frage ist nur, wo und wie man sie liest. Das geschriebene Wort wird aus meiner Sicht durch kein Instant-Erklärvideo und keinen noch so guten Podcast ersetzt werden können. Im besten Fall ergänzt es dies. Das geschriebene Wort hat ein Gewicht, das gleichzeitig allen anderen Sinnen mehr Raum für Fantasie und Individualität, aber auch Tempo ermöglicht. Ich denke, dass dies ein Urbedürfnis der interessierten Gesellschaft bleiben wird.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Das ist eine riesige, für mich kaum beantwortbare Frage. Erstens masse ich mir eine solche Empfehlung nicht an und zweitens wäre eine Empfehlung von mir, entsprechend meinem Leseverhalten, eine episch lange Liste. Ich finde es wichtig, dass man heute unbedingt nicht nur in seiner eigenen Bubble lesend unterwegs sein sollte.  Ich finde es für mich wichtig und, ja, auch Augen öffnend, was auf «anderen» Kanälen und Medien geschrieben und eben gelesen wird. Ich bevorzuge es möglichst viele Argumente zu einem Thema oder Geschehen zu kennen. Ich möchte nicht eines Tages schockiert und Augen reibend aus (m-)einer geplatzten Bubble erwachen müssen.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ich lege sehr viele Bücher, die ich nicht fertig gelesen habe, zur Seite. Wenn ich mir die Zeit nehme, um ein Buch zu lesen, dann soll es mich auf den verschiedensten Ebenen faszinieren, inhaltlich, rhythmisch und auch meiner Stimmung entsprechend. Mein Büchergestell ist bestimmt zu 30 Prozent von nicht zu Ende gelesenen Büchern belegt  – und ich gebe es zu, es platzt aus allen Nähten… Ich gebe diese Bücher trotzdem nicht weg, denn einige haben von mir durchaus auch schon eine überraschend erfreuliche zweite Chance erhalten und wurden zu Ende gelesen.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Von Menschen die mich umgeben und mir von unbekannten Dingen erzählen oder dann tatsächlich auch immer wieder in den Sozialen Medien, im «Arte»-Dok-Archiv, in Podcasts oder klassischen Zeitungen. Diese sind in einem Leben allerdings nur am Samstag oder Sonntag in gedruckter Version zu Gast. Aber genau in diesen analogen Momenten erwecken unbekannte Themen bei mir sehr viel öfter neue Interessen, witzig, nicht?

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Das weiss ich nicht.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Ui, ein schwieriges Thema. Fake News können für die Medien, die sie verbreiten, eine riesige Gefahr sein – für die Medien, welche diese aufdecken und selbst keine verbreiten, eine riesige Chance. Dies aber auch nur in einer idealen Welt… Wenn Fake News nicht so eine grosse Gefahr für die Gesellschaft wären und sie nicht zur Manipulation grosser Menschenmassen gebraucht würden, würden sie mich ganz ehrlich gesagt langweilen. Wir können sie aber eben leider nicht ignorieren und können sie nur mit sauberer Recherche- und Informationsarbeit entlarven und dem entsprechend ohne anzuklagen informieren. Denn Anklagen gibt den Befürwortern der Fake News-Verbreitern nur recht und genau dies soll ja eben verhindert werden. Dies ist eine der grössten Herausforderungen der Medien auch in Zukunft – feinstofflich, ehrlich und fundiert informieren.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Ich persönlich bin tatsächlich immer wieder linear sowohl am Radio, wie auch vor dem Fernseher anzutreffen. Ich liebe es zum Beispiel, auch wenn ich es ja nicht müsste, auf dem Velo nach Hause zu strampeln, damit es mir auf die halb-acht Nachrichten am Abend reicht. Bisschen retro in einer Welt, in der eh alles «on demand» verfügbar ist, finde ich schön und zelebriere es auch immer wieder.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Ja, ich höre sehr viele und dem entsprechend auch unterschiedliche Podcasts. Deshalb habe ich auch keinen expliziten Lieblings-Podcast. Gewisse gehören aber schon auch zu meinen regelmässigeren Ohr-Versüssern, zum Bespiel Eric Facons «Kulturstammtisch» oder die «Lanz & Precht»-Podcasts. «Alles gesagt?» von «Zeit online». Immer wieder auch «Echo der Zeit», «Sternstunde Philosophie» oder den französischen Podcast von RTS «Le Point J».

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Ich kann die Bedeutung für die Medien und die Gesellschaft schlecht einschätzen. Allerdings erlebe ich bei sehr jungen Menschen, dass sie, obwohl sie so genannt News-depriviert sein sollen, ein riesiges Wissen und Interesse, auch ein sehr aktuelles. Erst kürzlich habe ich am Zukunftstag mit einer Gruppe junger Frauen (13- bis 15-jährig) einen Workshop zu politischem Radiojournalismus durchgeführt. Sie sprudelten nur so von Ideen und Themen rund um das aktuelle Welt- und Umweltgeschehen. Auf die Frage, wo sie denn genau ihre Informationen und ihr Wissen her nehmen, kam unisono die Antwort: von TikTok und ja, auch ein bisschen von ihren Eltern. Spannend, nicht?

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Ein Stück weit wahrscheinlich schon. Ich möchte mir allerdings nicht vorstellen, wer denn diese Roboter programmiert und Schwerpunkte bei Themenauswahl und Berichterstattung setzt. Ich bin schon heute allergisch auf offensichtlich automatisierten Journalismus und stelle fest, dass ich ihn weniger ernst nehme. Das wird wohl auch in Zukunft so bleiben.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Theoretisch ist die Digitalisierung eine Befreiung des Journalismus. Die Umstände und die Menschen, welche die Digitalisierung jedoch für eigene oder manipulative Zwecke missbrauchen, bergen Gefahren. Zum Tode der Medien wird sie jedoch so gut wie sicher nicht führen.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Natürlich! Medien- und ihre Journalist:innen sind ein wichtiger Pfeiler unserer Gesellschaft. Sie nicht mehr zu fördern und zu unterstützen, wäre grob fahrlässig.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ja, sehr viel sogar. Notizen, Interview-Vorbereitungen und Sitzungsprotokolle schreibe ich sehr häufig von Hand. Der Compi verunmöglicht mir nämlich häufig das Unmittelbare zu formulieren, irgendwie fühlt es sich manchmal an, als wäre mit dem Computer oder dem Tablet ein Medium zu viel am Start. Drum sehr häufig von Hand, retro oder nicht, ich liebe es.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Das «Phänomen» Trump hat nicht nur in den Medien die hässliche Seite der Menschheit auf die Frontpages gehievt. Mir fehlen immer wieder die Worte – unfassbar, traurig, surreal und gefährlich. Ich bin froh, dass ich selbst nie über Herrn Trump oder eine seiner Machenschaften berichten musste.

Wem glaubst Du?

In erster Linie den Menschen, die ich als ehrliche Personen kenne und schätze und natürlich meinen liebsten Menschen. Und zum Glück kann ich auch immer wieder auf meine Intuition, gebündelt mit meiner Lebenserfahrung vertrauen.

Dein letztes Wort?

Mag ich nicht so, es gäbe noch so viel zu sagen.


Katja Reichenstein
Katja Reichenstein arbeitete viele Jahre als Radio-Moderatorin und Redaktorin bei Radio Basilisk. Sie hostete während einigen Jahren ebenfalls eine eigene, wöchentliche 5-stündige LIVE-Radiosendung zu Kultur und deren Macher (livingroom.fm), welche direkt aus einem Basler Restaurant (Osteria Acqua) gesendet wurde. Während dreier Sommer war sie ausserdem Programm-Chefin des einzigen Schweizer Kulturradio-Festivals (livingroom.fm Stadtmusik Festival), welches live aus dem Innenhof des Kunstmuseum Basel sendete. Die mehrsprachige Sprecherin und Moderatorin ist heute Kommunikationsverantwortliche von einer der Zwischennutzungen am Basler Hafen und dort Programm-mit-Macherin im Kulturschiff «Gannet».
www.holzpark-klybeck.ch


Basel, 23. November 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Seit Ende 2018 sind über 200 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/

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4 Kommentare zu "Katja Reichenstein: «Ich bin allergisch auf automatisierten Journalismus»"

  1. Angesichts soviel Positivismus von Frau Reichenstein sei die Frage erlaubt, was da wahrhaftig und wirklich Spannendes und journalistisch Starkes alltäglich bei den Schweizer Medien A. präzis und B. wichtig Lesenswertes rauskommt? So hat beispielsweise ganz konkret A. heute Morgen die NZZ ausführlich und breit gebrieft, dass heute Mittwoch die Schweiz gegen Kamerun spielen wird. Und B. hat BAJOUR das Jahrhundert-Problem, welche Sprache auf dem Pausenplatz erlaubt sein soll, heute zur Frage des Tages gemacht. Wirklich Interessantes und Relevantes habe ich heute erst beim INFOSPERBER gelesen (der mich vor zwei Jahren wegen einer unanständigen Bemerkung zum Verhalten des Bundesrates im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie unwiderrufbar für Kommentare gesperrt, und jetzt diese Sperre offensichtlich infolge meiner langsam mehrheitsfähigen ehemaligen Sicht wieder aufgehoben hat).

    1. Antwort:
      Frau Reichenstein konsumiert die offiziellen Medien. Das ist ein Muss in Basel, wenn man „dazugehören“ will. Sie ist eine Vertreterin des „Alternativen“ (wie viele aus der Kunstecke) aber angepasster und mainstreamiger als mein Schosshündchen. Den Mut aufzubringen sich als „Infosperber“-Leser zu outen = grossartig! Denn Achtung: Im Basel-Übermenschen-Wichtig-Kuchen (dem ich fernbleibe, denn ich bin frei) ist man damit sofort ein oberschwurbelnder Oberschwurbler….

        1. In der Politik und bei der Verwaltung sowie bei der Wirtschaft könnte mit „offiziell“ eine Mehrheit von herzlosen Eisenbeton-, Hartholz- und Kaugummiköpfen gemeint sein. Und wo auch noch bei den Medien destruktiv oder dumme Intelligente die Mehrheit haben, kann es überall auf der Welt mit der Demokratie sowie sogar auch grundsätzlich extrem schwierig werden.

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