Jürg Krebs: «Es gibt genug Alternativen zu gedruckten Zeitungen»

Publiziert am 16. November 2022 von Matthias Zehnder

Das 203. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Jürg Krebs, Chef Online Mittelland und Zentralredaktion bei CH Media. Er sagt, für ihn als Journalisten könne es egal sein, wie lange es noch gedruckte Tageszeitungen gebe. «Im Vordergrund sollte engagierter Journalismus stehen.» Journalismus sei immer auch Ausdruck der Gesellschaft, in der er stattfindet. Jede Gesellschaft habe «jenen Journalismus, den sie verdient. Aber in jeder Zeit garantieren die Medienschaffenden wohl den bestmöglichen Journalismus, weil sie es darauf anlegen.» Das Überleben des Journalismus sieht Krebs an die Digitalisierung gekoppelt. «Ich sehe die Entwicklung positiv: Die Digitalisierung hat dem Journalismus neue Möglichkeiten geschenkt.» Texte seien weiterhin wichtig, aber «warum einen Pulitzerpreis-verdächtigen Artikel schreiben, wenn ein 30-Sekunden-Video das Thema besser auf den Punkt bringt? Journalismus ist kein Selbstzweck.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Ich starte jeden Tag mit den Geschichten über meinen Fussballclub – dafür tauche ich als erstes in die App der «Süddeutschen Zeitung» ein. Ist der erste Espresso genossen, widme ich mich beim zweiten Espresso dem Tagesgeschehen. Folgende Medien geben mir den Überblick: «AargauerZeitung», «Der Spiegel», SRF, «Tages-Anzeiger», «Blick», «20min», CNN. Ich nutze Medien nur digital.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Ich nutze sie alle: Von LinkedIn bis TikTok. Aber die Auseinandersetzung mit Sozialen Medien ist fast ausschliesslich auf meine Arbeit beschränkt. Mein Privatleben findet in den Sozialen Medien nicht statt.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Meinen medialen Alltag hat die Pandemie durchaus verändert. Online-Sitzungen sind wie überall die Norm geworden, Home-Office Normalität. Und das Bewusstsein für die digitalen Kanäle ist in der Gesamtredaktion nochmals gestiegen. Mein Eindruck: Die Pandemie hat Medien einen wohltuenden Digitalisierungsschub versetzt. Aber: Die Pandemie geht bald ins vierte Jahr – auf Dauer lassen sich zwischenmenschliche (Arbeits-) Beziehungen nicht über Teams oder Zoom aufrechterhalten. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit zu viel Home-Office verlieren auf Strecke die Identifikation mit ihrem Team und mit ihrem Arbeitgeber.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Ich halte es mit dem Kabarettisten Jochen Malmsheimer: «Früher war nicht alles besser, aber vieles war gut.» Ich messe der Qualitätsdiskussion, die Medien begleitet, seit es sie gibt, auch nicht zu viel Bedeutung zu. Zu oft driftet sie in verkopfte Gefilde ab, zu oft entfernt sie sich von der Realität und den Bedürfnissen unserer Medien-Nutzerinnen und -Nutzer. Journalismus ist immer auch Ausdruck der Gesellschaft, in der er stattfindet. Und so hat jede Gesellschaft jenen Journalismus, den sie verdient. Aber in jeder Zeit garantieren die Medienschaffenden wohl den bestmöglichen Journalismus, weil sie es darauf anlegen.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Ja. Doch Schrift, Audio und Video haben ihre ureigenen Vorteile und Nachteile bei der Übermittlung von Sachverhalten und Emotionen. Diese gilt es im Medienalltag bewusst zu nutzen. Warum einen Pulitzerpreis-verdächtigen Artikel schreiben, wenn ein 30-Sekunden-Video das Thema besser auf den Punkt bringt? Journalismus ist kein Selbstzweck.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Bücher. Die schnelle Onlinenutzung beeinträchtigt unsere Konzentrationsfähigkeit negativ, mit dem gemütlichen Lesen von Büchern kann man dem entgegenwirken.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ich tendiere dazu, Bücher immer zu Ende zu lesen. Bei einem Buch, das von mir als schlecht und langweilig ausgemacht wird, gibt es zwei Varianten. Belletristik wird weggelegt, Sachbücher werden quergelesen.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Dafür gibt es keinen Ort. Ich bin neugierig und kann mich für sehr vieles interessieren. Dabei hilft mir meist der Zufall; nicht zuletzt während Gesprächen.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Als Journalist kann mir das egal sein. Im Vordergrund sollte engagierter Journalismus stehen. Es gibt genug – und meiner Meinung nach interessantere – Alternativen zu gedruckten Zeitungen. Als Arbeitnehmer sieht die Situation anders aus, weil gedruckte Zeitungen noch immer mehr Geld in die Unternehmenskasse spülen als die digitalen Kanäle. Solange dies so ist, wird es sie noch geben. Vielleicht als Nischenprodukte auch darüber hinaus. Print oder Digital – das wird auf Redaktionen noch immer zu häufig als Kulturkampf verstanden.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Weder noch. Medien müssen seit jeher mit Fake News umgehen können. Natürlich spielt die Digitalisierung den Fake News bei der Verbreitung in die Hände.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Radio und Fernsehen gibt’s bei mir nur noch dank Replay-Funktion. Ausser beim Sport. Ich verfolge jedes Spiel meines Fussballvereins live auf der Klub-App – das fühlt sich an wie die Radio-Sportberichterstattung in den 1950ern. Man muss es mögen. Youtube und Netflix haben das Fernsehen grösstenteils abgelöst.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Ich höre Podcasts aus vielen Sparten. Eine Mini-Auswahl: Mein Arbeitstag endet mit dem «Echo der Zeit»; während des Joggens läuft oft das «SRF-Tagesgespräch» oder ein Sportblog wie «Reif ist live». Und: Politisches Kabarett oder Comedy dürfen ebenfalls nicht fehlen – sie bringen wieder Ordnung in einen von Informationen überlasteten Kopf.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Ich vermute: wenig. War das je anders? Meine Erfahrung: Auch News-Deprivierte sind oft erstaunlich gut informiert. Ich vermute deshalb: Die Frage ist nicht, ob diese Altersgruppe News konsumiert, sondern auf welchen Kanälen und in welcher Aufmachung – und welche Themen sie interessiert.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Ja. Respektive teilweise. Im Newsbereich können Roboter den Redaktionen grosse Dienste leisten und Kapazitäten für Journalistinnen und Journalisten freischaufeln. Die Medienschaffenden konzentrieren sich auf Recherche, Hintergrund und Analyse, während die Roboter automatisiert Texte kreieren, bei denen Inhalt vor Schreibe steht. Abstimmungsresultate, Polizeimeldungen, Sportresultate und so weiter, benötigen keine preisverdächtigen Texte. Im Moment sehe ich nicht, dass Roboter einen Sachverhalt kommentieren werden.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Das Überleben des Journalismus ist an die Digitalisierung gekoppelt, das ist bei jeder Branche der Fall. Ich sehe die Entwicklung positiv: Die Digitalisierung hat dem Journalismus neue Möglichkeiten geschenkt, beispielsweise im Bereich Storytelling und im Bereich Data. Dank der Digitalisierung können die Stärken von Text, Audio und Video zu einem faszinierenden Produkt vereint werden.

Ob es Journalismus braucht, das ist nicht so sehr eine Frage der technischen Möglichkeiten, sprich der Digitalisierung, sondern des Nutzungsverhaltens. Es liegt also im ureigenen Interesse von uns Journalistinnen und Journalisten, jeden Tag zu beweisen, dass es Journalismus braucht.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Nö.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ja – aber seltener als früher. Meist reduziert auf persönliche Glückwünsche und To-do-Listen. Mein Büro ist papierlos.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Donald Trump ist vielleicht die Person, die in ihrer ganzen Anmassung, Masslosigkeit und Egozentrik unseren Zeitgeist am schonungslosesten spiegelt. Trump hat den Journalismus herausgefordert wie schon lange keine Person der Zeitgeschichte mehr. Unabhängige Journalistinnen und Journalisten tun das einzig Richtige: Sie halten seinen Lügen Fakten entgegen. Doch reicht das? Der Journalismus alleine kann die Demokratie nicht retten. Wenn eine Gesellschaft damit beginnt, der Demokratie gleichgültig zu begegnen, ist sie Typen wie Trump hilflos ausgeliefert. Am Ende ist sie verloren – mit und ohne Trump.

Wem glaubst Du?

Meiner Partnerin und unseren Kindern.

Dein letztes Wort?

Danke.


Jürg Krebs
Jürg Krebs (*1971, Zürich) ist Historiker. Seit 1995 ist er mit dem Journalismus-Virus infiziert und seit 1998 im Familie-Wanner-Universum tätig, das heute CH Media heisst. Unter anderem als Chefredaktor «Limmattaler Zeitung», im Blattmacherteam der Zentralredaktion. Aktuell bei CH Media Chef Online Mittelland und Zentralredaktion und Stv. Chefredaktor.
https://www.aargauerzeitung.ch/


Basel, 16. November 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Seit Ende 2018 sind über 200 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/

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Ein Kommentar zu "Jürg Krebs: «Es gibt genug Alternativen zu gedruckten Zeitungen»"

  1. Kann Wahrheit unsere Welt retten?
    Immer noch schneller und immer noch mehr. Ob lautlos und unsichtbar im Untergrund, oder mit höllischem Getöse lichterloh: unsere Welt scheint zu brennen. Mit beispielsweise Dummheit oder Gemeinheit sowie mit Herrschsucht und Gier als Brandbeschleuniger. Ob wir wohl gemeinsam etwas dafür tun können und wollen, um unsere Welt zu retten: mit kreativer Intelligenz, mit Langsamkeit, mit Schönheit und mit Wahrheit?

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