Jolanda Spiess-Hegglin: «Ich bin erstaunt, dass es noch gedruckte Tageszeitungen gibt»

Publiziert am 8. September 2021 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Netzaktivistin Jolanda Spiess-Hegglin. Sie sagt, sie habe seit sieben Jahren keine Zeitung mehr gelesen. «Manchmal versuch ich’s in einer Arztpraxis, wenn eine irgendwo rumliegt. Ich muss sie sofort wieder weglegen.» Sie habe seit «dieser üblen Kampagne» schlimme Assoziationen mit gedrucktem Zeitungspapier. Insgesamt findet sie, die Medien seien besser geworden: «Dass ich ellenlange und gut recherchierte Artikel finde, welche mich auch noch interessieren, das gab’s früher nicht.» Sie findet, Fake News wären eine Chance für die klassischen Medien. «Solange aber Medienhäuser mit gewaltiger Macht und Reichweite ungenau arbeiten oder sich einspannen lassen, ist es eben gefährlich. Und wenn sich ein Thema dann noch gut klickt, arbeitet man nächstes Mal auch nicht sorgfältiger.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

In meinem Alltag bin ich ständig unter Strom. Deshalb bin ich absolut glücklich, dass wir familienintern eine Abmachung haben: am Tisch wird nicht gelesen und nicht getippt – sondern erzählt, zugehört und gelacht. Ganz wichtig!

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Ja. Ausser während den Mahlzeiten.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Im vergangenen Jahr habe ich wieder mehr Nachrichten konsumiert – wegen Corona. Mich haben die Entwicklungen sehr interessiert. Gleichzeitig machte mir die gehässige Stimmung Sorgen. Dieser Umstand bescherte mir enorm viel Arbeit als Geschäftsleiterin des Vereins #NetzCourage. Zeitweise drehte das Internet durch, das haben wir mit voller Wucht zu spüren bekommen. Ich habe noch nie im Leben so viel gearbeitet wie im vergangenen Jahr. Ich denke aber gerade auch an den ersten Lockdown zurück. Da habe ich – anstatt irgendwo Vorträge zu halten – halt einfach ein Konzept für ein Bildungsprojekt geschrieben. Ein gutes Jahr später ist #NetzBildung nun umgesetzt. Und glaub’s echt gut geworden.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Natürlich war alles schlechter. Dies zeigt sich aus meiner Sicht aber erst seit Kurzem. Dass ich ellenlange und gut recherchierte Artikel finde, welche mich auch noch interessieren, das gab’s früher nicht. Diese lesenswerten Artikel finde ich meist bei der «Republik», «Bajour» oder in der «WOZ». Man spürt einfach den Wandel. Dazu ist es nun höchste Zeit.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Ewig. Ich lasse mir zwar auch gerne was vorlesen. Aber geschriebene Worte wird es immer geben. Wenn ich Zeit habe, schreibe ich gerne Dinge von Hand. Ich verziere jeden Eintrag in meiner Papieragenda. Es ist halt einfach enorm unpraktisch.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Alle Urteile meiner Medienrechtsfälle gegen «Blick», «Tagesanzeiger» und «Weltwoche» (alle gewonnen, by the way)* und das Buch von Rebecca Solnit: «Wenn Männer mir die Welt erklären».

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ich lege schlechte Bücher nach einem Abschnitt weg. Oder ich schlafe nach einer Seite ein, entweder oder.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Auf Twitter! Die Frage, ob es ein Menschenrecht auf «Aromat» gibt, hat auch mich beschäftigt.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Ich bin erstaunt, dass es sie noch gibt. Ich habe seit sieben Jahren keine Zeitung mehr gelesen. Manchmal versuch ich’s in einer Arztpraxis, wenn eine irgendwo rumliegt. Ich muss sie sofort wieder weglegen. Ich habe recht schlimme Assoziationen mit gedrucktem Zeitungspapier. Der Geruch und das Geräusch des Blätterns. Mich widert das an seit dieser üblen Kampagne damals und ich glaub, ich bring das nicht mehr weg.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Sie wären eine Chance. Solange aber Medienhäuser mit gewaltiger Macht und Reichweite ungenau arbeiten oder sich einspannen lassen, ist es eben gefährlich. Und wenn sich ein Thema dann noch gut klickt, arbeitet man nächstes Mal auch nicht sorgfältiger.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Live höre ich nur den «Rock Special» auf SRF 3, aber ich glaube nur, weil es zeitlich meist passt. TV schaue ich glaub’s nie live. Ein Fussballspiel alle vier Jahre vielleicht.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Wenn mir ein Podcast empfohlen wird, dann hör ich den gern, beispielsweise #diePodcastin oder jener von Kafi Freitag und Sara Satir. Ich gebe aber zu, wenn ich mal länger Zeit habe, um aufmerksam zuzuhören, beim Autofahren beispielsweise, dann hör ich fast lieber Musik an der Schallgrenze.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Dass ganz viel schief gelaufen ist die letzten Jahre. Ich hab da eine Vermutung.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Guter Journalismus lässt sich doch nicht automatisieren. Journalismus lebt von Wissensdurst, den Menschen, welche ihn produzieren und deren Haltung. Für den «Tagesanzeiger» und «20 Minuten» könnte eine Automatisierung aber tatsächlich der bessere Weg sein.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Die Digitalisierung ist ja lediglich eine andere, riesengrosse Ebene. Der Umgang mit allem ist mit der Digitalisierung ein anderer. Wer dies nicht erkennt, wird sein Medium vielleicht begraben können. Wer’s versteht, kann sein Produkt aus den Zwängen befreien und zum Fliegen bringen.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Ja sicher, aber nicht mit den aktuellen Strukturen. Meinungsmacht hat doch keine Zukunft mehr. Die Menschen sollen im Zentrum stehen.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ja! Wenn ich’s eilig habe, kann man meine Schrift aber nicht lesen, selbst ich nicht. Aber ich habe (neben meiner digitalen) noch immer eine Papieragenda. Ich könnte stundenlang kritzeln.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Wer ist Donald Trump?

Wem glaubst Du?

Meinem Bauchgefühl. Erstaunlich, wie das immer funktioniert.

Dein letztes Wort?

#Gutgewinnt


Jolanda Spiess-Hegglin
Jolanda Spiess-Hegglin (*1980) ist Feministin, Netzaktivistin sowie Gründerin und Geschäftsführerin von #NetzCourage und von Winkelried & Töchter GmbH. Sie arbeitete von 2003 bis 2009 beim Zentralschweizer Privatfernsehsender TeleTell als Videojournalistin und Produzentin. Von 2009 bis 2010 war sie Reporterin, Nachrichtensprecherin und Kantonsratskorrespondentin bei Radio Sunshine. Bis im Dezember 2014 war Jolanda Spiess-Hegglin Kantonsrätin in Zug für die Alternative – die Grünen. Spiess-Hegglin ist verheiratet und Mutter von drei Kindern. Bekannt wurde sie durch den bis heute ungeklärten Vorfall nach der Zuger Landammannfeier 2014. Seither ist sie als Aktivistin insbesondere für Frauenrechte und gegen Hassreden im World Wide Web aktiv. 2021 wurde sie für ihr Engagement mit dem «Fembiz-Swiss-Award» in der Kategorie «Innovation» ausgezeichnet.
https://www.netzcourage.ch/


Basel, 8. September 2021, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

PS: Nicht vergessen – Wochenkommentar abonnieren. Kostet nichts, bringt jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen Kommentar, den aktuellen «Medienmenschen» einen Sachbuchtipp und einen Video-Buchtipp auf einen Roman:
www.matthiaszehnder.ch/abo/

Bild: Gian Marco Castelberg

* Das Fragebogeninterview wurde vor Bekanntgabe des Urteils des Zuger Obergerichts aufgezeichnet. Das Gericht hat die Berufung von Tamedia respektive von Journalistin Michèle Binswanger gegen das vorsorgliche Verbot der Publikation eines Buchs zur Zuger Landammannfeier 2014 gutgeheissen. Berichterstattung dazu siehe etwa hier bei SRF: «Urteil im Bücherstreit: Buch über Spiess-Hegglin darf nun doch veröffentlicht werden»; hier in der «NZZ»: «Niederlage für Spiess-Hegglin: Buch über die Zuger Landammannfeier soll erscheinen dürfen» und hier bei CH Media: «Kehrtwende im Streit um geplantes Buch über Jolanda Spiess-Hegglin: Gericht hebt Verbot auf» Jolanda Spiess-Hegglin will das Urteil weiterziehen.

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