Joël Widmer: «Bitte nur Medien, die das journalistische Handwerk hochhalten»

Publiziert am 5. Januar 2022 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Joël Widmer, Mit-Gründer der «Hauptstadt», dem neuen Online-Portal von und für Bern. Er sieht ein Problem im «Klick-Journalismus». Der Druck, aus jedem (Nicht-) Ereignis «schnell und somit meist schludrig eine Schlagzeile zu produzieren», sei fatal. Die eine Deadline pro Tag bei Zeitungen war «ein strukturierendes Element, das ein wenig Raum für Recherche, Nachdenken und Diskutieren gab». Als «verstörend und beängstigend» bezeichnet er die Entwicklung in den USA rund um Fox-News. «Doch es ist beruhigend zu sehen, dass das Bedürfnis nach unabhängigen, einordnenden Medien gross ist.» Hilfreich wäre in der Schweiz laut Widmer die Medienförderung. «Wenn diese an der Urne abgelehnt wird, bleiben lokalen Online-Medien gegenüber den Print-Verlagen – die weiterhin Subventionen erhalten – benachteiligt.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Eine Berner Tamedia-Zeitung, meist «Der Bund». Seit einigen Monaten auch wieder in Papierform. Die Kinder interessieren sich so – im Vergleich zur E-Paper-Lektüre auf dem Tablet – viel häufiger dafür, was ich lese. Und das ist schön.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram? 

Auf Twitter bin ich täglich mehrmals – wohl etwas zu viel. Der oft hässige Ton in den Debatten nervt zwar etwas, aber ich erhalte auf effiziente Weise auch viele Hinweise zu interessanten Artikeln und aktuellen Themen. Vor allem auch aus anderen Ländern, für die ich mich interessiere, wie etwa Österreich, Deutschland oder Holland. Auch Wissenschafter, die auf Twitter kommunizieren, sind eine interessante Quelle für Fakten und Einschätzungen. Instagram nutze ich quasi nur «privat» für Fotos von Velotouren und ähnlichem und verfolge, was Freunde so in der Freizeit machen. Facebook öffne ich noch alle paar Monate.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Im März 2020 las ich die Zeitungen oder E-Papers morgens zu Hause, statt im Zug auf dem Weg ins Zofinger Büro. Sonst hat sich mein medialer Alltag glaub nicht gross verändert. 

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter? 

Weder noch. Ende der 90er – im Gymnasium und Anfang Studium – verschlang ich den «Tagi» und vor allem «Das Magazin» und hielt das für die Krönung des Journalismus. Und das waren – von den finanziellen Mitteln her – sicher goldene Zeiten. Es gibt (oder gab) aber heute genauso gute Journalist:innen und Produkte. So etwa die «Republik» oder die «NZZ am Sonntag» unter Chefredaktor Luzi Bernet. Ein Problem ist derzeit sicher der Klick-Journalismus. Der Druck, aus jedem Ereignis (oder zum Teil auch Nicht-Ereignis) schnell und somit meist schludrig eine Schlagzeile zu produzieren. Da war (und ist) – zumindest für Zeitungen – eine Deadline pro Tag (oder Woche) ein strukturierendes Element, das ein wenig Raum für Recherche, Nachdenken und Diskutieren gab.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Ja. Warum nicht?

Was soll man heute unbedingt lesen?

Verschiedene Medien mit verschiedenen politischen Grundhaltungen, von der «WoZ» bis zur «NZZ». Aber bitte nur Medien, die das journalistische Handwerk hochhalten. Dazu gehört zum Beispiel die «Weltwoche» leider nicht mehr, die immer mehr fabuliert, statt recherchiert. Und lesen Sie ab und zu ein Buch: Zum Beispiel «Im Grunde gut» von Rutger Bregman. Das hilft vielleicht auch gegen den Pessimismus in der Branche. 

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ich spüre einen Druck, sie zu Ende zu lesen. Schaffe es aber immer häufiger, sie halbfertig liegen zu lassen und ein neues zu beginnen. 

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Ach, wenn ich das so genau wüsste. Wohl auf Twitter, in Zeitungen. Und schlicht durch Erfahrungen im täglichen Leben.  

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Ich weiss es nicht. Sie werden vermutlich – trotz Beliebtheit bei den Leser:innen – aus Kostengründen in den grossen rendite-gesteuerten Verlagen in den nächsten 20 Jahren verschwinden. Und dann vielleicht als Nischenprodukte wieder auferstehen?

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Wohl beides. Die Entwicklung in den USA mit Fox-News und Co. ist schon sehr verstörend und beängstigend. Doch es ist beruhigend zu sehen, dass das Bedürfnis nach unabhängigen, einordnenden Medien gross ist. Das zeigte auch unser Crowdfunding für die «Hauptstadt».

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen? 

TV schaue ich – ausser bei Fussball-Länderspielen – nicht mehr linear. Auch Radio-News höre ich – wenn überhaupt – on demand. Ab und zu läuft noch als Hintergrund-Sound der Sender FM4 aus Wien. 

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Ich höre nicht oft Podcasts. Meist höre ich Musik und lese dazu.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Ich habe mich mit diesem Begriff und der Erhebung bisher nicht befasst. Generell müssen wir Journalist:innen immer wieder überlegen und ausprobieren, wie und auf welchen Kanälen wir mit Informationen und Einordnungen zu den Menschen gelangen. 

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Reine News- oder vor allem Resultate-Meldungen lassen sich vielleicht zu einem Teil automatisieren. Wenn das gelingt, ist das auch in Ordnung. Aber jener Journalismus, für den die Menschen breit sind etwas zu zahlen, wird wohl auch künftig durch Menschen und mit Denkarbeit erstellt. 

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Weder noch. Der Journalismus musste und muss immer wieder für sich und seinen Wert einstehen. Sei es wegen politischen Angriffen, wirtschaftlichen Problemen oder eben dem digitalen Wandel.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Ja, klar. Mit dem «Hauptstadt»-Crowdfunding haben wir in Bern grad eine Basis für eine professionelle leser:innen-finanzierte Zukunft gelegt. Ich freue mich nach all dem Marketing, den Budgetplanungen und Finanzplan-Arbeiten nun sehr auf die journalistische Arbeit für die «Hauptstadt». Um selbsttragend zu sein, braucht es nun guten Journalismus und noch mehr Abonnent:innen. Hilfreich wäre zudem gerade im Lokalen die Medienförderung. Wenn diese an der Urne abgelehnt wird, bleiben lokalen Online-Medien gegenüber den Print-Verlagen – die weiterhin Subventionen erhalten – benachteiligt.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Immer seltener. 

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Für unabhängige leser:innen-finanzierte Medien, wie die «Republik» oder die «Hauptstadt» waren die vier Trump-Jahre wohl hilfreich, weil sie die Debatte um Fake-News und den Wert von unabhängigen Medien beschleunigt haben.

Wem glaubst Du?

Fakten. 

Dein letztes Wort?

Journalist ist ein wunderbarer Beruf. 


Joël Widmer
Joël Widmer ist Mit-Gründer der «Hauptstadt», dem neuen Online-Portal von und für Bern. Für die – zuerst ehrenamtliche – Arbeit für die «Hauptstadt» hat er die Stelle als Pressesprecher bei Greenpeace in der Probezeit gekündigt. Davor war er stv. Chefredaktor beim Zofinger Tagblatt, Co-Politik-Chef der «Blick»-Gruppe und unter anderem Bundeshausjournalist für «SonntagsZeitung» und «Sonntagblick». Studiert hat Widmer Geschichte, Politik- und Medienwissenschaft an der Universität Bern.
https://www.hauptstadt.be/ 


Basel, 5. Januar 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch Bild: Manuel Lopez

Eine alphabetisch geordnete Übersicht über alle Fragebogeninterviews gibt es hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/ 

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3 Kommentare zu "Joël Widmer: «Bitte nur Medien, die das journalistische Handwerk hochhalten»"

  1. Auch ich habe «Im Grunde gut» von Rutger Bregman gelesen. Dieses Buch kann nicht nur „vielleicht gegen den Pessimismus“ helfen: es verpflichtet auch dafür, es nicht weiter gleich wie in der Alten Welt zu tun … zu der leider auch weiterhin die Struktur dieses Fragebogens zu passen scheint (werde deshalb kein Interview mehr lesen).

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